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Wolfram schrieb am 11.10. 2000 um 21:38:04 Uhr über

Leben

Ich war gerade eingeschult worden, da begab es sich, dass unsere erste Schulstunde ausfiel. Unsere Lehrerin, eine sonore Dame mit schlohweißem Haar, sagte zu uns: »Lasst uns einen Kreis bilden. Jeder nimmt sich seinen Stuhl und bildet gemeinsam mit den anderen einen Kreis. Heute werden wir uns Geschichten ausdenken und sie einander erzählen...«
Es wurde eine sehr lustige Stunde, aber auch eine ernste: Frau Ulken, so hieß die Lehrerin, erzählte von den träumen, die sie als Kind gehabt hatte, und davon, dass sie Lehrerin geworden sei und nun bald in Pension ginge.

Später ging ich mal zu ihr. Ich sagte: »Frau Ulken, ich möchte lebenAber sie verstand nicht: »Aber Kindsagte sie, »Du lebst doch. Deine Eltern sorgen für dich. - In Afrika, _da_ müssen die Kinder um ihr Leben fürchten. Aber doch nicht hier. Deine Eltern sorgen für dich« - ja, sie wiederholte sich - »und wenn Du groß bist, dann kannst du für dich selber sorgen...«

Mit zehn fühlte ich mich groß genug. Groß, stark und gewappnet, für die Dinge, die da kommen mochten.
Meine Eltern waren anderer Ansicht.

Mit sechzehn sagte ich zu meinem Vater: »Papa, ich möchte leben- »Jung'«, widersprach er, »Du mahst jetzt erstmal deinen Schulabschluss, und dann gehste auf Jymnasium.«

Mit achtzehn dachte ich: So, jetzt möchte ich leben!
Der Bund dachte da ganz anders.

Dann musste ich plötzlich zuhause ausziehen und für mich selbst sorgen. Das war als Paps starb. Ich habe keine Geschwister. Und Ma zog in eine kleinere Wohnung, da konnten wir gut mit dem Geld auskommen. Es kam Ausbildung, dann Enna, dann mein Start in den Beruf. (Enna war schwanger, ehe ich meine Stelle sicher hatte.)

Die Kleine war krank. Unser erster längerer gemeinsamer Urlaub war von ihren Leiden überschattet. Als Kleinkind hatte sie mehr Zeit in den Kliniken verbracht als bei uns zuhause. Jetzt brach ihre Atemnot wieder durch.


Ich räume gerade die alte Seemannskiste auf, die wir damals von Ennas Vater geerbt hatten. Da liegen meine alten Notizen drin.
Ich erinnerte mich an meine alte Lehrerin. Sie mag wohl in meinem Alter gewesen sein, als sie uns von ihrem verlorenen Traum erzählt hatte. Ich erinnere mich jetzt wieder.. Auch Enna ist alt geworden. (Sie hat wohl die Ohren gespitzt, als ich diese Passage vor mich hingemurmelt habe. »Ich glaube, ich verstehe sie«, höre ich sie, leise.)


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