Es ist mir unverständlich, warum man eine Sekte nur aus dem Grunde nicht als Sekte bezeichnet, weil sie schon länger existiert, viele Anhänger hat und über Macht verfügt.
Der Sektencharakter einer Lehre hängt nicht unbedingt vom Inhalt dieser Lehre ab, sondern hauptsächlich von der Art, wie sie vertreten wird. Insofern dem Einzelnen die Freiheit belassen wird, sich auf seine Weise mit den Inhalten zu beschäftigen, ihm nicht ex cathedra verboten wird, gleichzeitig auch andere Inhalte zu durchdenken und keine mit selbiger Lehre verbundene Instanz sich das Recht nimmt, seine Gedanken künstlich zu lenken – fehlt der Sektencharakter. Und andererseits können selbst die freiheitlichsten Inhalte durch mißverständliche Handhabe als Grundlage zur Sektenbildung dienen.
Nun gibt es Lehrgebäude, die bereits in ihrem Kern den Sektencharakter veranlagt haben: Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns, ist der ewigen oder sonstwelcher Verdammnis verfallen; und wer mit uns ist, hat sich bedingungslos zu unterwerfen. Die können gar nicht anders als Sekten sein; würden sie freilassend, so müßten sie ihren eigenen Kern verleugnen; ganz egal, ob das nun eine mächtige Kirche ist, der Marxismus-Leninismus zu Zeiten Stalins oder irgendeine sonstige nach ähnlichem Prinzip aufgebaute religiöse oder politische Gemeinschaft ganz egal mit wieviel oder wie wenig Anhängern und wieviel oder wie wenig Macht.
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