Unter dem Schlagwort Laufzeitverlängerung wird in Deutschland seit dem Atomausstieg von 2002 eine mögliche Verlängerung der Restlaufzeit von Kernkraftwerken (KKW) debattiert. Bald nach Inkrafttreten des Ausstiegsbeschlusses wurde 2003 das Kernkraftwerk Stade stillgelegt. Das Kernkraftwerk Obrigheim folgte 2005. Damit blieben in Deutschland noch 17 Reaktorblöcke in Betrieb:
Bezeichnung Kürzel Bundes-
land Betrei-
ber Netto-
leistung
in MW Energie-
erzeugung
in TWh[1] Restarbeits-
menge ab
Juli 2010 in
TWh[2] Bau-
beginn Kommer-
zieller
Betrieb Außer
Betrieb[3]
(Extrapolation 2009) Typ
Brokdorf KBR SH E.ON 000000000001410.00000000001.410 195,7 100,1 1976-01-01 01.01.1976 1986-12-22 22.12.1986 2022-06-26 (2022) DWR
Isar 2 KKI 2 BY E.ON 000000000001400.00000000001.400 186,8 110,3 1982-09-15 15.09.1982 1988-04-09 09.04.1988 2021-08-27 (2021) DWR
Philippsburg 2 KKP 2 BW EnBW 000000000001392.00000000001.392 214,6 86,6 1977-07-07 07.07.1977 1985-04-18 18.04.1985 2019-10-14 (2019) DWR
Grohnde KWG NI E.ON 000000000001360.00000000001.360 226,0 87,4 1976-06-01 01.06.1976 1985-02-01 01.02.1985 2019-06-02 (2019) DWR
Unterweser KKU NI E.ON 000000000001345.00000000001.345 241,7 18,5 1972-07-01 01.07.1972 1979-09-06 06.09.1979 2013-03-09 (2013) DWR
Krümmel KKK SH Vattenf. 000000000001345.00000000001.345 184,6 88,2 1974-04-05 05.04.1974 1984-03-28 28.03.1984 2021-06-02 (2021) SWR
Emsland KKE NI RWE 000000000001329.00000000001.329 186,6 114,9 1982-08-10 10.08.1982 1988-06-20 20.06.1988 2022-02-05 (2022) DWR
Neckarwestheim 2 GKN 2 BW EnBW 000000000001305.00000000001.305 173,9 125,1 1982-11-09 09.11.1982 1989-04-15 15.04.1989 2023-04-14 (2023) DWR
Grafenrheinfeld KKG BY E.ON 000000000001275.00000000001.275 227,7 47,3 1975-01-01 01.01.1975 1982-06-17 17.06.1982 2015-10-20 (2015) DWR
Gundremmingen C KGG C BY RWE 000000000001288.00000000001.288 185,3 63,3 1976-07-20 20.07.1976 1985-01-18 18.01.1985 2018-11-12 (2018) SWR
Gundremmingen B KGG B BY RWE 000000000001284.00000000001.284 195,8 54,1 1976-07-20 20.07.1976 1984-07-19 19.07.1984 2017-01-28 (2017) SWR
Biblis B KWB B HE RWE 000000000001240.00000000001.240 222,6 13,9 1972-02-01 01.02.1972 1977-01-31 31.01.1977 2011-11-24 (2011) DWR
Biblis A KWB A HE RWE 000000000001167.00000000001.167 215,5 7,8 1970-01-01 01.01.1970 1975-02-26 26.02.1975 2011-01-14 (2011) DWR
Philippsburg 1 KKP 1 BW EnBW 000000000000890.0000000000890 154,1 13,4 1970-10-01 01.10.1970 1980-03-26 26.03.1980 2013-04-04 (2013) SWR
Isar 1 KKI 1 BY E.ON 000000000000878.0000000000878 161,8 6,3 1972-05-01 01.05.1972 1979-03-21 21.03.1979 2012-02-22 (2012) SWR
Neckarwestheim 1 GKN 1 BW EnBW 000000000000785.0000000000785 170,1 1,0 1972-02-01 01.02.1972 1976-12-01 01.12.1976 2010-09-19 (2010) DWR
Brunsbüttel KKB SH Vattenf. 000000000000771.0000000000771 111,0 11,0 1970-04-15 15.04.1970 1977-02-09 09.02.1977 2013-06-30 (2013) SWR
Stand: 2010, Quellen: Bundesamt für Strahlenschutz, Informationskreis KernEnergie.
DWR = Druckwasserreaktor, SWR = Siedewasserreaktor
Betreiber:
RWE = 5 Blöcke (1.288 + 1.284 + 1.219 + 1.240 + 1.167 = 6.198 MW Nettoleistung)
E.ON = 6 Blöcke (zusammen 6.790 MW Nettoleistung)
Vattenfall = 2 Blöcke (1.345 + 771 = 2.116 MW Nettoleistung)
EnBW = 4 Blöcke (1.392 + 1.305 + 890 + 785 MW = 4.372 MW Nettoleistung)
Als nächstes standen für ca. 2009 und Folgejahre die Kernkraftwerke Neckarwestheim, Biblis A und B, etwas später dann Isar 1, Brunsbüttel und Unterweser zur Stilllegung an.
Der Atomausstieg war im Konsens zwischen der rot-grünen Bundesregierung und den Betreibern ausgehandelt worden. Jedoch war allgemein bekannt, dass die Betreiber darauf hofften, eine künftige schwarz-gelbe Regierung werde den Ausstieg rückgängig machen. Das wurde spätestens dann unübersehbar, als ein Betreiber beantragte, Reststarbeitsmengen von einem neuen auf ein altes Kraftwerk zu übertragen, um damit die bevorstehende Stilllegung des letzteren hinauszuzögern - was abgelehnt wurde: die Regierung hatte das Instrument der Strommengenübertragung zu dem alleinigen Zweck eingeführt, einen Anreiz für die beschleunigte Stilllegung der ältesten Reaktoren zu schaffen. Die Betreiber zählten jedoch darauf, dass der Ausstiegsbeschluss vor der Geschichte nicht Bestand haben werde. Das internationale Umfeld deutete vielmehr auf eine Renaissance der Kernenergie hin: In Frankreich und Finnland sind Kernkraftwerke der neuesten Generation in Bau; Schweden ist von seinem Ausstiegsbeschluss abgerückt; Polen und Italien planen den Einstieg; die Schweiz den Ausbau; Litauen und Großbritannien eine Erneuerung ihrer Kernkraftwerke (siehe auch Kernenergie nach Ländern).
Aufgrund von Revisionsarbeiten wurden die Restmengen von Neckarwestheim und Biblis wesentlich langsamer erzeugt als prognostiziert. Dadurch gelang es, bis zur Bundestagswahl 2009 und ein Jahr darüber hinaus Stilllegungen zu vermeiden.
Inhaltsverzeichnis [Verbergen]
1 Verlauf der politischen Debatte
1.1 Externe Gutachten
1.2 Energiekonzerne drohen mit Atomausstieg
1.3 Die Rolle des Bundesrates und der Bundesländer
2 Interessenlage der Betreiber
3 Kernenergie und Klimaschutz
4 Kritik
4.1 Umbau des Stromnetzes
4.2 Sicherheit
5 Wirtschaftliche Aspekte
5.1 Senkung des Strompreises
5.2 Zusatzgewinne für KKW-Betreiber
6 »Atomgipfel«; Einigung in der Koalition
7 Siehe auch
8 Einzelnachweise
9 Weblinks
Verlauf der politischen Debatte [Bearbeiten]
Die Parteien CDU, CSU und FDP kündigten im Wahlkampf 2009 an, das Atomgesetz zu ändern und die Laufzeiten von deutschen Kernkraftwerken verlängern zu wollen. Diese Absicht bekundeten sie auch im Koalitionsvertrag, den sie nach der Bundestagswahl Ende Oktober 2009 schlossen.
Der Koalitionsvertrag enthält relativ allgemeine Formulierungen zur Energiepolitik. Sie orientierten sich erkennbar an Empfehlungen des VDI:[4]
VDI: »Die CO2-freie Kernenergie ist unverzichtbarer Bestandteil eines umweltverträglichen und zukunftsfähigen Energiemix. VDI empfiehlt Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken. Ein Teil der daraus resultierenden Gewinne der Betreiber sollte für Energieforschung, für den Ausbau erneuerbarer Energien und zur Senkung der Strompreise genutzt werden. Die Endlagerung radioaktiver Stoffe muss ergebnisoffen untersucht werden.«
Koalitionsvertrag (S. 29): »Kernenergie wird als Brückentechnologie gesehen, die erneuerbare Energien bis zu deren verlässlichen Einsatz ersetzen soll. Laufzeiten sollen unter Einhaltung deutscher und internationaler Sicherheitsstandards verlängert werden, das Neubauverbot bleibt bestehen. Voraussetzungen zur Laufzeitverlängerung sind Regelungen zu Betriebszeiten der Kraftwerke, Sicherheitsniveau, Vorteilsausgleich und Mittelverwendung zur Erforschung von erneuerbaren Energien. Das Moratorium zur Erkundung des Salzstockes Gorleben wird unverzüglich aufgehoben.«
Der neue Bundesumweltminister Norbert Röttgen signalisierte Anfang 2010, dass er eine Laufzeitverlängerung von maximal zehn Jahren für ausreichend hält. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) forderte später eine Laufzeitverlängerung von mindestens 15 Jahren[5], obwohl der Monitoringbericht seines Ministeriums zur Versorgungssicherheit keine Gefahr eines Versorgungsengpasses bei planmäßigem Ausstieg aus der Kernenergie sah, nicht einmal bei einem konservativ geschätzten Wachstum der erneuerbaren Energien auf nur 23 Prozent bei der Bruttostromerzeugung bis 2020.[6]
Bundesregierung und Kanzlerin gelang es vor der Sommerpause nicht, sich auf eine einheitliche Position zu einigen; dadurch blieb das Thema auf der politischen Tagesordnung. Dazu trugen vor allem zwei Umstände maßgeblich bei:
Die Umfragewerte für CDU, CSU und FDP sanken nach der Bundestagswahl erheblich.
Es kam zu einer beispiellosen Zahl von Personalwechseln in wichtigen Ämtern: Zum Beispiel kündigten Roland Koch und Ole von Beust ihren Rücktritt an; Bundespräsident Köhler trat zurück und wurde von Christian Wulff beerbt; diesem folgte David McAllister als niedersächsischer Ministerpräsident.
In der CDU gibt es einen Richtungsstreit um politische Fragen und das Erscheinungsbild der CDU.[7]
Teile von CDU, CSU und FDP befürchten, dass Laufzeitverlängerungen unpopulär sind und sie bei den nächsten Landtagswahlen viele Wählerstimmen kosten werden.
Die Energiebranche möchte nicht einer Regelung zustimmen, die die nächste Bundesregierung wieder rückgängig machen könnte. Deshalb strebt sie an, neue Regeln mit der Regierung vertraglich zu vereinbaren und dabei (prohibitiv) hohe Konventionalstrafen zu vereinbaren für den Fall, dass eine spätere Bundesregierung den Vertrag ändern möchte.[8] Im August initiieren die Energieversorger öffentlich den Energiepolitischen Appell.
Externe Gutachten [Bearbeiten]
Drei von der SGK bei drei Instituten bestellte externe Gutachten wurden am 27. August der Bundesregierung übergeben.[9] In der Woche davor absolvierte Merkel eine viertägige „Energie-Reise“, dabei besuchte sie in Krempin einen großen Windpark, in Leipzig die Strombörse, in Lingen das Kernkraftwerk und ein modernes Gas- und Turbinenkraftwerk, in Lünen (NRW) ein modernes Kohlekraftwerk, in Rheinfelden (Baden) die Baustelle des neuen Wasserkraftwerks[10] und in Darmstadt ein Plusenergiehaus.[11]
Die drei Institutionen sind:
das Energiewirtschaftliche Institut (EWI) an der Universität zu Köln
das Prognos-Institut und die
Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung (gws).
Die Neutralität des EWI wird angezweifelt; sein Direktor Marc Oliver Bettzüge ist Inhaber einer Stiftungsprofessur an der Kölner Universität, die bis zum Jahr 2012 vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft finanziert wird.[12]
Das Gutachten wurde am 30. August 2010 veröffentlicht. Die Bundesregierung verpflichtete alle drei Institute, ihren Überlegungen bestimmte Annahmen zugrundezulegen: Sie mussten die Folgen verschiedener Laufzeitverlängerungen mit einem sogenannten Basisszenario, dem bislang geplanten Atomausstieg, vergleichen. Dazu kommentierte Die Zeit: „Während aber bei allen Verlängerungsszenarien zusätzliche, vom Betrieb der Kernkraftwerke völlig losgelöste Klimaschutzmaßnahmen berücksichtigt werden, finden diese im Basisszenario nicht statt. Als ob Klimaschutz nur machbar wäre, wenn die Meiler länger am Netz blieben. Eine absurde Annahme. Drei Beispiele: Die Wärmedämmung von Gebäuden, der Verbrauch von Biokraftstoffen, ja selbst die zukünftige Leistung von Windkraftanlagen würden sich demnach bei einer Laufzeitverlängerung der Atommeiler besser entwickeln als ohne. Es ist, als vergleiche man Äpfel mit Birnen.“[13]
Die Bundesregierung will am 28. September 2010 ihr neues Energiekonzept beschließen.
Energiekonzerne drohen mit Atomausstieg [Bearbeiten]
Im August 2010 drohten die Energiekonzerne mit dem sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie: Sie wollen sofort alle Meiler abschalten, sollte die Bundesregierung bei ihren Plänen für eine Brennelementesteuer bleiben.
Zuvor hatten die Stromversorger Versorgungslücken prognostiziert, sollten ihre Kernkraftwerke wie im »Atomkonsens« geplant vom Netz gehen.[14]
Die Rolle des Bundesrates und der Bundesländer [Bearbeiten]
Nach Auffassung der CDU/CSU-FDP-Koalition bedarf es bei der Neufassung des Atomgesetzes keiner Zustimmung des Bundesrates. Da Atompolitik ausschließlich in die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fällt, sei dies kein 'Zustimmungsbedürftiges Gesetz'. Auch die Änderung des Atomgesetzes 2002, die zum Atomausstieg führen sollten, waren ohne Zustimmung des Bundesrates verabschiedet worden. Diese Überlegungen gewannen an Gewicht, als sich abzeichnete, dass die in NRW regierende CDU-FDP-Koalition unter Jürgen Rüttgers die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2010 verlieren würde und CDU, CSU und FDP dadurch ihre Mehrheit im Bundesrat verlieren würden. Zahlreiche politische Akteure bekundeten, dass sie die Umgehung des Bundesrates für verfassungswidrig halten bzw. dass sie bei einem solchen Versuch vor dem Bundesverfassungsgericht klagen würden.
Im Sommer 2010 formierte sich massiver Widerstand in den Bundesländern gegen die Atompolitik der Bundesregierung. Neun der 16 Länder (Stand August 2010) drohten mit einer Verfassungsklage, sollte die CDU/CSU-FDP-Koalition die Pläne ohne Mitwirkung des Bundesrats umsetzen wollen:
die sechs SPD-regierten Bundesländer sowie
das Saarland, Thüringen und Hamburg.
Die Länder begründen ihre Forderung nach Mitbestimmung
mit der Atomaufsicht, die sie ausüben [15] sowie
damit, dass sie finanziell mithaften müssen, wenn ein Kernkraft-Unfall passiert, bei dem große Mengen Radioaktivität in die Umgebung gelangen und dort Schäden verursachen (zu beiden Punkten siehe Atomgesetz).
Interessenlage der Betreiber [Bearbeiten]
Betriebswirtschaftlich betrachtet hat ein Betreiber Interesse am Betrieb einer Anlage, so lange die Einnahmen die Ausgaben überschreiten (= so lange Deckungsbeiträge erzielt werden).
Alle KKWe sind praktisch abgeschrieben; alle Betreiber haben in ihren Bilanzen hohe Rückstellungen für den Rückbau eines Kernkraftwerkes gebildet. Alle haben auch ein Interesse an einem Weiterbetrieb, weil sie dann längere Zeit diese Rückstellungen unangetastet lassen können; sie stehen dem Unternehmen wie ein zinsloses Darlehen zur Verfügung. Das Öko-Institut schrieb im Jahr 2000:
»Je länger die Kernkraftwerke in Betrieb sind, um so größer sind die Zins- und Beteiligungserträge, da dann mehr Rückstellungen angesammelt und die angesammelten Rückstellungen später in Anspruch genommen werden. Deshalb stellen die Rückstellungen faktisch einen erheblichen finanziellen Anreiz zum möglichst langfristigen Betrieb der Kernkraftwerke dar. Ein Sprecher des Instituts forderte: «Um Chancengleichheit auf dem Strommarkt herzustellen und den wirtschaftlichen Anreiz zum Betrieb von Kernkraftwerken zu reduzieren, müssen die Rückstellungen in einen Fonds überführt werden, der dem Zugriff der Kraftwerksbetreiber entzogen ist".[16]
Die angesammelten Rückstellungen betrugen Ende 2008 insgesamt 27,5 Milliarden Euro.[17]
Kernenergie und Klimaschutz [Bearbeiten]
Begründet wurde und wird die Laufzeitverlängerung vor allem mit Klimaschutz-Argumenten. Bei der Kernspaltung selbst entsteht kein klimaschädliches Kohlenstoffdioxid. Bezieht man die Uranförderung und -aufbereitung ein, wird zwar CO2 freigesetzt, aber, bezogen auf die letztlich erzeugte Energie, um Größenordnungen weniger als bei fossilen Energieträgern und in ähnlicher Größenordnung wie bei der Herstellung von Wind- und Wasserkraftanlagen.
In Summe wird durch die Laufzeitverlängerung kein CO2 eingespart, da die EU im April 2009 für die Zeit bis 2020 die Grenze der jährlich erlaubten CO2-Menge festlegte. In dieses Emissionsziel wurde die mögliche Reduktion durch Atomkraftwerke nicht eingerechnet. Wird durch eine verlängerte Laufzeit für Atomkraftwerke CO2 eingespart, so können im Rahmen des Emissionshandels andere Industriesparten mehr CO2 ausstoßen. Die Summe des Gesamtsystems bleibt in jedem Fall gleich.[18] Es gilt als unwahrscheinlich, dass diese nach zähem Ringen gefundene Regelung gekippt werden könnte.
Kritik [Bearbeiten]
Umbau des Stromnetzes [Bearbeiten]
Schon heute (2010) wird in hohem Maße so genannte Regelenergie benötigt, für deren Erzeugung KKW nicht ausgelegt sind. Durch den weiter zunehmenden Anteil der Windenergie an der Stromerzeugung nimmt der Bedarf an Regelenergie weiter zu. Seitdem Strombörsen in Europa Stromhandel betreiben und die Preise veröffentlicht werden, ist Akteuren und Öffentlichkeit bewusster als früher, wie wichtig die Regelenergie ist.
Sicherheit [Bearbeiten]
Sicherheitstechnisch ist eine Laufzeitverlängerung jedoch umstritten, weil altersbedingt die Wahrscheinlichkeit von Störfällen steigt, die KKW nicht dem neuesten Stand der Technik entsprechen und weil alte KKW konstruktive Mängel haben, die man auch durch aufwändige Modernisierungen nicht beheben kann.[19]
Unter dem Einfluss der radioaktiven Strahlung sowie beim An- und Abfahren erleiden viele Kraftwerksbauteile Materialermüdungen. Außerdem wird weiterhin Atommüll produziert, für den weder ein Endlager noch ein nachhaltiges Entsorgungkonzept vorliegt.
Wirtschaftliche Aspekte [Bearbeiten]
Senkung des Strompreises [Bearbeiten]
Ob im Falle von Laufzeitverlängerungen die Strompreise zum Beispiel für Privathaushalte sinken würden, wird kontrovers diskutiert. Die Energieversorger verweisen darauf, dass sich der Strompreis am Markt (Strombörse) bilde und nicht durch einen Vertrag festzulegen sei. Der ehemalige Präsident des Umweltbundesamtes Andreas Troge (CDU) bezeichnete eine Preissenkung durch Laufzeitverlängerung als „unrealistisch“. Er wies darauf hin, dass der Preis von Strom an der Strombörse 2009 und 2010 deutlich niedriger war als 2008 und dass die Stromversorger gleichwohl die Preise erhöhten.
Laut Öko-Institut (2008) ergibt sich für einen Drei-Personen-Musterhaushalt mit einem Jahresverbrauch von 3500 Kilowattstunden durch die Laufzeitverlängerung eine monatliche Ersparnis von 12 Cent.[20] Generell wird bezweifelt, dass die wahrnehmbare Dämpfung der Stromhandelspreise bei einer Laufzeitverlängerung auch bei den Energieverbrauchern (speziell den Privathaushalten) ankommt.
Nach einer Studie des Ökostromanbieters Lichtblick (2010) würde ein durchschnittlicher Haushalt maximal zwölf Euro jährlich sparen. Wenn die Kosten für die geplante Brennelementesteuer von den Energieversorgern an die Verbraucher weitergegeben werden, müsste eine vierköpfige Familie jährlich 60 Euro mehr für Strom bezahlen.[21]
Zusatzgewinne für KKW-Betreiber [Bearbeiten]
Dass die Betreiber von Kernkraftwerken, also die großen Energieversorgungsunternehmen, bei Laufzeitverlängerungen Zusatzgewinne in Milliardenhöhe machen, ist unbestritten.
Die Prognosen darüber, wie hoch diese Zusatzgewinne sind, differieren:
Laut Öko-Institut machen sie im gesamten Zeitraum der Verlängerung 63 Milliarden Euro Zusatzgewinne (E.ON 27,5; RWE 17; EnBW 14; Vattenfall 4,5).[20].
Laut einer Studie der Landesbank Baden-Württemberg aus dem Jahr 2009 würden die KKW-Betreiber
bei einer Laufzeitverlängerung von 10 bis 25 Jahren und einer moderaten Strompreisannahme von 51 EUR je MWh 44 bis 119 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen;
bei einer Strompreisannahme von 80 EUR je MWh beliefen sich die Mehreinnahmen auf 233 Milliarden Euro (25 Jahre). [22]
»Atomgipfel«; Einigung in der Koalition [Bearbeiten]
Union und FDP beschlossen am 5. September 2010, dass die deutschen Kernkraftwerke durchschnittlich zwölf Jahre länger betrieben werden sollen. Bis 1980 gebaute KKW sollen acht Jahre länger laufen, neuere KKW 14 Jahre. Im Gegenzug sollen die Energiekonzerne neben der bereits beschlossenen Brennelementesteuer in den kommenden Jahren insgesamt rund 15 Milliarden Euro für den Ausbau erneuerbarer Energien zahlen.[23]
Die deutschen Stadtwerke befürchten massive Einbußen: Der Kompromiss werde die städtischen Versorger mit 4,5 Milliarden Euro belasten. Sie fordern eine finanzielle Entschädigung - unter Berufung auf Vertrauensschutz (»Unsere Investitionen in Kraftwerke sind im Glauben auf politische Verlässlichkeit geschehen«). Die Auslastung ihrer Kraftwerksparks sinke durch die längeren Laufzeiten deutlich.
Die Entscheidung entziehe auch allen zukünftigen Investitionen in Kraftwerke die Grundlage. Bis 2030 sei so viel Erzeugungskapazität vorhanden, dass es keine neuen Bauvorhaben geben werde. »Der Wettbewerb ist damit quasi tot.« [23]
Auch der Deutsche Städtetag fordert Ausgleichszahlungen für die kommunalen Versorger. Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke dürften die Investitionen in umweltfreundliche Energieerzeugung nicht gefährden, forderte Städtetags-Präsidentin Petra Roth.[23]
Siehe auch [Bearbeiten]
Energiemix
Einzelnachweise [Bearbeiten]
1.↑ Nettostrom in TWh - Netto-Stromerzeugung in Milliarden Kilowattstunden seit der Inbetriebnahme bis Ende Dezember 2005 oder bis zur Abschaltung.
2.↑ Bundesamt für Strahlenschutz: Erzeugte Elektrizitätsmengen (netto) der deutschen Kernkraftwerke, Übertragung von Produktionsrechten und Erfassung der Reststarbeitsmengen
3.↑ aktuelle Reststarbeitsmengen und prognostizierte Abschaltung
4.↑ Der VDI veröffentlichte nach Abschluss des Koalitionsvertrages eine Tabelle, die detailliert aufzeigt, wie weitgehend der Koalitionsvertrag diese Empfehlungen übernimmt.
5.↑ zum Beispiel FR 20. Juni 2010
6.↑ Energiemonitoring-Bericht 2008 des BMWi
7.↑ spiegel.de vom 3. Juli 2010
8.↑ Rgheinische Post vom 10. August 2010: Kompromiss im Atom-Streit. - Alte Kernkraftwerke könnten schon 2011 abgeschaltet werden. Im Gegenzug sollen jüngere Reaktoren länger am Netz bleiben als geplant
9.↑ Die Zeit Nr. 38 vom 19. August 2010: Spiel gegen die Zeit. - Mit einem neuen Gutachten lässt die Regierung längere Reaktorlaufzeiten schön rechnen.
10.↑ Kanzlerin kommt nur zum Kurzbesuch, Badische Zeitung, 21. August 2010
11.↑ rp-online.de Rheinische Post 19. August 2010 Seite A4: Merkel startet »Energie-Reise«
12.↑ spiegel.de vom 27. August 2010: Regierungsgutachter steht Stromkonzernen nahe
13.↑ Die Zeit Nr. 34 vom 19. August 2010: Spiel gegen die Zeit. - Mit einem neuen Gutachten lässt die Regierung längere Reaktorlaufzeiten schön rechnen.
14.↑ Claudia Ehrenstein: Die Energieriesen wollen die Regierung erpressen. - Die Stromkonzerne drohen mit dem sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie. Selbst den Befürwortern der Kernkraft müsste es die Sprache verschlagen. in: welt.de vom 15. August 2010
15.↑ fr-online.de vom 6. September 2010
16.↑ Öko-Institut e. V. - Institut für angewandte Ökologie Stellungnahme 20. November 2000 Siehe ebenfalls das Magazin 'Neue Energie' April 1999 [1]: Die Milliardenpolster wurden bereits 1991 von der Deregulierungskommission kritisiert.
17.↑ bundestags.de 8. Juni 2010
18.↑ Energiepolitik auf dem Holzweg auf dradio.de, 6. Juni 2010
19.↑ ARD-Magazin »kontraste« vom 15. Juli 2010: Atomkraft – Laufzeitverlängerung trotz Sicherheitsdefiziten
20.↑ a b Zeit-Artikel (2008): Minimale Ersparnis durch längere AKW-Laufzeiten
21.↑ Studie widerlegt Billigstrom-Versprechen der Atomriesen auf spiegel.de, 11. Juni 2010
22.↑ Laufzeitverlängerung: Milliarden für die Atomkonzerne in zeit.de 9/2009
23.↑ a b c zeit.de vom 6. September 2010
Weblinks [Bearbeiten]
Energieszenarien für das Energiekonzept der Bundesregierung
Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages: Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke
Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND): Anti-Atom-Aktion, Atomausstieg
Synoptischer Überblick über die Effekte einer Laufzeitverlängerung (Inagendo Energy Policy Consulting [2])
Rupert Scholz: Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke: Entscheidung zwischen Bundestag und Bundesrat? In: atomwirtschaft. 5/2010, S. 316f. (Zeitschrift »atomwirtschaft«; Näheres siehe www.kernenergie.de)
Von „http://de.wikipedia.org/wiki/Laufzeitverl%C3%A4ngerung_deutscher_Kernkraftwerke“
Kategorie: Atomenergiepolitik
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