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magersüchtig schrieb am 30.4. 2001 um 01:15:24 Uhr über

hunger

Die Nahrungsmittelmärkte

20. Auf den Weltmärkten für Nahrungsmittel wird zum Teil mit Produkten gehandelt, die nicht immer mit denen identisch sind, die in den meisten entwicklungsschwachen Ländern konsumiert werden.33 Die enormen Preisschwankungen schaden den Interessen der Produzenten genauso wie denen der Konsumenten. Hervorgerufen werden sie durch spontane Anpassungsmechanismen, die noch verstärkt werden durch die Funktionsweise der Märkte. Stabilisierungsversuche zeitigten wenig Erfolg. Sie wirkten sich teilweise sogar noch negativ für die Produzenten aus. Andererseits schließt ein funktionierender Markt einen Anstieg der Preise aus. Die begrenzte Anzahl internationaler Handelsunternehmen erlaubt keine Änderung der Wechselkurse. Sie verhindert sogar, daß neue Marktteilnehmer auf den Markt kommen, was sich negativ auswirkt. Die Entstehung neuer Produktionskapazitäten hängt vor allem davon ab, in welchem Ausmaß technischer Fortschritt (Fortschritt bei der Entwicklung und bei der Anwendung) Verbreitung findet. Die durchschnittliche Reisproduktion in Indonesien ist innerhalb von einer Generation von 4 auf 15 Tonnen/Hektar gestiegen, also sehr viel schneller als die Bevölkerung, die schon in Rekordgeschwindigkeit wächst. In den meisten Ländern, in denen die Landwirtschaft Fortschritte macht, steigen die landwirtschaftlichen Erträge stark, obschon die Zahl der Landwirte gleichzeitig deutlich abnimmt.

Die moderne Landwirtschaft

21. Intensive Landwirtschaft wird in wachsendem Maße für Umweltschäden verantwortlich gemacht, vor allem für die Verschmutzung der natürlichen Ressourcen wie Wasser und Böden durch den übermäßigen Einsatz von Dünger und Pflanzenschutzmitteln. Intensivierung der Landwirtschaft wird in erster Linie definiert als Erhöhung des Verhältnisses aus dem Verbrauch von Rohstoffen und Maschinen (hauptsächlich industrieller Natur) und der genutzten landwirtschaftlichen Fläche. Wir beobachten eine Entkoppelung der landwirtschaftlichen Produktionstechnologien von ihrer natürlichen Grundlage, den Böden. Die Beziehung zwischen diesen beiden Größen weicht einer riskanten Dualität von landwirtschaftlicher Technologie und wirtschaftlichem Umfeld.

Eine Intensivierung der Landwirtschaft erfordert im allgemeinen einen hohen Kapitaleinsatz. In den meisten Entwicklungsländern herrscht jedoch eine Selbstversorgungskultur vor, die vornehmlich auf »menschlichem« Kapital gründet und nur über begrenzte technische Hilfsmittel und Wasservorräte verfügt. Die »grüne Revolution« hat zwar gewisse Erfolge gehabt; das Nahrungsmittelproblem vieler Entwicklungsländer hat sie jedoch nicht lösen können.

Wenn nun weitere Maßnahmen zur Verbesserung der intensiven Landwirtschaft und des Umweltschutzes anstehen, so sollten hierfür - wie in den industrialisierten Ländern - andere Produktionssysteme zum Einsatz kommen, die die natürlichen Ressourcen besser schützen und eine weite Streuung des Produktionseigentums aufrechterhalten. Deshalb sollten landwirtschaftliche Züchterverbände, die verantwortliche Verwaltung der Wasserressourcen und die Ausbildung zu kooperativen Organisationsformen gefördert werden.

II. Eine ethische Herausforderung für alle

Die ethische Dimension des Problems

22. Um dem Problem des Hungers und der Mangelernährung in der Welt begegnen zu können, muß man den ethischen Aspekt des Problems erfassen.

Die Ursache des Hungers ist sittlicher Natur; sie liegt jenseits aller physischen, strukturellen und kulturellen Gründe. Somit ist auch die Herausforderung sittlicher Natur. Ein Mensch guten Willens, der an die universellen Werte innerhalb der verschiedenen Kulturen glaubt, wird diese Herausforderung annehmen. Dies gilt vor allem für den Christen, der selbst die Erfahrung der persönlichen Beziehung zum allmächtigen Herrn gemacht hat, jener Beziehung, die Gott zu jedem einzelnen Menschen knüpfen möchte.

Diese Herausforderung beinhaltet ein vertieftes Verständnis der Phänomene, die Fähigkeit der Menschen, sich gegenseitig zu dienen - das kann natürlich auch durch das Spiel der wirtschaftlichen Marktkräfte geschehen, wenn sie in rechter Weise verstanden werden - und den Rückgang jedweder Korruption. Mehr noch: Es geht um unser aller Freiheit, sich tagtäglich dafür einzusetzen, daß jeder einzelne Mensch und die ganze Menschheit sich entwickeln können, d.h. es geht um die Entwicklung des Gemeinwohls.34 Eine solche Entwicklung beinhaltet soziale Gerechtigkeit, Zugang aller Menschen zu den Reichtümern der Erde, gelebte Solidarität und Subsidiarität, Frieden und Achtung der Umwelt. Diese Richtung muß eingeschlagen werden, wenn wir Hoffnung verbreiten wollen und wenn wir eine Welt schaffen wollen, die die uns nachfolgenden Generationen freundlicher empfängt.

Um diesen Fortschritt zu ermöglichen, muß die organische Förderung des Gemeinwohls geschützt und gegebenenfalls als notwendige Komponente bei allen Entscheidungs- und Denkprozessen der politisch und wirtschaftlich Tätigen in allen Bereichen und allen Ländern neu mit Leben gefüllt werden.

Die Motivation von Einzelpersonen und Institutionen ist nötig, damit eine Gesellschaft und eine Familie funktionieren. Aber für jeden einzelnen sowie für die Gemeinschaft gilt: die Menschen müssen umkehren und lernen, das Ziel des Gemeinwohls nicht zugunsten persönlicher Interessen, der Interessen ihrer Nächsten, ihrer Arbeitgeber, ihres Clans oder ihres Landes zu opfern, so berechtigt deren Interessen auch seien.

Die von der Kirche Schritt für Schritt in ihrer Soziallehre verkündeten Grundsätze sind ein wertvoller Leitfaden für den Menschen und sein Handeln im Kampf gegen den Hunger. Das Ziel des Gemeinwohls ist Schnittpunkt folgender Elemente:

- Suche nach größtmöglicher Leistungsfähigkeit in der Verwaltung der Güter der Erde;

- höhere Achtung der sozialen Gerechtigkeit, die durch die universelle Bestimmung der Güter möglich wird;

- ständig und sinnvoll gelebte Subsidiarität, die die Verantwortlichen davor schützt, die Macht an sich zu reißen, denn die Macht ist ihnen zum Dienst gegeben;

- gelebte Solidarität, die davon abhält, daß die Reichen die finanziellen Mittel an sich reißen; so wird niemand vom sozialen und wirtschaftlichen Bereich ausgeschlossen oder seiner menschlichen Würde beraubt.

Die kirchliche Soziallehre als Ganze muß also das Handeln der Verantwortlichen bestimmen, ob sie diese nun bewußt oder unbewußt anwenden.

Die Gefahr besteht, daß eine solche Forderung auf Skepsis oder sogar Zynismus stößt. Das Handeln vieler Verantwortlicher wird von der unbeugsamen, manchmal grausamen Umwelt bestimmt, die Angst erzeugt und zur arroganten Suche nach Macht und Machterhalt führt. Viele Menschen können geneigt sein, ethische Erwägungen als Bremsklotz anzusehen. Und doch zeigt die alltägliche Erfahrung in mannigfacher Weise und an den verschiedensten Orten, daß dem nicht so ist; denn nur eine ausgewogene Entwicklung, die das Gemeinwohl sucht, ist eine förderliche Entwicklung, und nur sie kann auf Dauer zur sozialen Stabilität beitragen: In allen Ländern und auf allen Ebenen handeln Menschen ohne Unterlaß und ohne viel Aufhebens unter Berücksichtigung der legitimen Interessen ihresgleichen.

Die riesige Aufgabe des Christen ist es, überall ein solches Verhalten zu unterstützen; wie ein wenig Sauerteig inmitten eines sehr harten Teiges sind sie dazu aufgerufen durch ihre Nähe zu der Liebe, die der Herr allen Menschen zuteil werden läßt und die sie an sich selbst erfahren.

Ihre wunderbare Aufgabe besteht darin, in allen Bereichen vorbildlich zu sein: technisch, organisatorisch, sittlich und geistlich. Sie können sich gegenseitig auf allen Ebenen der Verantwortlichkeit beistehen und jeden motivieren, der nicht durch seine soziale Lage »ausgeschlossen« ist.

Nächstenliebe im Dienst der Entwicklung

23. Die Suche nach dem Gemeinwohl muß auf die Sorge um den Menschen und die Liebe zu ihm gründen. In den verschiedensten Situationen stehen Menschen tagtäglich vor der Alternative: persönliche und kollektive Selbstzerstörung oder Nächstenliebe. Letztere zeugt also von einem verantwortungsvollen Gewissen, das weder vor seinen eigenen Grenzen noch vor der gewaltigen Herausforderung zurückschreckt, weil die Liebe zu den Menschen es antreibt. »Wie würde die Geschichte über eine Generation urteilen, die alle Mittel besitzt, um die Bevölkerung des ganzen Planeten zu ernähren, sich aber in brudermörderischer Blindheit weigerte, dies zu tun? Was für eine Wüste würde eine Welt sein, auf der das Elend nicht der Liebe begegnet, die Leben spendet«35?

Die Liebe geht über das Geben im strengen Sinne hinaus. Entwicklung wird durch das Handeln der mutigsten, kompetentesten und aufrichtigsten Menschen vorangetrieben. Diese Pioniere empfinden Solidarität mit allen Menschen, die nah oder fern unter dem Handeln oder den Unterlassungen der für sie Verantwortlichen leiden. Derartige konkrete Verantwortung aller ist sichtbares Zeichen des Altruismus.

Solidarität ist natürlich von allen gefordert. Glücklicherweise brauchen wir nicht darauf zu warten, daß die Mehrheit der Menschen zur Nächstenliebe umkehrt, um die Früchte des Handelns derer zu ernten, die schon jetzt zupacken. Die Auswirkungen des Handelns dieser Menschen, die sich auf allen Ebenen in ihrem Alltag als Diener am Menschen und an der Menschheit einsetzen, sind ein sicheres Fundament für unsere Hoffnung.

Soziale Gerechtigkeit und universelle Bestimmung der Güter

24. Im Herzen der sozialen Gerechtigkeit steht das Prinzip der universellen und allgemeinen Bestimmung der Güter der Erde. Papst Johannes Paul II. hat es folgendermaßen ausgedrückt: »Gott hat die Erde dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt, ohne jemanden auszuschließen oder zu bevorzugen, auf daß sie alle seine Mitglieder ernähre«36. Diese Aussage zieht sich durch die christliche Tradition, und sie kann gar nicht oft genug wiederholt werden, obwohl sie natürlich die gesamte Menschheit über alle konfessionellen Grenzen hinweg betrifft. Das Axiom ist ein notwendiger Baustein für die Errichtung einer Gesellschaft, in der Gerechtigkeit, Frieden und Solidarität herrschen. Jede Generation muß sich dessen bewußt sein, daß sie nur eine Zeitlang die Ressourcen der Erde und das Produktionssystem verwaltet. Im Hinblick auf die Vollendung der Schöpfung ist das Recht auf Eigentum keine absolute Größe; es ist Ausdruck der Würde jedes einzelnen, aber es ist nur rechtmäßig, wenn es sich dem Gemeinwohl unterordnet und wenn es zum Wohl aller beiträgt. In den verschiedenen Kulturen wird Gemeinwohl übrigens unterschiedlich gesehen und gehandhabt.

Die kostspielige Abkehr vom Gemeinwohl: die »Strukturen der Sünde«

25. Ein Mensch, der das Gemeinwohl mißachtet, jagt dem persönlichen Wohl in Form von Geld, Macht und Ruf nach. Sie werden als absolute Größen um ihrer selbst willen begehrt, das heißt, es sind Abgötter. So entstehen »Strukturen der Sünde«37, das sind alle Situationen und Umstände, in denen Menschen sich sündig verhalten und in denen jeder, der sich in sie hineingestellt sieht, viel Mut aufbringen muß, will er dieses Verhalten nicht annehmen.

Die »Strukturen der Sünde« sind vielfältig; sie sind mehr oder weniger weitläufig, manche sind auf der ganzen Welt verbreitet, wie zum Beispiel die Mechanismen und Verhaltensweisen, die zu Hungersnöten führen; andere sind von sehr viel begrenzterem Ausmaß, führen aber zu Ungleichgewichten, die es den betroffenen Menschen schwer machen, Gutes zu tun. Diese »Strukturen« fordern von den Menschen einen hohen Tribut: Sie zerstören das Gemeinwohl.

Seltener wird auf Negativfolgen und Kosten solcher »Sünden« im wirtschaftlichen Bereich hingewiesen. Hier gibt es einige frappierende Beispiele.38 Es sind nicht nur Ignoranz und Nachlässigkeit, die die Entwicklung behindern, sondern auch die vielfältigen und weit verbreiteten »Strukturen der Sünde«. Sie zweckentfremden die Güter der Erde, die für alle bestimmt sind, für menschenfeindliche Ziele und machen so eine förderliche Entwicklung für alle unmöglich.

Der Mensch kann sich die Erde nur untertan machen und sie beherrschen, wenn er den falschen Göttern abschwört: Geld, Macht und Ruf. Sie werden Selbstzweck und sind nicht länger Mittel im Dienst an jedem einzelnen Menschen und der gesamten Menschheit. Habgier, Hochmut und Eitelkeit verblenden denjenigen, der ihnen erliegt. Der Mensch sieht schließlich nicht mehr, daß seine Sichtweise begrenzt ist und sein Handeln selbstzerstörerisch.

Die universelle Bestimmung der Güter beinhaltet, daß Geld, Macht und Ruf als Mittel für folgende Ziele dienen:

- Schaffen von Produktionsmitteln für Güter und Dienstleistungen, die sozial sinnvoll sind und das Gemeinwohl fördern.

- Teilen mit den Ärmsten, die in den Augen aller Menschen guten Willens die Notwendigkeit des Gemeinwohls verkörpern. Sie sind die lebenden Zeugen für den Mangel an diesem Gut. Für die Christen sind sie die geliebten Kinder Gottes, der sich uns durch sie und in ihnen zeigt.

Die Verabsolutierung dieser Reichtümer verhindert ganz oder teilweise, daß die Ärmsten das Gemeinwohl mittragen. Die Weltwirtschaft funktioniert allgemein gesehen nur mäßig - verglichen vor allem mit den Spitzenleistungen, die einige Länder über einen relativ langen Zeitraum erbringen - und ist, in menschlichen Kategorien gesprochen, sehr kostenintensiv (dort, wo sie funktioniert, und auch dort, wo sie nicht funktioniert). Der Grund hierfür liegt darin, daß sie unter den Kosten, die die schlechten Gewohnheiten verursachen, leidet. Diese stellen eine sittliche Zwangsjacke dar, die die Menschen einengt.

Auf der anderen Seite sind dort erstaunliche Fortschritte erzielt worden, wo Gruppen von Menschen es schaffen, gemeinsam zu arbeiten und den Dienst der Gemeinschaft und jedes einzelnen dabei mit einzubeziehen. Menschen, die bislang wenig Nützliches taten, leisten erstaunliche Arbeit. Die positiven Auswirkungen verändern Schritt für Schritt die materiellen und psychologischen Voraussetzungen sowie die Einstellung der Menschen. In Wirklichkeit ist dies das positive Gegenbild der »Strukturen der Sünde«: Man könnte sie »Strukturen des Gemeinwohls« nennen, die die »Zivilisation der Liebe«39 einleiten. Erfahrungen mit »Strukturen des Gemeinwohls« geben uns einen ersten Einblick in die Welt, so wie sie einmal sein könnte: Menschen achten viel häufiger bei all ihrem Handeln und in ihrer Verantwortung auf gemeinsame Interessen und auch das Schicksal eines jeden einzelnen.

Vor allem den Armen Gehör schenken und ihnen dienen, d.h. mit ihnen teilen

26. Der im wirtschaftlichen Sinn arme Mensch beweist leider den Mangel an menschlicher Sorge um das Gemeinwohl. Doch hat er uns etwas zu sagen, das wir nur von ihm lernen können. Was das praktische Leben angeht, so hat er seine eigene Sichtweise, seine eigenen Erfahrungen, die die Reichen nicht kennen. Papst Johannes Paul II. hat dies in seiner Enzyklika Centesimus annus folgendermaßen ausgedrückt: »Vor allem aber ist es notwendig, eine Denkweise aufzugeben, die die Armen der Erde - Personen und Völker - als eine Last und als unerwünschte Menschen ansieht, die das zu konsumieren beanspruchen, was andere erzeugt haben ... Die Hebung der Armen ist eine große Gelegenheit für das sittliche, kulturelle und wirtschaftliche Wachstum der gesamten Menschheit«40.

Die Sichtweise der Mittellosen ist gewiß nicht exakter oder vollständiger als die der Verantwortlichen; aber sie ist wichtig für die letzteren, wenn diese nicht wollen, daß ihr Handeln auf lange Sicht zur Selbstzerstörung führt. Wer eine kostspielige und schwierige Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt, ohne die Sichtweise des Kleinsten zu berücksichtigen, läuft Gefahr, nach einer gewissen Zeit in eine Sackgasse zu laufen, was sehr kostenintensiv für die gesamte Welt werden kann. Genau das ist bei der Verschuldung der Dritten Welt passiert. Hätten Gläubiger und Schuldner die Sichtweise der Ärmsten als ein wichtiges Stück Realität berücksichtigt, dann hätte dies zu mehr Vorsicht geführt, und in vielen Ländern wäre dieses riskante Unterfangen nicht so negativ verlaufen, hätte sogar ein gutes Ende genommen.

Die Komplexität der zu lösenden Probleme oder - besser gesagt - der Situationen, die es zu verbessern gilt, erfordert von uns, den Ärmsten aufmerksam zuzuhören. Nur so können wir vermeiden, Sklaven des kurzfristigen Denkens zu werden im Bereich von Technologie, Bürokratie, Ideologie oder durch verklärte Vorstellungen von den Möglichkeiten des Staates oder des Marktes: Beide haben eine wichtige Rolle zu spielen, aber sie sind nur Mittel, nicht Selbstzweck.

Rolle der Vermittlungsinstanzen ist es, den Armen Gehör zu verschaffen und ihre Sichtweisen, Bedürfnisse und Wünsche festzuhalten. Diese Vermittlungsinstanzen sind aber gerade mit dieser Aufgabe überfordert. Sie leiden selbst unter ihrer eigenen Monopolstellung, die von ihnen verlangt, ihre Machtstellung zu festigen, oder sie leiden unter der Konkurrenz, die die Armen als Mittel zur Macht ausnutzen will. Die Gewerkschaften haben hier einige sehr wichtige Ziele. Sie müssen fast heldenhafte Leistungen erbringen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, ohne dabei verdrängt oder vereinnahmt zu werden.41

In solchen Situationen wird Teilen zu einer echten Zusammenarbeit, zu der jeder beiträgt, indem er allen das gibt, was die Gemeinschaft braucht. Der Ärmste hat seine eigene wichtige Aufgabe, wichtig gerade deshalb, weil er tatsächlich ausgeschlossen ist.42 Dieses Paradoxon sollte den Christen nicht erstaunen. Die Pflicht, jedem das gleiche Zugangsrecht zum nötigen Existenzminimum zu gewähren, wird nicht nur als moralische Verpflichtung des Teilens mit dem Ärmsten gesehen, was an sich schon sehr wichtig ist, sondern auch als deren Wiedereingliederung in die Gemeinschaft selbst, die ohne den Ärmsten zu verkümmern droht. Der Platz des Ärmsten ist nicht am Rand, in der Marginalität, aus der man ihn mehr schlecht als recht herauszureißen versucht. Der Ärmste steht im Mittelpunkt unserer Anliegen und Sorgen. Er steht im Zentrum der Menschheitsfamilie. Dort kann er seine einzigartige Rolle in der Gemeinschaft spielen.

Von diesem Blickwinkel aus gesehen, zeigt sich die wahre Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit, die auch eine ausgleichende Gerechtigkeit ist. Sie ist Grundlage allen Handelns für die Verteidigung der Rechte. Sie garantiert den sozialen Zusammenhalt, die friedliche Koexistenz der Nationen, aber auch ihre gemeinsame Entwicklung.

Eine integrierte Gesellschaft

27. Das Bild von der Gerechtigkeit, die in der menschlichen Solidarität verwurzelt ist und als solche dem Stärksten aufträgt, dem Schwächsten zu helfen, muß uns überall dorthin führen, wo die Stimmen der Ärmsten ertönen, damit wir in Gerechtigkeit, Frieden und Nächstenliebe vereint an der einen, alle umfassenden Gesellschaft arbeiten.

Gesellschaften sind letztendlich zum Scheitern verurteilt, wenn sie einige ihrer Glieder ausstoßen. Diese Feststellung wäre nicht kohärent, beinhaltete sie nicht auch das Recht der Armen, sich zusammenzuschließen, um besser Hilfe von allen Seiten zu erhalten und ihr Elend zu überwinden.

Frieden: Rechte im Gleichgewicht

28. Dauerhafter Frieden ist nicht das Ergebnis eines Gleichgewichts der Kräfte, sondern eines Gleichgewichts der Rechte. Frieden ist auch nicht gleichbedeutend mit dem Sieg des Starken über den Schwachen, sondern mit dem Sieg der Gerechtigkeit über die ungerechten Privilegien, dem Sieg der Freiheit über die Tyrannei, der Wahrheit über die Lüge,43 der Entwicklung über den Hunger, das Elend und die Erniedrigung innerhalb jedes Volkes und zwischen den Völkern. Will man wahrhaften Frieden und wirkliche internationale Sicherheit schaffen, reicht eine bloße Vermeidung von Kriegen und Konflikten nicht aus. Man muß Entwicklung fördern, Bedingungen schaffen, die in der Lage sind, die Grundrechte des Menschen zu garantieren.44 Demokratie und Abrüstung sind zwei Forderungen des Friedens, der unabdingbar für eine wirkliche Entwicklung ist.

Dringlichkeit der Abrüstung

29. Regionale Konflikte haben innerhalb von fünfzig Jahren ca. siebzehn Millionen Menschenleben gefordert. »In den achtziger Jahren sind die Militärausgaben auf den höchsten Stand in Friedenszeiten gestiegen; sie werden auf eine Billion (tausend Milliarden) Dollar (pro Jahr) geschätzt. Sie machten etwa fünf Prozent des gesamten Welteinkommens aus«45. Hier zeigt sich, wie wichtig und vordringlich es ist, daß alle politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen handeln, damit diese gigantischen Summen, die bislang für den Tod ausgegeben wurden - auf der nördlichen wie auf der südlichen Halbkugel -, von nun an für das Leben ausgegeben werden. Eine solche Haltung entspräche den sittlichen Kräften, die für eine schrittweise Abrüstung kämpfen. So würden beachtliche finanzielle Mittel frei, die den Entwicklungsländern zugute kommen könnten; denn sie benötigen sie dringend für ihren Fortschritt.46

Eine besonders hartnäckige »Struktur der Sünde« ist der Export von Waffen in einer Quantität, die weit über das berechtigte Bedürfnis nach Selbstverteidigung des Käuferlandes hinausgehen oder die für den internationalen Waffenhandel bestimmt sind. Heutzutage kann jeder, der über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, per Katalog modernste Waffen bestellen. In diesem Bereich breitet sich die Korruption aus. Schlimmer aber noch ist diese üble Praxis in sich. Wir sollten den Hut vor jenen Regierungen ziehen, die den Mut hatten, Verträge über Waffenkäufe, die ihre Vorgänger - Regime, die sich bis an die Zähne bewaffnet haben - eingegangen waren, nicht zu verlängern und die so Gefahr liefen, sich den Unmut der exportierenden Länder zuzuziehen.

Achtung der Umwelt

30. Die Natur ist dabei, uns eine Lektion in Sachen Solidarität zu erteilen, aber wir beachten sie kaum. Bei der Herstellung von Nahrungsmitteln sind alle Menschen aktive oder passive Bausteine eines Ökosystems. Dem Bewußtsein eröffnet sich so ein neues Feld der Verantwortung.

Man kann nicht eine wachsende Anzahl von Menschen satt machen wollen und gleichzeitig die Landwirtschaft schwächen. Und doch verschmutzt die Landwirtschaft derart die Umwelt (massenhafter Einsatz von Dünger, Pestiziden und Maschinen), daß sie zum Industriesektor geworden ist; eine saubere Produktionsweise ist in diesem Sektor noch nicht Wirklichkeit geworden. Umweltverschmutzung, übermäßiger Konsum, Versteppung und Entwaldung gefährden neben anderen lebensnotwendigen Ressourcen Luft, Wasser, Böden und Wälder. Innerhalb von fünfzig Jahren wurde die Hälfte des tropischen Regenwaldes abgeholzt mit dem Ziel, die Böden anders zu nutzen oder durch beschleunigte

Ausbeutung die Schuldenlast abbauen zu können. Welche Kurzsichtigkeit! In den ärmsten Regionen wird die Versteppung durch Überlebensstrategien hervorgerufen, die die Armut noch vergrößern: Überweidung, Abholzen von Bäumen und Büschen zum Kochen von Nahrung oder zum Heizen.47

Ökologie und nachhaltige Entwicklung

31. Ein ökologisch verantwortliches Umgehen mit der Erde ist dringend geboten. Wir möchten zwei Aspekte aus dem Bereich der Nahrungsmittelproduktion, die einen bedeutenden Sektor darstellt, hervorheben. Zunächst einmal sind die anfallenden Kosten in den Wirtschaftsprozeß einzubinden;48 wir müssen uns die Frage stellen, ob es immer die Armen sein müssen, die diese Last in Form von Nahrungsproblemen zu tragen haben. Zweitens beschleunigt der Wunsch, die Zusammenhänge zwischen Ökologie und Wirtschaft besser zu verstehen, die Idee einer nachhaltigen Entwicklung. Diese Erkenntnis kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine ausgewogene Entwicklung mit mehr Kraft als bisher gefördert werden muß. Schließlich kann eine Entwicklung ja nur nachhaltig sein, wenn sie ausgewogen ist. Ansonsten laufen wir Gefahr, zu den vorhandenen Ungleichgewichten neue hinzuzufügen.

Die Herausforderung gemeinsam annehmen

32. Hunger und Mangelernährung erfordern konkretes Handeln, das von der Bemühung um eine umfassende Entwicklung der Menschen und der Völker nicht getrennt werden kann. Die Aufgabe ist so gewaltig, daß die Katholische Kirche in immer stärkerem Maße zur Verbesserung der Situation beitragen muß. Sie muß alle dazu aufrufen, gemeinsam und mit Ausdauer an dieser Aufgabe zu arbeiten.

Glücklicherweise haben schon viele Menschen, Nicht-Regierungs-Organisationen, Behörden und Internationale Organisationen sich dafür eingesetzt, den Hunger zu besiegen. Erinnern wir nur an die internationale Kampagne gegen den Hunger und weitere Initiativen, an denen sich Christen gern beteiligen.

Den Beitrag der Armen zur Demokratie anerkennen

33. Es bleibt weithin unbeachtet, wie dynamisch arme Menschen sind. Damit dies bekannt wird, müssen sich sehr viele Einstellungen und Handlungsweisen - im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Bereich - ändern. Wenn Arme nicht an der Ausarbeitung von sie betreffenden Projekten teilhaben dürfen, dann - so lehrt die Geschichte - können sie meist auch nicht in vollem Maße aus diesen Projekten Nutzen ziehen. Wir müssen Solidarität in der Gemeinschaft schaffen. Wir lernen nur, das tägliche Brot zu teilen, wenn wir bereit sind, Bewußtsein und Handeln in der gesamten Gesellschaft neu auszurichten.49 Eine solche Haltung führt zu wirklicher Demokratie.

Die Demokratie wird gemeinhin als unabdingbares Element für die menschliche Entwicklung anerkannt, weil sie eine verantwortliche Teilnahme an der Verwaltung der Gesellschaft ermöglicht. Demokratie und Entwicklung gehen Hand in Hand; die Anfälligkeit der einen kann die andere gefährden. Wenn das Gleichheitsprinzip sich dem Kräfteverhältnis unterordnen muß, kann das für die Armen heißen, daß sie nur noch das Existenzminimum erhalten. Eine Demokratie wird daran gemessen, wie sie Freiheit und Solidarität miteinander in Einklang bringt, ohne einem absoluten Liberalismus oder einer anderen Lehre das Wort zu reden, die die Bedeutung von Freiheit nicht anerkennt oder die echte Solidarität behindert.50

Gemeinschaftliche Initiativen

34. Eine wachsende Anzahl von Menschen und Gruppen antwortet auf das Elend mit der Teilnahme an gemeinschaftlichen Aktionen. Sie sind es wert, gefördert zu werden. Mehr und mehr Länder unterstützen die Beteiligung der Bevölkerung an diesen Initiativen, aber verschiedene Kräfte versuchen immer noch, sie zu zerstören, weil sie ihnen lästig sind - was zum Teil folgenschwer ist -, obwohl sie doch unerläßliche Grundlage einer echten Entwicklung sind.

Verschiedene Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) im Entwicklungssektor wurden aufgrund örtlicher Initiativen ins Leben gerufen. Sie haben die Entstehung einer neuen volksnahen Bürgerschaft in mehreren Entwicklungsländern gefördert. Diese NRO haben verschiedenste Möglichkeiten der Konzertierung und Unterstützung auf den Weg gebracht. Dank der aktiven Mithilfe des Volkes, die dadurch entstand, konnte eine große Anzahl armer Menschen ihr Elend überwinden und ihre Situation, die von Hunger und Mangelernährung geprägt war, verbessern.

In den letzten Jahren haben Internationale Katholische Verbände und neue Kirchliche Gemeinschaften Initiativen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich verwirklicht. In ihrem Kampf gegen Hunger und Elend sind sie geistige Erben etwa von mittelalterlichen Berufsverbänden, vor allem von den Genossenschaften des 19. Jh. Die Initiatoren, die sich für das Gemeinwohl einsetzten, gründeten Institutionen im Sinne des Evangeliums oder in Anlehnung an soziale Solidarität. Der erste, der die Bedeutung der Hilfe zur Selbsthilfe hervorhob, war der Quäker P.C. Plockboy (+ 1695). Andere Pioniere sind besser bekannt: Felicite Robert de Lamennais (+ 1854), Adolf Kolping (+ 1865), Robert Owen (+ 1858), Baron Wilhelm Emmanuel von Ketteler (+ 1877). Heute entstehen Vereinigungen, die das Gemeinwohl der Gesellschaft anstreben und Egoismus, Hochmut und Habgier, die häufig das Gemeinschaftsleben regieren, zurückdrängen wollen. Die Erfahrungen, die im Laufe der Geschichte gemacht worden sind, und die Ergebnisse dieser neuen Initiativen geben Anlaß zu der Hoffnung, daß in Zukunft ihre Früchte geerntet werden können.51

Zugang zu Krediten

35. »Einer der großen Erfolge der NRO war es, den Armen den Zugang zu Krediten zu ermöglichen«52. Der Zugang von breiteren Bevölkerungsgruppen zu Krediten hat enorm an Bedeutung gewonnen. Er kann einer Selbstversorgungswirtschaft dabei helfen, die Grundlagen für eine echte Volkswirtschaft zu legen. Bislang hat man einen entscheidenden Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht erreichen können, aber man muß berücksichtigen, welche Bedeutung das Phänomen in sich birgt und wohin es führt. Wenn die Gemeinschaftsinitiativen Unterstützung finden und den Partnern vor Ort Vertrauen entgegengebracht wird, dann kann aus einer bloßen Unterstützung langsam die Grundlage einer umfassenden Entwicklung erwachsen.53

Die ausschlaggebende Rolle der Frauen

36. Im Kampf gegen Hunger und für Entwicklung spielen die Frauen eine ausschlaggebende Rolle, die allzuoft noch nicht ausreichend anerkannt und geschätzt wird. Frauen sind eine wesentliche Voraussetzung für das Überleben ganzer Völker, vor allem in Afrika; denn sie produzieren den Hauptteil der Nahrung für die Familien. Sie haben in den Entwicklungsländern die schwere Aufgabe, ihre Familien mit einer gesunden und ausgewogenen Ernährung zu versorgen. Sie sind auch die ersten Opfer von Entscheidungen, die ohne ihr Wissen getroffen werden wie zum Beispiel die Aufgabe der Getreidefelder und der regionalen Märkte, die sie hauptsächlich verwalten. Solche Entscheidungen mißachten die Frau und schaden der Entwicklung. Der Übergang zur Marktwirtschaft und die Einführung neuer Technologien können sich unter solchen Umständen trotz bester Absichten negativ auswirken und die Arbeitsbedingungen der Frauen noch verschlechtern.

Frauen sind von der Mangelernährung in besonderer Weise betroffen: In erster Linie sind sie es, die darunter leiden, und sie geben den Mangel schon in der Schwangerschaft an ihre Kinder weiter. Die gesundheitliche und schulische Zukunft ihrer Kinder ist in Gefahr.

Doch ein noch viel höheres Ziel steht an: Es geht darum, den sozialen Status der Frauen in den armen Ländern zu verbessern, indem man ihnen einen besseren Zugang zu Gesundheit, Bildung und auch zu Krediten ermöglicht. So können die Frauen sich im Einsatz für ein Wachstum der Bevölkerung, für Entwicklung und für wirtschaftlichen und politischen Fortschritt in ihren Ländern verwirklichen.54

Dieser Fortschritt sollte freilich die Rolle des Mannes und der Frau schützen und erhalten, ohne einen Graben zwischen ihnen entstehen zu lassen; ohne die Männer weiblich zu machen oder die Frauen männlich.55 Dennoch darf die wünschenswerte Weiterentwicklung der Situation der Frau nicht auf Kosten der Aufmerksamkeit gehen, die sie dem Leben, das entsteht und sich entfaltet, schenken soll. Einige Entwicklungsländer gehen hier mit ihrem Beispiel voran, indem sie der überzogenen Umgestaltung der weiblichen Empfindsamkeit, wie wir sie zur Zeit im Westen beobachten, einen Riegel vorschieben, ohne dabei die Frau in ihre rechtlose Rolle zurückzudrängen. Hüten wir uns davor, in diesem Bereich wieder den Fehler zu machen, traditionelle Strukturen zugunsten westlicher Modelle aufzugeben, obwohl diese den örtlichen Gegebenheiten überhaupt nicht angepaßt sind bzw. nicht schematisch übertragen werden können.

Integrität und soziales Bewußtsein

37. Die Gesamtheit der sozialen und wirtschaftlichen Kräfte muß mobilisiert werden, eine Entwicklungspolitik auf den Weg zu bringen, die allen Menschen ein Leben in Würde ermöglicht und die geforderten Anstrengungen und Opfer erbringt. Bedingung dafür ist, daß die Verantwortlichen eindeutige Zeichen der Integrität und des Gemeinsinns setzen. Phänomene wie Kapitalflucht, Verschwendung oder Aneignung von Ressourcen zugunsten einer familiären, sozialen, ethnischen oder politischen Minderheit sind weit verbreitet und bekannt. Diese Mißstände werden oft angeprangert, aber keiner der Schuldigen wird unmißverständlich dazu aufgefordert, dieses schädliche Tun, das auf Kosten der Armen geht, zu unterlassen, obwohl es unglaubliche Ausmaße angenommen hat.56

Gerade die Korruption57 stellt häufig ein Hindernis für notwendige Reformen zur Förderung von Gemeinwohl und Gerechtigkeit - zwei Seiten derselben Medaille - dar. Die Gründe für Korruption sind vielfältig; aber immer stellt sie einen schweren Vertrauensmißbrauch dar, begangen von einer Person, die von der Gesellschaft beauftragt wurde, sie zu vertreten und die statt dessen diese sozialen Befugnisse für persönliche Vorteile mißbraucht. Die Korruption erweist sich als ein Mechanismus, der aus den »Strukturen der Sünde« erwächst, und der Preis, den unsere Welt dafür zahlen muß, ist weitaus höher als die Gesamtsumme der unterschlagenen Gelder.

III. Für eine solidarischere Wirtschaft

Dem einzelnen Menschen und der ganzen Menschheit besser dienen

38. Wachsender Wohlstand ist für die Entwicklung notwendig, aber die makroökonomischen Reformen, die immer mit einer Begrenzung der Einkommen einhergehen, können scheitern, wenn die Strukturreformen - vor allem im staatlichen Sektor - nicht mit der nötigen politischen Entschlossenheit verwirklicht werden: Reform der Rolle des Staates, Abbau der Hindernisse im politischen und sozialen Bereich. Ansonsten wird unnötigem Leid und einem schnellen Scheitern Vorschub geleistet. Diese anspruchsvollen, manchmal sogar äußerst brutalen Reformen werden immer von Hilfen der internationalen Gemeinschaft begleitet, die Druck auf die politisch Verantwortlichen ausübt - oft auf deren Wunsch hin, damit dem Land vor Augen tritt, welche Entscheidungen nötig sind, Entscheidungen, die die Industrieländer seit den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr zu treffen hatten.

Es ist Aufgabe der internationalen Institutionen, Vorkehrungen zu treffen, um das Leiden derer abzumildern, die von den Neuerungen am meisten betroffen werden. Diese flankierenden Maßnahmen müssen in die von den Regierungen ausgearbeiteten Pläne integriert werden. Dabei ist auf deren Ratschläge zu hören. Die Internationalen Organisationen sollten gleichfalls das Vertrauen in die Regierung des Landes fördern, damit diese in Zeiten der Reformen die nötige finanzielle Unterstützung von staatlicher oder privater Seite erhält. Sie müssen ebenfalls auf die Regierung Druck ausüben, alle sozialen Gruppen an der gemeinsamen Anstrengung mitwirken zu lassen. Sonst wird kein höheres Gemeinwohl und keine soziale Gerechtigkeit erreicht, die unter solchen Gegebenheiten so schwer zu erhalten ist, gerade weil sie in den Kinderschuhen steckt.

Das Personal der internationalen Institutionen muß unabdingbar über technisches Know-how verfügen, was glücklicherweise im allgemeinen der Fall ist, aber auch über Einfühlungsvermögen, das nicht durch bürokratische Regelungen oder eine rein wirtschaftliche Ausbildung erlernt werden kann. Gerade hier verdienen die Armen besonders aufmerksames Gehör. Es geht darum, konkrete Maßnahmen im Einklang mit den NRO und den Katholischen Verbänden sowie im Dialog mit den Ärmsten zu treffen. Die Bedeutung dieses Aspekts kann nicht oft genug betont werden. National und international Verantwortliche neigen dazu, dies zu vergessen, da allein der technische Aspekt schon enorme Probleme mit sich bringt.

Alle nationalen und internationalen Organisationen, die ständig mit entwicklungsschwachen Ländern im Dialog stehen, müssen persönliche und informelle Kommunikation ermöglichen zwischen den örtlichen Helfern und denen, die im technischen Bereich die Linien der Reformen vorgeben. Hierbei ist das gegenseitige Vertrauen derer, die gemeinsam den Menschen, jedem einzelnen Menschen dienen, von großer Wichtigkeit, damit Ökonomismus oder Ideologie vermieden werden.

Das Handeln aller in Einklang bringen

39. Die reichsten Länder des Westens tragen besondere Verantwortung bei der Reform der Weltwirtschaft. In letzter Zeit haben sie die Beziehungen zu den Ländern ausgebaut, die erste wirtschaftliche Erfolge verzeichnen und damit wirklich »Entwicklungs«länder sind und auch zu den Ländern Osteuropas, die ihnen - geographisch gesehen - näher stehen und deren weitere Entwicklung bedrohlich werden könnte.

In den reichen Ländern selbst gibt es genug wirtschaftlich Arme und schwierige Reformen, die im Land selbst durchgesetzt werden müssen. Daher liegt die Versuchung nahe, die Armen in den Entwicklungsländern an die zweite Stelle zu setzen. »Wir sind nicht für das Elend der ganzen Welt verantwortlich«, lautet eine Aussage, die in den reichen Ländern immer wieder zu hören ist.

Eine solche Haltung ist verwerflich und hätte, würde sie von vielen eingenommen, schlimme Folgen. Alle Menschen, wo sie auch leben, vor allem diejenigen, die über wirtschaftliche Mittel verfügen und Einfluß haben, müssen sich immer vom Elend der Ärmsten in Frage stellen lassen und deren Interessen in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Dieser Appell ergeht an alle wirtschaftlichen und politischen Führungskräfte.

Er richtet sich auch an all diejenigen, die in den verschiedenen Ländern oder auf internationaler Ebene der Entwicklung des Gemeinwohls im Wege stehen, weil sie nur ihre eigenen Interessen - so legitim sie auch seien - verfolgen. Die Wahrung dieser erworbenen Rechte in einem Land kann zur Folge haben, daß der Hunger irgendwo in der Welt zunimmt, ohne daß man eine konkrete Verbindung zwischen Ursache und Opfer herstellen könnte. Daher ist es einfach, den Zusammenhang zu leugnen. Konservatives Denken in anderen Bereichen und an anderen Orten kann ähnliche Folgen haben.

Die Reform des Welthandels schreitet voran und ist weiterhin wünschenswert. Sie betrifft vor allem die Armen der reichen Länder. Deshalb ist es äußerst wichtig, daß hinter diesem Ziel die Ärmsten der armen Länder nicht zurücktreten müssen - diejenigen, die keine Stimme haben, die sie international zu Gehör bringen könnten. Sie müssen ins Zentrum internationaler Anliegen treten und gleichrangig neben die anderen Anliegen gestellt werden. Begrüßenswert ist sicherlich, daß die Weltbank seit einigen Jahren das Ziel verfolgt, »das Elend auszutilgen«.

Die Verantwortlichen in den Entwicklungsländern dürfen nicht auf eine eventuelle internationale Reform warten, bevor sie in ihrem Land die nötigen Reformen - sie sind oftmals deutlich zu benennen - für einen wirtschaftlichen Aufschwung unternehmen. Dieser Aufschwung hängt nicht von besonders hohen Einnahmen ab, sondern von einer mutigen und konsequenten Anwendung einfacher Regeln: Sie erlauben es denen, die in der Lage sind, sinnvolle Initiativen ins Werk zu setzen und einen Teil des Ertrags zu behalten. Und sie verbieten denen, die dazu nicht in der Lage sind, die nationalen Ressourcen auszubeuten und eine unangemessene Belohnung einzustecken. Die Völker müssen überzeugt sein, »daß bei diesem wirtschaftlichen Fortschritt und sozialen Aufstieg ihnen selbst die erste Verantwortung zukommt und daß sie dabei die Hauptarbeit zu leisten haben«58. Wie schon erwähnt, muß ein klares Signal für eine verantwortungsbewußte und mutige Haltung zum Dienst an der Gemeinschaft des Landes von den Regierungen und Institutionen ausgehen, die mit den Entwicklungsländern zusammenarbeiten.

Der politische Wille der Industrieländer

40. Die staatlichen Organe der reichen Länder müssen darauf hinwirken, daß die öffentliche Meinung für die Not der Armen - ob nah oder fern - sensibilisiert wird. Ihre Aufgabe ist es auch, Initiativen internationaler Institutionen so gut wie möglich zu unterstützen, wenn diese darauf abzielen, das Leiden zu mildern. Sie sollten ihnen helfen, sofort Maßnahmen zu treffen, die den Hunger in der Welt langfristig lindern können. Das fordert die Kirche mit Nachdruck seit mehr als hundert Jahren: Sie verlangt, daß die Rechte der Schwächsten durch das Eingreifen staatlicher Instanzen geschützt werden.59

Bei der Sensibilisierung und Mobilisierung der Weltgemeinschaft, vor allem was die ethische Dimension der Herausforderung betrifft, helfen wertvolle und aussagegewichtige Texte beispielsweise des Wirtschaftsund Sozialrates (vor allem der Kommission der Menschenrechte), der UNICEF oder der FAO, deren Arbeiten wir hier erwähnen wollen; denn die bereits erwähnte Konvergenz zwischen kirchlicher Lehre und Bemühungen der Weltgemeinschaft um wachsende Mobilisierung zeigt sich sehr deutlich in folgenden Texten: Charta der Bauern in Internationale Erklärung zur Agrarreform und ländlichen Entwicklung (1979),60 Weltpakt für Ernährungssicherheit (1985)61 Welternährungserklärung und Aktionsplan, verabschiedet von der Welternährungskonferenz (1992);62 nicht zu vergessen einige Verhaltenskodizes oder internationale Verpflichtungen - politisch oder moralisch bindend - über Pestizide, pflanzengentechnische Ressourcen usw. Zu unterstreichen ist hier, daß die Weltbank sich diese ethischen Standpunkte unlängst zu eigen gemacht hat.63

Menschliche Entwicklung entsteht nicht durch wirtschaftliche Mechanismen, die automatisch funktionieren und die es einfach aufrechtzuerhalten gilt. Die Wirtschaft wird menschlicher, wenn in allen Bereichen Reformen durchgeführt werden, die sich vom bestmöglichen Dienst am Gemeinwohl leiten lassen, d.h. von einer ethischen Sichtweise, die auf dem unermeßlichen Wert jedes einzelnen Menschen und aller Menschen gründet; eine Wirtschaft, die sich inspirieren läßt von der »Notwendigkeit, die Beziehungen zwischen den Völkern auf der Basis eines konstanten Austauschs der Gaben aufzubauen, einer wahren Kultur des Schenkens, die jedes Land für die Bedürfnisse der Benachteiligten vorbereiten sollte«64.

Die Austauschverhältnisse gerecht festlegen

41. Ein funktionierender Markt, der Entwicklung fördert, benötigt vernünftige Regelungen; er hat seine eigene Gesetzlichkeit, die die Entscheidungsfähigkeit der Teilnehmer überfordert, sobald diese eine gewisse Anzahl übersteigen und voneinander abhängig sind. Im Fall der Rohstoffmärkte etwa besteht die Spannung zwischen Regelung und Eigengesetzlichkeit fort - trotz beachtlicher Bemühungen der Regierungen und internationaler Organisationen wie der UNCTAD (Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen) und verschiedener Unternehmer aus dem Privatsektor. Es ist eben aus politischen wie humanitären Gründen nicht möglich, sich von einem Preisniveau loszukoppeln, das aus dem blinden Funktionieren der Märkte entsteht. Man muß in jedem Fall dafür sorgen, daß nicht versucht wird, diese Märkte zu manipulieren.

Darüber hinaus sollen die Importländer für den Abbau von Barrieren sorgen bzw. dafür, daß keine neuen entstehen, die selektiv potentielle Importe behindern, die aus solchen Ländern kommen, in denen ein Großteil der Bevölkerung Hunger leidet. Die Importländer müssen darauf achten, daß die Gewinne derartiger Handelsgeschäfte zum Großteil den Ärmsten zugute kommen - eine nicht einfache Angelegenheit, die Mut und Präzision im Handeln erfordert.

Das Schuldenproblem lösen

42. Wie weiter oben schon erwähnt, wird die Schuldenlast sei 1985 von der Weltgemeinschaft verwaltet. Wichtigstes Anliegen ist es, das Finanzsystem, das die Finanzinstitutionen aller Länder verbindet, aufrechtzuerhalten. Dieses System hat in verschiedenen Ländern und im Laufe verschiedener Krisen dazu geführt, daß die Schulden sich auf einem bestimmten Niveau eingependelt haben und die Gläubiger eines Landes alle auf der gleichen Stufe stehen. Diese Situation hat nichts mit Recht oder sozialer Gerechtigkeit zu tun. Im Gegenzug dazu haben alle Kreditgeber einen gewissen Teil ihrer Forderungen aufgeben müssen, je nach Schuldensituation. Dies erfordert sehr viel Wachsamkeit und Gerechtigkeitssinn, damit die mutigsten und tüchtigsten Reformländer nicht gegenüber anderen benachteiligt werden.

Natürlich muß der Schuldenberg noch weiter abgetragen werden. Aber die Verringerung der Schulden muß um der Gerechtigkeit willen mit Reformen in allen Ländern einhergehen, damit sie nicht Opfer neuer Ungleichgewichte werden, nachdem sie die Ursachen, die sie in die Schuldenkrise geführt hat, schon vergessen haben: defizitärer Staatshaushalt, nicht sinnvoll eingesetzte öffentliche Finanzmittel, private Entwicklung ohne wirtschaftliche Interessen, übersteigerte Konkurrenz zwischen Kreditgeberländern und Exportländern, die unnötige oder sogar schädliche Verkäufe fördern. Wichtig ist es zu erkennen, daß eine Verbesserung der Lage eines Entwicklungslandes nur möglich ist, wenn der soziale und politisch-institutionelle Rahmen stabiler gemacht wird.

Die staatliche Entwicklungshilfe aufstocken

43. Ziel des UNCTAD-Projekts für das zweite Entwicklungsjahrzehnt war es, die Entwicklungshilfe auf 0,7% des BIP der Industrieländer anzuheben. Nur einige Länder haben dieses Ziel erreicht;65 auf dem »Gipfel« von Kopenhagen wurde es dennoch nochmals verkündet.66 Im Durchschnitt beträgt die Entwicklungshilfe zur Zeit 0,33%; das ist noch nicht einmal die Hälfte des angestrebten Betrags!

Daß einige Länder ihr Versprechen einlösen, andere aber nicht, zeigt, daß Solidarität das Ergebnis der Entschlossenheit von Völkern und Staaten ist und nicht von technischen Automatismen. Es ist auch wichtig, daß ein größerer Teil dieser Hilfe für die Unterstützung von Projekten aufgewendet wird, an deren Entwicklung die Armen selbst mitarbeiten. Da die politisch Verantwortlichen in einer Demokratie von der öffentlichen Meinung abhängig sind, stehen in der Entwicklungshilfe verstärkt Bemühungen der Bewußtseinsbildung an. »Alle tragen wir gemeinschaftlich Verantwortung für die unterernährten Bevölkerungen. Daher heißt es, das Bewußtsein erziehen zum Gefühl der Verantwortung, die auf allen und jedem, besonders auf den Wohlhabenden lastet«67.

Die staatliche Hilfe stellt die Geber- wie auch die Empfängerländer vor vielfältige ethische Probleme. Die Rechtfertigung neuer Geldströme ist überall ein Problem; ethische Fehler können Interessengruppen in den Exportländern mehr oder weniger offiziell Vorteile bringen. So werden Machtsituationen festgeschrieben, die als »Strukturen der Sünde« zu bezeichnen sind und die einer Klientelwirtschaft von allen Seiten Vorschub leisten.

Diese wirkungsvollen Mechanismen verhindern wirkliche Reformen und eine Förderung des Gemeinwohls. Die Auswirkungen können bedrohlich sein und zu Unruhen oder Stammesfehden in einem Land führen, das besonders anfällig dafür ist.

Der Kampf gegen die »Strukturen der Sünde« bedeutet anderseits eine große Hoffnung für die ärmsten Länder.

Die Hilfe neu überdenken

44. Es geht für die Industrieländer nicht nur darum, ihre Entwicklungshilfe aufzustocken, sondern auch darum, über ihre Verwendung nachzudenken. Die »gebundene Hilfe« wird kritisiert, wenn die Hilfe an Bedingungen geknüpft ist, die das Geberland betreffen: Kauf von Fertigprodukten des Geberlandes, Anstellung von Fachkräften des Geberlandes statt der örtlichen Kräfte, Einklang mit den Strukturanpassungprogrammen usw. Demgegenüber kann eine Hilfe, die nicht an solche Bedingungen geknüpft ist, bessere Ergebnisse erzielen, was vielfach bewiesen werden konnte. Dennoch sollte die Idee der »gebundenen Hilfe« nicht a priori ausgeschlossen werden, vor allem, wenn sie auf einen gerechten Interessenausgleich abzielt und einen vernünftigen Einsatz der zur Verfügung stehenden Mittel ermöglicht.

Nothilfe: eine Übergangslösung

45. Die Nothilfe (in Form von Nahrungsmitteln) sollte einmal näher betrachtet werden: Sie wird sehr uneinheitlich bewertet, vor allem, weil sie nicht die Wurzel des Hungers beseitigt. Manchen ist sie ein Hebel für eine gute Entwicklung, anderen wiederum eine Handelswaffe. Kritisiert wird unter anderem, daß sie den Landwirten vor Ort keine Chance läßt; daß sie die Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung ändert; daß sie als Mittel politischen Drucks benutzt wird, da sie in die Abhängigkeit führt; daß sie zu spät greift; daß sie geradezu eine Mentalität der Abhängigkeit schafft und nur den Vermittlern zugute kommt; daß sie die Korruption fördert und teilweise noch nicht einmal bis zu den Ärmsten vordringt. In einigen Ländern wird die Nothilfe - oft zu recht - permanent, und sie wird zu einer strukturellen Hilfe: Sie senkt in der Handelsbilanz das staatliche Defizit. Sie kann also eine Art begleitende Maßnahme sein, wenn Strukturanpassungsmaßnahmen stocken und die Subventionen für Grundnahrungsmittel abgeschafft werden.

Die Nothilfe muß eine Übergangshilfe bleiben; ihr Ziel ist es, eine Bevölkerung in einer Krisensituation vor dem Verhungern zu bewahren. Als humanitäre Hilfe kann man sie nur bejahen. Nur die Mißbräuche rufen Kritik hervor. Oft erreicht etwa die Hilfe die Bevölkerung zu spät, oder sie entspricht nicht deren echten Bedürfnissen; die Verteilung wird schlecht organisiert; politische oder ethnische Faktoren oder Klientelwirtschaft leiten sie fehl. Diebstähle und Korruption führen dazu, daß die Nahrungsmittel nicht bis zu den Ärmsten kommen. Nothilfe ist eher eine dauerhafte strukturelle Hilfe, die von den einen als Hebel für Entwicklung und von den anderen als Handelswaffe, als Destabilisierungsfaktor für die Produktion und die Nahrungsgewohnheiten, als Ursache für Abhängigkeit gesehen wird. Tatsächlich kann sie gute wie schlechte Folgen haben. Zunächst einmal rettet sie ganze Bevölkerungsgruppen vor dem Hungertod. Darüber hinaus dürfen aber auch andere positive Aspekte nicht vergessen werden, z.B. Infrastrukturprojekte, die sie ermöglicht; Dreiecksgeschäfte; die Schaffung von Reserven im Entwicklungsland. Auch wenn es sich um ein zweischneidiges Schwert handelt, kann nicht darauf verzichtet werden.

Einvernehmen in der Hilfsleistung

46. Trotz der Kritik, die die Nothilfe hervorruft, erscheint ihre Verbesserung im Einvernehmen mit den Partnern auf den verschiedenen Ebenen möglich: Staaten, örtliche Behörden, NRO, kirchliche Vereinigungen. Die Hilfe könnte zeitlich begrenzt und sehr viel besser auf die Bevölkerung abgestimmt werden, die tatsächlich unter Nahrungsmangel leidet. Wenn es möglich ist, sollte die Nahrungsmittelhilfe Produkte enthalten, die aus dem Land selbst stammen. Auf jeden Fall sollte die Nothilfe dazu beitragen, die Bevölkerung aus ihrer Abhängigkeit zu reißen. Daher sind eine ausreichende Infrastruktur und Verteilungsmechanismen vor Ort vonnöten. Daneben muß die Hilfe immer von einem Projekt begleitet werden, dessen Ziel es ist, die Bevölkerung vor zukünftigen Hungersnöten zu bewahren. Demnach kann diese Form von Hilfe unter bestimmten Umständen als deutliches Zeichen einer internationalen Solidarität gewertet werden. »Diese Art von Versorgung bringt keine befriedigende Lösung, solange Situationen extremer Armut weiter bestehen und sich sogar noch vertiefen können, Situationen, die durch Unterernährung und Hunger zu höheren Sterberaten führen«68.

Ernährungssicherheit: eine dauerhafte Lösung

47. »Das Problem des Hungers kann ohne eine Verbesserung der Ernährungssicherheit vor Ort nicht gelöst werden«69. Ernährungssicherheit besteht, wenn »alle Bewohner jederzeit Zugang zu den Lebensmitteln haben, die notwendig sind, um ein gesundes und aktives Leben zu führen«70. Hierfür ist es wichtig, Programme zu entwickeln, die der Produktion vor Ort Vorrang einräumen, eine wirksame Gesetzgebung, die die Anbauflächen schützt und der Bevölkerung Zugang zu diesen Anbauflächen zusichert. Eine Anzahl von Hindernissen hat bislang der Verwirklichung dieser Punkte in den Entwicklungsländern entgegengestanden. Es wird für die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen in den Entwicklungsländern immer schwieriger und komplexer, Landwirtschaftspolitik zu definieren. Zu den zahlreichen Gründen für diese Situation gehört die Schwankung der Preise und der Währungen, die auch durch die Überproduktion landwirtschaftlicher Produkte hervorgerufen wird. Um Ernährungsicherheit zu gewähren, müssen Stabilität und Gerechtigkeit im Welthandel gefördert werden.71

Vorrang für die Produktion vor Ort

48. Daß die Landwirtschaft im Entwicklungsprozeß eine besonders wichtige Rolle spielt, wird allgemein anerkannt. Ungeachtet der internationalen Handelskonjunktur könnten die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit, aber auch die Ernährungssituation im Entwicklungsland großen Nutzen ziehen aus der Einrichtung von landwirtschaftlichen Systemen, die zwar nach außen offen sind, aber dennoch ihre interne Entwicklung vorrangig fördern. Hierzu ist ein wirtschaftliches und soziales Umfeld nötig, das auf einer besseren Kenntnis und einer besseren Verwaltung der landwirtschaftlichen Märkte vor Ort basiert; weiterhin die Förderung von Krediten für ländliche Entwicklung und technische Ausbildung; Rentabilität durch garantierte Preise vor Ort; eine echte Abstimmung zwischen den Entwicklungsländern; eine Zusammenarbeit der Bauern selbst und eine gemeinsame Vertretung ihrer Interessen. Diese Aufgaben erfordern Kompetenz und Willenskraft.

Die Bedeutung der Agrarreform

49. Die Lebensmittelproduktion vor Ort wird oft durch eine falsche Verteilung der Böden und durch ihre unvernünftige Nutzung behindert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den Entwicklungsländern besitzt keine Böden, und dieser Anteil steigt ständig.72 Auch wenn in allen Entwicklungsländern Agrarreformen laufen, so werden doch die wenigsten konsequent umgesetzt. Darüber hinaus sind die Böden, die von internationalen Nahrungsmittelkonzernen verwaltet werden, fast ausschließlich für die Ernährung der Bevölkerung auf der nördlichen Halbkugel genutzt, und die Art und Weise der Nutzung dieser landwirtschaftlichen Anbauflächen ermüdet die Böden. Eine »mutige Strukturreform und neue Muster für die Beziehung zwischen den Staaten und den Völkern«73 sind dringend erforderlich.

Die Rolle von Forschung und Erziehung

50. Die Aufgaben der Verantwortlichen im politischen und finanziellen Bereich sind gewiß von hohem Rang. Und doch ist bei einer so gewichtigen Herausforderung wie der des Hungers, der Mangelernährung und der Armut jeder Mensch dazu aufgerufen, sich zu fragen, was er tut oder tun könnte. Wir brauchen

- die Unterstützung der Wissenschaft: die intelektuelle Elite muß ihr Wissen und ihren Einfluß zur Lösung des Problems mobilisieren. Forschungsarbeiten in der Biotechnologie beispielsweise können dazu beitragen, die Ernährungssicherheit, die Gesundheitsfürsorge und die Energieversorgung weltweit - im Norden wie im Süden - zu verbessern. Die Geisteswissenschaften sollten durch ein besseres Verständnis und eine gerechtere Interpretation der Organisation im sozialen Bereich die Unausgewogenheiten des herrschenden Systems und seine negativen Folgen verdeutlichen und so dazu beitragen, sie zu beheben. Sie können auch neue Wege für eine Solidarität zwischen den Völkern suchen und beschreiben;

- die Sensibilisierung von Menschen und Völkern: Gewinnen für die Nächstenliebe ist Aufgabe von Eltern, Erziehern, politisch Verantwortlichen - egal welcher Ebene - und Medienexperten; letztere haben eine besonders wichtige Aufgabe bei der Bewußtseinsbildung;

- eine Entwicklung, die diesen Namen verdient, in allen Ländern: Es sollte eine Erziehung gefördert werden, die nicht nur die nötigen Elemente für die Kommunikation, für die persönliche oder gemeinnützige Arbeit liefert, sondern die auch den Grundstein für ein sittliches Bewußtsein legt. Die Trennung von Erziehung und Entwicklung muß entfallen. Beide Ziele sind voneinander abhängig und derart miteinander verknüpft, daß es wichtig ist, sie gleichzeitig zu verfolgen, will man nachhaltige Ergebnisse erzielen. Aus solidarischer Pflicht ist daran mitzuarbeiten, »daß möglichst bald alle Menschen auf der ganzen Welt in den Genuß einer angemessenen Erziehung und Bildung gelangen können«74.

Die internationalen Organisationen:
Internationale Katholische Verbände, Internationale Katholische Organisationen,
Nicht-Regierungs-Organisationen und ihre Netzwerke

51. Seit einigen Jahrzehnten sind Verbände und Organisationen zum Teil aus freier Initiative gegründet - zu den bestehenden Hilfswerken hinzugekommen und dienen Menschen und Bevölkerungsgruppen in Schwierigkeiten. Diese internationalen Organisationen und Verbände sind oft unter folgenden Bezeichnungen bekannt: Internationale Katholische Verbände, Internationale Katholische Organisationen (IKO) und Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO). Diese Organisationen und Verbände sind für ihre vielfältigen Aktivitäten bekannt: Sie haben sich in der Förderung der ganzheitlichen Entwicklung der Armen und bei der Behebung von Notsituationen (z.B. Hungersnöte) bewährt. Sie machen auf verzweifeltes Elend aufmerksam, mobilisieren private und öffentliche Mittel und organisieren die konkrete Linderung vor Ort. Die meisten von ihnen haben im Laufe der Jahre den Kampf gegen den Hunger durch eine langfristige Arbeit für lokale Entwicklung ergänzt. Sie konnten sichtbare Erfolge verzeichnen, vor allem in Aktionen, die neue selbständige Initiativen ermöglichen oder in Projekten, die die Rolle der Institutionen und Gebietskörperschaften stärken.

Die Katholische Kirche hat seit jeher (lange bevor die NRO gegründet worden sind) diese Kräfte durch pfarrliche, diözesane, nationale, internationale Verbände und andere nahestehende Organisationen75 unterstützt und gefördert.

Wir möchten bei dieser Gelegenheit der Arbeit der internationalen Einrichtungen in ihrer Gesamtheit unsere Anerkennung aussprechen, gleich ob sie christlicher Natur76 sind oder nicht.

Der doppelte Auftrag Internationaler Organisationen

52. Der Auftrag internationaler Organisationen ist zweifacher Art: Sensibilisierung und konkretes Handeln. Diese beiden Aspekte sind unzertrennlich miteinander verbunden. Die Sensibilisierung aller für die Wirklichkeit und die Ursachen der unzureichenden Entwicklung ist von entscheidender Bedeutung. Von ihr hängt einerseits direkt die unerläßliche Sammlung privater Mittel und andererseits ein wachsendes Problembewußtsein in der Bevölkerung ab.

Die Bildung einer tragfähigen Zustimmung in der Bevölkerung ist für eine Aufstockung der staatlichen Entwicklungshilfe und für die Überwindung der »Strukturen der Sünde« unabdingbar.

Solidarische Partnerschaft

53. Internationale Organisationen müssen echte Partnerschaft mit den Gruppen leben, denen sie Hilfe bringen. So entsteht eine Solidarität mit geschwisterlichem Gesicht, im Dialog, in gegenseitigem Vertrauen, in respektvollem Zuhören.

Im sensiblen Bereich der Partnerschaft hat Papst Johannes Paul II. ein Zeichen gesetzt, das sein besonderes Anliegen zum Ausdruck bringt: Die Stiftung »Johannes Paul II. für die Sahelzone«, deren erklärtes Ziel der Kampf gegen die Versteppung in den Ländern südlich der Sahara ist sowie die Stiftung »Populorum Progressio«, die sich für die Ärmsten in Lateinamerika einsetzt und deren Arbeit von den Kirchen vor Ort in den betroffenen Regionen durchgeführt wird.77

IV. Das Jubeljahr 2000

Eine Etappe im Kampf gegen den Hunger

Die Jubeljahre: Gott geben, was Gottes ist

54. In seinem Apostolischen Schreiben Tertio millennio adveniente, das aus Anlaß des zweitausendsten Jahrestages der Geburt Christi verfaßt wurde, erinnert Papst Johannes Paul II. an die alte Tradition der Jubelfeste im Alten Testament, deren Wurzeln in der Tradition des Sabbatjahres liegen. Das Sabbatjahr war eine Zeit, die man in besonderem Maße Gott widmete. Gemäß dem Gesetz des Mose wurde das Sabbatjahr alle sieben Jahre gefeiert. In diesem Jahr ließ man die Erde ruhen, befreite Sklaven und erließ Schulden. Das Jubeljahr kehrte alle fünfzig Jahre wieder, und es weitete die Vorschriften des Sabbatjahres noch aus: Der israelitische Sklave wurde nicht nur befreit, sondern er gelangte auch wieder in den Besitz des Landes seiner Väter. »Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig, und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder soll zu seiner Sippe heimkehren« (Lev 25,10).

Folgender theologischer Hintergrund stand hinter dieser Umverteilung: »Er konnte nicht endgültig des Landes beraubt werden, da es Gott gehörte, noch konnten die Israeliten für immer in einem Zustand der Knechtschaft verbleiben, da Gott sie mit ihrer Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten für sich als Alleineigentum ,losgekauft' hatte«78.

Hier wird die Forderung nach der universalen Bestimmung der Güter hörbar. Die soziale Hypothek, die mit dem Recht auf Privateigentum in Zusammenhang steht, kam regelmäßig als öffentlich gültiges Gesetz zum Ausdruck, um das individuelle Fehlverhalten anzuprangern, das sich einer Beseitigung dieser Hypothek verwehrte: Grenzenlose Verlockung des Geldes, zweifelhafte Profite und andere Praktiken derer, die Eigentum und Vermögen besaßen und die bestritten, daß die geschaffenen Güter auf alle gerecht zu verteilen sind.

Dieser öffentlich-rechtliche Rahmen der Jubelfeste und Jubeljahre, der später auf der Grundlage des Neuen Testaments erweitert wurde, war so etwas wie der Grundstein der Kirchlichen Soziallehre. Sicherlich ist wenig vom sozialen Ideal der Jubeljahre konkrete Wirklichkeit geworden. Dazu bedürfte es einer Regierung, die in der Lage ist, die Gebote der Vergangenheit durchzusetzen und deren Ziel es ist, eine gewisse soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Die soziale Autorität der Kirche, die sich vor allem ab dem 19. Jahrhundert entwickelt hat, formulierte diese Gebote als Ausnahmeprinzip, dessen Verwirklichung hauptsächlich Aufgabe des Staates ist und das darauf zielt, jeden an den Gütern der Schöpfung teilhaben zu lassen. Dieses Prinzip wird regelmäßig dem in Erinnerung gerufen und vorgeschlagen, der ein offenes Ohr dafür hat.

»Vorsehung« seiner Brüder werden

55. Die Feier der Jubelfeste erinnert an die Göttliche Vorsehung und die Heilsgeschichte.79 In solcher Sichtweise sind die Hungersnöte und die Mangelernährung eine Folge der menschlichen Sünde, die schon in den ersten Versen des Buches Genesis anklingt: »Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er entgegnete: Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders? Der Herr sprach: Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. So bist du verflucht, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruder aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bestellst, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein« (Gen 4,9-12).

Das hier gezeichnete Bild verdeutlicht mit großer Klarheit die Beziehung zwischen der Achtung der menschlichen Würde und der Fruchtbarkeit des ökologischen Reservoirs, das verschmutzt und zerbrochen ist. Diese Beziehung zieht sich durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch und erhellt den theologischen Hintergrund für die Analyse der obigen Kausalitätsbeziehungen zwischen Hunger und Mangelernährung. Offensichtlich werden die Unwägbarkeiten der Natur, die sich oft so negativ auswirken, durch den unersättlichen Hunger nach Macht und Profit und die daraus entstehenden »Strukturen der Sünde« verstärkt. Der Mensch, der sich von seiner geschöpflichen Bestimmung abwendet, sieht sich selbst, seine Mitmenschen und seine Zukunft in verkürzter Optik. Gott rüttelt ihn aus seiner Selbstsucht auf: »Wo ist dein Bruder? Was hast du getan

Würde des Menschen und Fruchtbarkeit seiner Arbeit

56. Gott will dennoch den Menschen die Schöpfung wieder anvertrauen und ihnen - um Christi, des Erlösers willen - bei der Fruchtbarmachung und Bewahrung des Gartens helfen; er widersetzt sich dem Raubbau und dem Ausschluß von irgend jemandem (vgl. Gen 2,15-17). Für die Kirche steht in dieser Situation jede Bemühung um die Wiederherstellung der menschlichen Würde und der Harmonie zwischen dem Menschen und der ganzen Schöpfung in engem Zusammenhang mit dem Geheimnis der Erlösung durch Christus, symbolisch dargestellt durch den Baum des Lebens im Garten Eden (vgl. Gen 2,9). Sobald der Mensch sich auf dieses Geheimnis einläßt, wird die Rastlosigkeit, der er unterworfen war, zu einer Pilgerfahrt; Orte und Menschen, denen er im Glauben begegnet, lehren ihn eine wahrhaftige Beziehung zu Gott, zu seinesgleichen und zur gesamten Schöpfung. Er weiß, daß eine solche Annahme durch Gott aus Glauben und Gottvertrauen entsteht und bleibt; er weiß auch, daß sie sich oft im Menschen mit einem armen Herzen zeigt. Er nimmt erneut an der Vollendung der Schöpfung teil, die durch die Erbsünde gefallen war: »Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes ... Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes« (Röm 8,19 und 21).

Hier zeigt sich der Sinn der menschlichen Wirtschaft in seiner ganzen Fülle: Sie ist die Möglichkeit für den Menschen, für alle Menschen, die Erde zu bebauen und zu bewohnen, »auf der der wachsende Leib der neuen Menschenfamilie eine umrißhafte Vorstellung von der künftigen Welt geben kann ...«80. Die Dynamik dieser fortlaufenden Wirtschaft schließt ein, daß auf diesem Weg Gottes Heil in uns »Fleisch wird«. Wenn wir uns ihr schrittweise und bedingungslos ausliefern, bringt sie uns zur Kirche, dem Volk der Pilger auf dem Weg, und führt uns mit all ihren Gliedern zum Reiche Gottes. Es obliegt jedem einzelnen Getauften eben die Fruchtbarkeit zu offenbaren, die der Kirche anvertraut ist und die die Fruchtbarkeit der ganzen Schöpfung wiederherstellen soll. Wir sind dazu aufgerufen, uns von Gott persönlich ansprechen zu lassen, eine kritische Haltung gegenüber den herrschenden Modellen einzunehmen und der Logik der »Strukturen der Sünde« zu widerstehen, die das menschliche Wirtschaften schwächen.

Hier ruft die Kirche alle Menschen auf, ihr Wissen, ihr Können und ihre Erfahrung einzusetzen, jeder nach den Gaben, die er erhalten hat und gemäß seiner Berufung. Gaben und Berufung, die jedem eigen sind, werden übrigens wunderbar durch die drei Gleichnisse zum Ausdruck gebracht, die dem Gleichnis vom Jüngsten Gericht (vgl. Mt 24,45-51 und 25,1-46) vorausgehen: die Gleichnisse vom ungetreuen Verwalter, von den zehn Jungfrauen und von den Talenten. Die Berufungen der Menschen sind vielfältig, ergänzen sich, und die Geistesgaben leiten die Antwort der Liebe des Menschen, der aufgerufen ist, »Vorsehung« seiner Brüder zu sein: »eine weise und intelligente Vorsehung, die die Entwicklung des Menschen und der Welt auf den Weg der Übereinstimmung mit dem Willen des Schöpfers führt zum Wohlergehen der Menschheitsfamilie und zur Erfüllung der einem jeden geschenkten transzendenten Berufung«81.

Fehlende Gerechtigkeit schädigt die Wirtschaft

57. Das Apostolische Schreiben Tertio millennio adveniente schlägt ganz konkrete Initiativen zur aktiven Förderung der sozialen Gerechtigkeit vor.82 Es ermuntert zur Suche weiterer Antworten auf das Problem des Hungers und der Mangelernährung, die im Jubeljahr zum Tragen kommen könnten.

Die Feier des Jubeljahres ist besonders im wirtschaftlichen Bereich von großer Wichtigkeit: Läßt man die Wirtschaft gewähren, so wird sie kraftlos, denn sie sucht nicht mehr nach Gerechtigkeit. Jede Wirtschaftskrise mit ihrem Höhepunkt, der Nahrungsmittelknappheit, ist nichts anderes als eine Gerechtigkeitskrise, ein Mangel an Gerechtigkeit.83 Das auserwählte Volk im Alten Testament hat schon darum gewußt, und heute müssen wir seine Erfahrung aktualisieren. Solche Krisen müssen im Zusammenhang mit dem freien Markt analysiert werden: »Sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene scheint der freie Markt das wirksamste Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse zu sein«84. Die Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit festigt den Handelsaustausch: Jeder Mensch hat auf diesen ein Recht, selbst wenn die Gefahr besteht, in einen ökonomischen Neo-Malthusianismus zu verfallen mit seiner starren Vorstellung von sinnvollen und praktikablen Lösungen.

Hier muß festgehalten werden, daß Gerechtigkeit und Markt oft als zwei Gegensätze gesehen werden. So wird der Mensch von seiner Verantwortung für die soziale Gerechtigkeit entbunden. Die Forderung nach Gerechtigkeit richtet sich nicht mehr an den einzelnen Menschen. Er scheint den Marktgesetzen gegenüber ohnmächtig. Die Verantwortung hat angeblich der Staat, genauer der Wohlfahrtsstaat.

Allgemein kann man sagen, daß die verbreiteten Hinweise der Ethik dem Denken statt des individuell gerechten Verhaltens nahelegen, Gerechtigkeit in Strukturen und Vorgehensweisen zu suchen - ein theoretisches Gebilde, ohne praktische Auswirkung. Darüber hinaus erscheint das staatliche Fürsorgesystem von außen wie von innen ausgelaugt. Es kann immer weniger eine wirklich gerechte Verteilung garantieren, was sich negativ


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