Meine Hautärztin, die ich sehr liebe, weil sie nicht nur eine gute Ärztin ist, sondern auch sehr lieb und eine sehr schöne Frau auch noch dazu, die hat mal zufällig mitbekommen, daß ich Freud lese. Ich soll mal C.G. Jung lesen, der wäre »eingängiger«, sagte sie. Naja ... hab ich mir also das »Erinnerungsbuch« zugelegt, daß nach dem Wiki-Artikel über Jung eine gute Einführung sein soll: Gedanken, Träume, Erinnerungen von C.G. Jung - aufgezeichnet und hrsg. von Anelia Jaffé. (Nur noch antiquarisch erhältlich derzeit.) Ja und im Sommer habe ich mich angefangen, durchzuackern. Am Anfang gehts ja noch, Kindheit und Jugend - aber dann wirds immer heftiger, von Seite zu Seite. Jung schreibt selbst ja mal dort so erfrischend, er wäre wohl verrückt geworden, wenn er nicht Frau und 5 Kinder sowie eine verdammt gutgehende Privatpraxis gehabt hätte, für die er sogar seinen Baseler Lehrstuhl aufgegeben hatte ... hm. Visonen, Erscheinungen, Zweites Gesicht ... die ganze Klaviatur der Esotherik hoch und runter - und das mir als erz-rationalistischem Menschen, aufgezogen an den dürren Brüsten des kritischen Positivismus und des methodischen Zweifels ... hm. Und doch: in jedem Satz hat er ein Thema angeschlagen, daß auch mein Thema ist, mich intensiv zum nachdenken angeregt. Irgendwann ist mir dann mal aufgefallen, daß der Ort im Hildburghäuser Stadtwald, in dem ich das Buch größtenteils gelesen habe, »Heiliger Grund« heißt. Hm.
Im August mußte ich wieder mal in die Klinik. Das »Erinnerungsbuch« habe ich mitgenommen, ich war bei dem Kapitel über das Leben nach dem Tode angekommen. Der Klinik-Aufenthalt als solcher war ganz ok gewesen - ich bin ja Profi-Patient, kenne mich aus, habe ein gutes Verhältnis zu Personal und Mitpatienten gehabt, habe mich so wohl gefühlt, soweit man sich in einer Klinik als Patient wohl fühlen kann.
Jeden Morgen bin ich nach dem Wecken, also so kurz nach sechs, zum »tautreten« auf eine Wiese am Hubschrauberlandeplatz, das war auch schon immer ein schöner Tagesbeginn. Und jetzt kommt es: da liegt an der Stelle, wo ich immer auf die Wiese ging, auf einmal ein weisser Zettel. Erst nicht beachtet - der Wirtschaftshof liegt direkt daneben und der Hubschrauber macht dauernd Wind ... und dann, als ich an die Stelle kam, wo Jung schreibt, daß man, wenn es überhaupt ein Leben der Person nach dem Tode geben kann, diese seiner Überzeugung nach in ihren Kenntnissen und Fähigkeiten nicht über das hinausreichen kann, was sie zur Zeit des Todes hat - da habe ich mal geguckt: »212« stand auf dem Zettel. Hm. Hat mir erst mal nix gesagt. Erst am nächsten Tag hat es »Ping« gemacht: § 212 StGB - Totschlag: »Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein ...« Und ich habe begriffen: es wäre eine Sünde gewesen, mich umzubringen, wie ich es vorletzten Sommer nach dem gesundheitlichen Zusammenbruch ernsthaft erwogen hatte (wie wohl jeder in meiner Lage es getan hätte, es erwägen, meine ich). Weil ich, wenn ich derart im Unreinen mit mir und psychisch einigermaßen durcheinander, ja verwirrt, wenn ich mich in diesem Zustand umgebracht hätte, ich genauso hätte »weiterleben« müssen - als Gespenst. OK - wenn mich jemand killt, ein Auto, ein Bus, vielleicht sogar noch der Assi, der unter mir wohnt, ein völlig unberechenbarer Alki, keine Ahnung - dann kann ich ja nix dafür, dann muß ich nicht unbedingt zum Gespenst werden. Aber wenn ich jetzt von mir aus die Reißleine ziehe - dann ist die Kacke am dampfen, das waren so meine Gedanken.
Und als ich dann am nächsten Tag wieder hingegangen bin, lag der Zettel auf einmal auf dem Gesicht. Umgedreht - nur noch ein Stück weisse Pappe. Ich hab ihn am übernächsten Tag dann aufgehoben, und in das »Erinnerungsbuch« von Jung gelegt.
Meine liebe, schöne, kluge Ärztin hatte ich seit über einem Jahr nicht gesehen, sehr große Sehnsucht nach ihr. Es gab zwar zwei dermatologische »Konzile«, aber es ist immer nur ihr Praxis-Partner gekommen, ein netter Typ - aber auch ein strengläubiger Positivist halt. Jedenfalls: Am Sonntag drauf bin ich nach dem Frühstück dann mal auf den Parkplatz rausgelatscht, was ich sonst wegen der Autos nie tat, aber am Sonntagmorgen ... so um halb zehn vielleicht, da war der ja noch fast leer ... und da kommt ne Frau im weissen Kittel auf mich zu und winkt mir lachend zu: meine geliebte, so heiß ersehnte Ärztin, die mich besuchen wollte, aber weil ich nicht im Zimmer war ... ich habe sie dann »zufällig« auf dem Parkplatz getroffen, habe sozusagen direkt vor ihrem Auto gestanden, als sie gekommen ist. Sie hat mich umarmt und mir ein Buch geschenkt.
Seitdem hat das »Erinnerungsbuch« von C.G. Jung bei mir den Status eines »Heiligen Buches«. Ich muß lange, lange in meinem Gedächtnis wühlen, wann ich zum letzten Mal ein derartiges, geradezu religiöses Erlebnis hatte ...
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