Liebes meinTagebuch,
es ist erstaunlich, daß Dich seit Deiner Erschaffung am 13.06. dieses Jahres noch niemand berührt oder geschändet hat. Damit hatte ich - um ehrlich zu sein - nicht gerechnet. Aber es ist um so besser. Aus diesem Grund, und nur aus diesem, schreibe ich Dir heute ein zweites Mal, ein gutes Quartal später.
Im Dienste der Wissenschaft sitze ich gerade in einem abgelegenen Hotel in Potsdam. Ein kleines aber angenehmes Zimmer mit Balkon und Kabel-Internet. Den ganzen Tag in Anzug und Krawatte umhergeeilt, um mit irgendwelchen bekannten und unbekannten Menschen zu debattieren. Morgen noch einmal das Gleiche. Man hat mir sogar ein Namensschild gedruckt, das ich mir ans Revers heften kann. Das Debattieren fällt eher in die Kategorie »Sicheres Auftreten bei totaler Ahnungslosigkeit«. Der Professor ist jetzt auch eingetroffen. Morgen wird er sicherlich den professionelleren Teil der Gespräche führen können, und ich werde mich etwas im Hintergrund halten. Eigentlich bin ich ja gar nichts in dieser Welt. Die meisten tragen hier mindestens einen Doktortitel an der Brust und sehen gestreßt bis zerstreut aus. Trotzdem kochen sie auch nur mit Wasser. Sie sind eben nur Experten auf ihrem Gebiet.
Wie auch immer: So eine Dienstreise ist eine angenehme Abwechslung. Derartiges gibt es in Zukunft hoffentlich häufiger. Gesetzt, mir wird eine Mitarbeit - in welcher Form auch immer - ermöglicht. Sicherlich könnte die stressig sein. Forschung und Lehre. Das heißt auch, vor einer Studentenmeute zu stehen und denen irgend etwas zu erzählen. Eine gruselige Vorstellung. Aber was soll's. Daß die neben dem üblichen neuen Testament auch ein Buch mit dem Titel »The Teaching of Buddha« in die Nachttischschublade gelegt haben, finde ich innovativ. Oder ist das jetzt Vorschrift? Relgionsfreiheit? Dann müßte aber auch der Koran hier liegen... - Und ich könnte mich eigentlich diskriminiert fühlen. Weil ich ja Atheist bin und keine atheistische Lektüre vorfinde. Aber lassen wir das. Eine Kleinstflasche Italienischer Rotwein steht auf dem Bord: Viala Secco Rosso. Der Kenner würde sich sicherlich kopfschüttelnd abwenden. Schraubverschluß. Ich weiß nicht, ob es kostenpflichtig ist, etwas davon zu trinken - also lasse ich's lieber.
Flachbildfernsehen ist auch da. Kein Bedarf. Ich will schlafen, und es ist noch nicht einmal 10.
Die Jüngeren sind etwa in meinem Alter und kommen mir ziemlich arrogant vor. Die unterhalten sich alle über ihre wissenschaftlichen Bilderbuchkarrieren - darauf habe ich keine Lust. Mit Bilderbüchern hatte ich es noch nie. Überhaupt bin ich hier wahrscheinlich ein ziemlicher Exot, denn ich bin seit Jahren in der Praxis tätig und weiß - im Gegensatz zu den Diskutanten - daß zwischen Theorie und Praxis oft eine unüberwindbare Lücke klafft. Das hier ist eine Welt für sich. Und ich bin mal wieder Vermittler.
Morgen wird es dann stressig, mit dem Shuttle rechtzeitig zum Bahnhof zu kommen. Die Tickets sind mit Zugbindung.
Also, liebes meinTagebuch, jetzt weißt Du wieder etwas mehr von mir. Schlaf gut! Und falls jemand kommt und dich mißhandelt, denk an meine graugrünen Augen und suche den Frieden. Vielleicht schaue ich irgendwann wieder hier vorbei.
Gute Nacht,
DeinBaumhaus
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