>Info zum Stichwort hoher | >diskutieren | >Permalink 
© Grafshop schrieb am 7.12. 2019 um 18:02:48 Uhr über

hoher

"...
03.08.2059 - Der Techno-Mönch hatte bereits gewartet, während Julius und Nobuyoshi erst in die Halle eintraten.
Der Mönch verneigte sich leicht, so dass man die Implantate an seinen Kopf besser sehen konnte. In seiner Robe erinnerte er an tibetanische Mönche, doch die Lehre, der er sein Leben verschrieben hatte, war anderen Ursprungs und aus einer Mischung aus Daoismus, Jainismus und Ideen aus dem Transhumanismus hervorgegangen. Das Ziel seines Ordens war die Reinigung des Selbst durch das, was sie Übung nennen. Nobuyoshi war ein japanischer Mathematiker und Julius war ein Gelehrter aus dem Gebiet, auf dem früher einmal Europa war.
Nobuyoshi verneigte sich ebenfalls, während Julius nur eine Kopfbewegung andeutete. Die beiden asiatischen Männer gingen über diese Unhöflichkeit hinweg. Julis hatte sich dadurch Respekt verschafft, dass er es aus den erbärmlichen Überresten der ehemaligen europäischen Zivilisation hinüber nach Asien geschafft hatte. Sein Status wies ihn als eine Person aus, die über besondere Fähigkeit oder zumindest das Potenzial verfügen muss.
Die drei Männer waren auf Einladung der Akademie des imperial-kommunistischen Staatenbundes erschienen. Das Erscheinen zu solchen Einladungen war zwingend notwendig, wenn man kein schlechtes Ranking erhalten wollte. Punkte waren im neuen sozialistischen System an Stelle der Währung getreten. Für ideologische Konformität, Einsatz zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, möglichst in 12h-Schichten, und Gehorsam erhielt man Punkte. Abweichende Gedanken oder gar direkter Ungehorsam führten zu Minuspunkten. Mittels eines undurchsichtigen, immer wieder geänderten und möglicherweise nicht flächendeckend verwendeten Systems wurden die Punkte dann verrechnet.
Der »Standard« wurde von der allwissenden, wohlwollenden Partei auf 200 Punkte angehoben. Fiel man in seiner Bewertung unter diesen Stand, so konnte es passieren, dass man plötzlich seine Wohnung, seinen Job, seine Freunde und sogar Familie verlor. Unter 200, das bedeutete im neuen Gesellschaftssystem praktisch herabzusinken in die Slums und als billige Arbeitskraft missbraucht zu werden.
Das System war alles andere als Perfekt. Viele zwielichtige Gestalten erhielten unheimlich viele Punkte, vieles war intransparent, etwa wann die Punkte verfielen, wie und nach welchen Gesetzen sie verrechnet wurden. Der Standard an Punkten konnte willkürlich festgesetzt werden, vergleichbar mit den Leitzins zu beginn des 21. Jahrhunderts. Ein hoher Standard bedeutete für viele Leute lange Arbeit, schlechte Verpflegung und ein soziales Herabsinken. Ein niedriger Standard konnte dazu führen, dass die Konkurrenz um begehrten Wohnraum, Mitgliedschaften in diversen Kollektivküchen usw. größer wurde. Andererseits führte er auch dazu, dass immer breitere Bevölkerungsschichten Zugang zum Verteilungssystem erhielten. Die letzte Reduktion des Standards war inzwischen fast 5 Jahre her. Die Partei hat damals ein ehrgeiziges Projekt verfolgt, um das Problem der Arbeit, der Slums und des Produktionsrückstandes zu lösen. Die Ziele waren die schrittweise Reduktion des Standards auf 0, »Loyalitätsschulungen«, mit denen die einfachen Bürger auf schnellen Weg Punkte machen konnten und die Streichung von Minuspunkten für Leute, die sich ein Jahr lang nichts mehr haben zu Schulden kommen lassen. Das gesamte Projekt war von Anbeginn an hoch umstritten gewesen und gilt inzwischen als gescheitert. Nur die Streichung wurde tatsächlich durchgesetzt. Das hat einer Reihe von Kriminellen den Weg in die oberen Schichten der Gesellschaft ermöglicht.

»Wissen Sie, warum wir hergebeten wurden?«, fragte Nobuyoshi. Sein Gesichtsausdruck wirkte unverschämt intelligent. Julius versuchte grade etwas zu sagen, wurde aber durch den Techno-Mönch unterbrochen. »Wir sind hier«, sagte er in einem ruhigen, gleichmäßigen Ton, wie man es von einem weisen Mann erwarten würde, »weil die Partei unseren Rat wünscht«. Julius und Nobuyoshi entglitten die Gesichtszüge. Der Mönch blieb in innerer Ruhe verharrend. Falls er negative Gefühle hatte, wurden diese schon ausgelagert. Julius war der erste der Beiden, der wieder in der Lage war, das Schweigen zu brechen: »Okay, da frage ich mich nur, warum grade wir
Alle drei sahen sich um. Der Techno-Mönch öffnete seine Augen, eine Geste, die bei diesen frommen Mann eindeutig anzeigte, dass er die Personen um sich herum wahrnehmen wollte und sprach, »nun, bei Herrn Nobuyoshi erlaube ich mir die Spekulation, dass es mit seinen Fachgebiet zu tun haben könnte. Das Online-Journal der Japanische Mathematische Gesellschaft listet 5 Publikationen von Ihnen. Darunter eine spieltheoretische Analyse des Social-Punktesystems. Ich selbst kann ebenfalls sagen, dass dieses Thema in meinen Leben eine große Rolle gespielt hat. Ich kam aus einfachen Verhältnissen, meine Eltern waren koreanische Verwaltungsbeamte, die in den Philippinen eingesetzt wurden. Damals lag der Standard bei erbärmlichen 50 Punkten. Ich bin sehr früh in die Partei eingetreten und dort positiv aufgefallen, indem ich Mitschüler mit zweifelhafter Loyalität meldete, Menschen unterhalb des Standards mied und mich engagierte, wo ich konnte. Ich hatte sogar vor die Lehre des Maoismus-Konfuzianismus zu studieren und anschließend zu den oberen Kadern aufzuschließen. Leider, nun, kam eine Zeit der Ernüchterung. Das Brechen mit Freunden und Familie, da diese zu wenig Punkte hatten, rieß mein Leben aus der klaren Bahn... ich lernte, wie das Punktesystem funktionierte und war eine der Menschen, die es erfolgreich manipulierten. Über 10 Jahre habe ich so gelebt. Negative Punkte interessierten mich gar nicht. Ich kannte ja die Lücken. Ich schmuggelte illegale Waren aus Amerika in den imperial-kommunistischen Staatenbund und unternahm Handelsreisen nach Afrika. Ich stahl, log, betrog und verweigerte die öffentliche Arbeit total. Anschließend kam ich in ein Gefängnis«. Der Gesichtsausdruck des Mönches verriet Ärger.
Nobuyoshi schien die weitere Geschichte vorhersehen zu können, »dann folgte ihr Übertritt zu den Techno-Mönchen und sie wurden aus der Haft entlassen«. Der Mönch nickte. »Das erschließt sich mir nicht. Ist die Partei nicht gegen jede Religion? Wieso sollte sie den Übertritt zu dieser Gemeinschaft positiv sanktionieren?«, fragte Julius.
Der Techno-Mönch sah nun Julius direkt in die Augen. »Es ist«, seine Stimme übertrug auch eine Emotion, »weil ich das Gelübde ablegen musste, für meine Sünden zu büßen«. »Er darf nicht eher in eine kollektive Intelligenz aufgenommen werden, bis er sein Selbst von den bösen Trieben gereinigt hat«, fügte Nobuyoshi enzyklopädisch hinzu.
Julius verstand. Der Orden übernahm die Rolle der Resozialisierung für den Staat und da der Techno-Mönch es sich zum Ziel gemacht hat, in eine Form der kollektiven Intelligenz aufzugehen, wie so viele Techno-Mönche, wird er sich besonders loyal verhalten.
Die Implantate, so erinnerte sich Julius, waren kein Brain-Interface, sonder dienten nur der besonders tiefen Meditation, indem sie auf die Gehirnregionen, die die menschliche Persönlichkeit bildeten, einwirkten. Der Mönch und der Mathematiker unterhielten sich weiter, während Julius die Tragweite dieses Treffens zu erfassen versuchte. In Europa gab es dergleichen nicht. Der europäische Zentralstaat war bereits anfang der 30er Jahre an seinen Aufgaben gescheitert und hat einen chaotischen Zustand hinterlassen. Im der selben Stadt, der selben Straße, ja dem selben Häuserblock konnten völlig unterschiedliche Rechtssysteme aufeinandertreffen. Die Scharia, neo-tribalistische Horden und versprengt die privilegierten Leute, die sich vollständig in eine virtuelle Realität aus Home-Office-Arbeitsplätzen und Versandthandel absetzen konnten. Es konnten in einem Viertel bürgerkriegsähnliche Kämpfe um die Vorherrschaft bestehen, während einigen Kilometer weiter die Menschen nicht einmal mehr mitbekamen, welches Wetter grade ist. Es war eine Welt des Nichts. Die Welt, aus der Julus eben entkommen war. Er spürte in sich wieder das Loch, dem er entkommen wollte. Er fühlte in seinen Taschen, ob die Packung mit den Tabletten, die ihn Dr. Dylan Bligh verschrieben hatte, noch da war. Nichts. Das alles, nur um ein bisschen weiterzuexistieren, am Rande des Nichts.
Er hörte einen Moment nur auf seinen Atem. »Entschuldigung, wenn ich euch unterbreche«, sagte er stammelnd, »aber was mach ich eigentlich hier. Als geduldeter Ausländer stehe ich doch außerhalb des Systems«. Der Techno-Mönch hatte seine menschlichen Augen inzwischen verschlossen, doch nun wendete er sich zu Julius. »Richtig. Herr Nobuyoshi hat das System sehr weit theoretisch durchdrungen, ich besitze praktische Erfahrung und du«, fuhr der Mönch fort, »du stehst außerhalb des Systems, weshalb du eine wertvolle Perspektive zu bieten hast«. Nobuyoshi sah Julius an und nickte, »es war schon immer ein Fehler des Westens, das Nichts zu unterschätzen«.
Julius musste sehr schlucken, »also bin ich hier, weil ich grade keine Ahnung habe, richtig«? Die drei Männer wurden Zeuge eines seltenen Ereignisses, der Techno-Mönch lachte. Julius war nicht mal klar, dass diese nach Erleuchtung gierenden Menschen überhaupt noch in der Lage waren zu lachen. In Europa hatte er einmal, während eines Klassenausfluges, ein Kloster der Techno-Mönche besucht. Dort war das philosophische Amalgam, aus dem die Bewegung sich speiste, natürlich leicht anders gewesen. Das Christentum hatte seinen Einfluss hinterlassen und mit ihn der messianische Glaube an einen Erlöser, den die technische Singularität der Welt bald schenken würde. Dieser Anhänger der asiatischen Variante dagegen besorgte das Geschäft der Erlösung selbst. Die Techno-Mönche machten in der Tat keinen Unterschied zwischen Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und so weiter. Das waren ohnehin nur Eigenschaften, die bald durch die Verschmelzung mit den Maschinen einerlei würden. Was sie natürlich sowohl von ihren christlichen als auch buddhistischen Brüdern unterschied war die Einstellung zur Sexualität. Den Techno-Mönchen war die Prüderie fremd, während sowohl der Buddhismus als auch das Christentum Sex als etwas zu überwindendes ansieht.
Julius hatte ländere Zeit geschwiegen und versucht, seine Gedanken unter Kontrolle zu kriegen. Nobuyoshi sagte: »Es tut mir aufrichtig leid, falls ich Sie beleidigt haben sollte«. Es war dem Mann ernst. »Schon gut«, sagte Julius.
Wieder fühlte er nach seiner Tasche. Eine einzige Pille würde ihn inneren Frieden und Selbstsicherheit zurückgeben, das wusste Julius und das konnte er dringend gebrauchen, aber etwas hielt ihn zurück. Das ernste Bemühen des Techno-Mönchs um Erlösung. War es nicht ein Betrug, eine erbärmliche Lüge, angesichts der jahrelangen Bemühungen dieses Mannes einfach auf ein buntes Pillche aus dem Giftschrank der Psychiatrie zurückzugreifen?
Zudem die Psychiatrie sich seit Jahrzehnten nicht mehr weiterentwickelt hat. Die selben Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, die man im Jahre 2020 verschrieben bekam, waren teils immer noch im Einsatz. Weder Europa, noch der imperial-kommunistischen Staatenbund kannten bessere Mittelchen. Es gab Gerüchte über bessere Medikamente in den USA. Doch die waren unerreichbar. Die Staaten hatten nach der New Zealand-Krise dicht gemacht. Damals kam heraus, dass die Vorkämpfer des Maoismus-Konfuzianismus ihr Einflussgebiet nicht nur auf den Pazifik-Raum und Südamerika, sondern auch auf Kalifornien ausdehnen wollten. Die amerikanische Öffentlichkeit reagierte empört und der Präsident setzte die Trump-Doktrin durch. Außenpolitischer Isolationismus, restriktive Einwanderungspolitik und knallhartes Durchsetzen amerikanischer wirtschaftlicher Interessen weltweit.
Das hat zu dem geführt, das politische Beobachter »das große Patt« nennen. Die USA und der imperial-kommunistischen Staatenbund unter Führung von dem, was früher einmal China war, versuchen sich seither gegenseitig einzukreisen, während Europa aus dem Blickfeld der Geschichte geriet.
»Ach, Politik«, seufzte Julius hörbar. Die beiden anderen Männer mussten diese Bemerkung auf sich beziehen, während Julius nur den Schlussstrich unter seine eigenen Gedanken ziehen wollte. »Es ermüdet ihn«, sagte der Techno-Mönch voll Verständnis. Er klang Milde und Weise, wie man sich einen heiligen Mann vorstellt. »Es ist eine seltene Ehre und ein besonderes Privileg, seiner Gesellschaft durch politische Arbeit dienen zu dürfen«, erklärte Nobuyoshi. Julius fragte sich, ob Nobuyoshi selbst glaubte, was er da sagte. Doch was spielt das schon für eine Rolle? Den Glauben und die Gedanken interessieren das Punktesystem zum Glück nicht. »Es tut mir leid«, sagte Julius, »ich bin wohl nicht mehr ganz bei mir, seit... seit damals«. Ohne seinen Kopf zu bewegen richtete er seine Augen auf den Boden. »Und«, fuhr er fort, »was wollen wir berichten? Was soll unsere Empfehlung sein«?
Der Techno-Mönch fasste das Gespräch noch einmal zusammen. »Ich habe dem nichts hinzuzufügen«, sagte Julius. »Dann schlage ich vor«, sagte der Techno-Mönch, »dass Herr Nobuyoshi den Bericht verfasst. Ich selbst komme aus naheliegenden Gründen nicht in Frage und für unseren ausländischen Freund könnte jede Bemerkung eine potenzialle Komplikation bedeuten«. »Wie wird man eigentlich Techno-Mönch?«, hörte Julius aus sich sprudeln. »Wenn das so ist, dann werde ich mich gleich daran setzen«, sagte Nobuyoshi und ging. Der Mönch und Julius führten ein neues Gespräch.

Sobald er die Halle verlassen hatte holte Nobuyoshi einen kleinen Stift aus der Tasche hervor. Er benutzte immer noch ein Smartphone. Die neuen Varianten von holographischen Interfaces über die Fingernägel oder Einsetzstücken auf das Auge, die auf den Sehnerv einwirken, waren ihn einfach nicht geheuer. Er wollte sich nicht etwas unter den Fingernagel schieben oder ins Auge einfügen lassen. Die Vorstellung fand er widerlich, auch wenn das einem jungen Mann wohl nicht mehr erklärbar war.
Was natürlich weder der Techno-Mönch, noch Julius ahnten, war, dass Nobuyoshi ganz anders gebrieft wurde.
Er begann, seinen Bericht aufzusprechen. »Das Individuum Julius scheint mir im Wesentlichen Loyal zu sein. Integration bis hin zur Einbürgerung wird empfohlen, es besteht keine Gefahr. Keine politische Meinung erkennbar. Was das zweite Subjekt angeht, so ist das Urteil negativ.
Es hat den Zustand erreicht, denn man als 'unwillentliche' oder 'wesensmäßge' Subversion bezeichnen könnte, indem er beginnt, seine abergläubige Irrlehre weiter zu verbreiten. Vom Standpunkt des Systems aus ist eine Aufnahme in eine kollektive Intelligenz zu bevorzugen. Dort würde er keine weitere Gefahr mehr für Dritte darstellen....«
Nobuyoshi brach ab. Er aktivierte das Interface und um ihn herum erschien eine Vielzahl von Tabellen, Fotos, Menüpunkte und mehr. Kurz gesagt, er war in der Bedienoberfläche seines Smartphones. Dort holte er ein Foto hervor. Das attraktive Gesicht einer asiatischen Frau erschien vor ihn. Diverse Bilder wechselten sich ab, die selbe Frau im Rock, beim Tanzen, am Strand. »Ah, Sakura«, sagte Nobuyoshi. Wenn er diesen Bericht abgefasst hätte, würde er 300 Punkte zusätzlich bekommen, dann wäre es fast schon schlecht für ihn, sich mit ihr abzugeben. Dann wäre seine Tätigkeit für die interne Überwachung vorbei und er könnte nach Japan zurückkehren und seine Geliebte Heiraten. Bisher stand sie in Sachen Punkte einfach zu weit über ihn, doch wenn das erst Mal anders wäre. Ja, Nobuyoshi freute sich auf die Zukunft.
Auf sein Heim, seine Kinder, die sah er schon vor sich, und seine schöne Ehefrau."

© Grafshop 07.12.2019
ALLE RECHTE VORBEHALTEN. Jegliche Verbreitung, digitale Speicherung und Vervielfältigung ohne Ausdrückliche Genehmigung ist untersagt.


   User-Bewertung: /
Juppheidi-Juppheida!

Dein Name:
Deine Assoziationen zu »hoher«:
Hier nichts eingeben, sonst wird der Text nicht gespeichert:
Hier das stehen lassen, sonst wird der Text nicht gespeichert:
 Konfiguration | Web-Blaster | Statistik | »hoher« | Hilfe | Startseite 
0.0148 (0.0006, 0.0134) sek. –– 849219932