Wolfswind
Sie stürzte, stürzte, stürzte in einem schwarzen Nichts. Dass sie sich rasend schnell nach unten bewegte, verriet ihr bloß ein Ziehen im Leib, das sie an mutiges Schaukeln oder an Sturzfahrten auf Achterbahnen erinnerte, jetzt aber viel stärker in ihrem Inneren zog als jemals zuvor. Ihre Augen, ihre Ohren verrieten ihr nichts außer lautloser, zeichenloser Finsternis; ihre Haut fing auch nicht den kleinsten Luftzug ein, der auf eine Bewegung hingewiesen hätte. Doch sie stürzte, selbst wenn ihre Sinne ihr weiszumachen versuchten, sie befände sich unbeweglich in der Mitte einer finsteren Unendlichkeit oder an ihrem Rande, was bei einer Unendlichkeit dasselbe war. Sie fühlte sich wie in den Alpträumen, die sie als Kind verfolgt hatten, in denen sie plötzlich, aus einem nichtigen Anlass heraus - zum Beispiel wenn sie die Milchstraße betrachtete -, von einer Kraft gepackt und in einen immer rasenderen Wirbel gerissen wurde, bis sie entsetzt aufwachte und Angst hatte, wieder einzuschlafen.
Vor ihren Augen erschien ein heller Punkt, farblos, wie ein Stern, in greifbarer Nähe. Sie wagte es nicht, ihn zu berühren, hielt sich aber mit ihren Augen an diesem formlosen Einstich in der Finsternis fest. Der Punkt begann sich zu längen, spannte eine Linie unter ihren Füßen auf. „Du kannst darauf gehen“, dachte sie, „wie eine Seiltänzerin“; doch sie wusste genau, dass sie alles andere als eine Seiltänzerin war. Eine Linie gab ihren Füßen keinen Halt, sie war zu schmal. Eine Dimension allein genügte ihr nicht. So war sie erleichtert, als unter ihren Füßen eine Zacke aus der Linie ausscherte, Fläche nach sich zog, ein helles, farbloses Dreieck bildete. Das Dreieck hatte etwas Beruhigendes an sich. Auf einem Dreieck konnte sie sicher stehen, ihr gesamtes Gewicht der tragenden Fläche, der Tragfläche zwischen den einander spitz abgewandten Ecken anvertrauen.
Doch das Gebilde entwickelte sich weiter, wandelte sich in ein Viereck, in ein Sechseck. Ecke um Ecke spross hervor, und dann begann das Vieleck sich aufzuwölben, und seine Ecken strebten aus der kugeligen Mitte nach außen, spitzen Stacheln gleich. Der kleine, punktförmige Stern, der so sanft erscheinende Begleiter ihres Fallens, war zu einem Morgenstern geworden, einer Tod in sich bergenden Waffe.
Von Panik erfasst, versuchte sie zu fliehen und begann deshalb, Arme und Beine zu bewegen. Überrascht bemerkte sie, dass sie sich auf einmal auf festem Boden befand, hart wie Felsengestein, tiefschwarz und im fahlen Licht des sie verfolgenden Morgensterns leicht aufglänzend. Wie düstere, kalte Kohle sah der Boden aus, über den sie, so schnell sie nur konnte, davonrannte, und dieser Eindruck verstärkte sich, als sich von oben und von den Seiten gleichartige Wände auf sie zuschoben und ihren Fluchtweg zu einem immer engeren Stollen verkleinerten.
Jäh wurde ihre Flucht auf Händen und Knien in diesem erdrückend eng gewordenen Stollen durch eine Querwand gestoppt. Zunächst ahnungslos, dann mit einer immer beklemmenderen Ahnung hatte sie sich also in eine Sackgasse verrannt, aus der es kein Zurück mehr gab, weil aus der einzig übrig gebliebenen Richtung der Morgenstern anrückte. Verzweifelt warf sie sich mit letzter Kraft gegen die Wand, um sie vielleicht doch noch zum Nachgeben zu erweichen, und schlug schließlich, so heftig sie konnte, immer wieder ihren Kopf gegen das Gestein. Das letzte, was sie spürte, war ein reißender, sie aufbrechender Schmerz in ihrer Brust.
Irgendwann kam sie wieder zu sich, verwundert, nach dem heftigen Angriff noch am Leben zu sein. Von der Herzgegend durchstrahlte Schmerz ihren ganzen Körper; der Schmerz war stark, aber erträglich. Sie führte ihre Hand auf die Brust zu, um nach Verletzungen zu tasten, um vielleicht herauszufinden, was geschehen war - ihr ganzer Oberkörper war eine klaffende Wunde mit dicken Krusten an ihrem kreisförmigen Rand. Der Morgenstern war verschwunden, aber der Stollen war immer noch von einem leichten Glimmen erfüllt.
Erst nach einer Weile erkannte sie, dass dieses Licht von einem Augenpaar ausging. Sie war also nicht allein. Ihr gegenüber hockte ein riesiger, pechschwarzer Wolf, so groß wie sie selbst, der sie unverwandt anstarrte. Er zitterte und wirkte verängstigt; seine Zotteln waren mit einer Flüssigkeit durchtränkt, von der sie nicht wusste, ob es Wasser oder Blut war. Er sah aus, als ob er soeben geboren oder aus dem Ei geschlüpft wäre. Trotzdem erkannte sie ihn durch die Hilflosigkeit des Neugeborenen hindurch, erkannte in ihm Wolfswind, der mit der Erde Fußball spielen konnte. Obwohl sie ihm nie zuvor begegnet war, war sie der einzige Mensch, der Wolfswind kannte. Leidenschaftlich umarmte sie das Tier.
Wie sie an den ins Freie führenden kreisförmigen Ausgang, an das Lichttor gelangt war, wusste sie nicht. Vielleicht war Wolfswind mit ihr hierher geflogen, vielleicht hatte der ganze Kohlenberg in Flammen gestanden. Nun überschritt langsam zunächst ihr einer, dann ihr anderer Fuß die harte Linie am Rande des Schattens, die die dunkle an die helle Welt band. Im ungewohnten Licht sah diese Welt weiß aus; erst allmählich lösten sich daraus Formen und Farben. Sie setzte unter ihrer Wunde einen Fuß vor den anderen, langsam, um nicht zu straucheln, und diese Bedächtigkeit verlieh ihr eine gewisse Würde.
Dort stand der Mann, unbeweglich, und rückte doch durch ihre eigenen Schritte immer näher. Als er ihre Wunde erblickte, schrie er auf, bedeckte seine Augen, griff sich ans Herz, als suchte er dort nach einer Arznei, die er in ihre offene Brust träufeln könnte. „Rühr mich nicht an!“ schrie sie ihm entgegen. „Dies ist meine Wunde, die gehört nur mir! Lass sie in Ruhe!“
Erst jetzt erkannte sie, dass sie den Mann durch eine Glasscheibe hindurch wahrnahm, die sich vom Boden in eine nicht enden wollende Weite erstreckte. Sie klopfte mit ihrem Zeigefingerknöchel gegen die Scheibe, tippte sie mit dem Fuß an, drückte Handflächen und Nase daran, schlug schließlich mit ihrer Faust dagegen. Nicht einmal ein Zittern durchlief die Glasscheibe. Sie blieb eine unbewegliche, unsichtbare Grenzfläche, die die helle, kahle Welt in zwei Hälften teilte, ausgerechnet zwischen ihr und dem Mann.
Auf ihrer Seite des kahlen, weißen Himmels tauchte in der Ferne ein schwarzer Punkt auf. Rasch schwoll er an, gewann an Ausdehnung in einer unregelmäßigen Form, in der sie bald die Umrisse eines Wolfes erkannte. Die letzten Augenblicke seines Sturzfluges, in denen er vollends Gestalt erhielt, gingen unter in dem Moment des Aufpralls, als sich Wolfswind auf ihrer Schulter niederließ wie ein anhänglicher Vogel. Diese Wucht riss sie um, unter dem schweren, schwarzen Tier stürzte sie zu Boden, gegen die Scheibe, die von Horizont zu Horizont zerbarst.
Überall breiteten sich Netze von Sprüngen aus, rieselten, bröckelten, stürzten die Splitter. Inmitten der fallenden Glasmassen erhob sich die Frau, schritt auf den zurückgewichenen Mann zu, zertrat mit ihren Füßen das Meer von Splittern ungeachtet der schneidenden Ecken, ungeachtet des Blutes, das langsam und ruhig aus ihren Sohlen strömte.
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