Der Tod von Herrn Schmidt
Ein kühler Herbst Anfang der 90er. Es war etwa 11 Uhr morgens, als mich der Mitbewohner meiner damaligen Freundin mit hektischem Türenknallen aus dem Schlaf riss. Irgendetwas stimmte nicht.
Ich hörte ihn durch die pappdünne Zimmertür atemlos keuchen und nach dem Telefon suchen, das bei uns im Zimmer stand. Er riss ohne zu klopfen die Tür auf und wählte mit angstverzerrtem Gesicht hektisch die Notfallnummer.
»Ja, hallo, kommen Sie schnell, da liegt einer im Wald und braucht dringend Hilfe ... neinnein, eben gefunden ... nein, sonst war da niemand ... in dem Waldstück zwischen dem Uni-Sportplatz und den Bahnschienen ... Da müssen sie von der anderen Seite durch das Tor auf den Sportplatz fahren ... ja ... schnell, der Mann braucht Hilfe!«
Ich hatte mir eilig meine Klamotten übergezogen und fragte, was denn los sei.
Mathias war völlig ausser sich und konnte kaum reden, er stand sichtlich unter Schock. Statt zu erklären meinte er nur ‚Komm mit!‘ und rannte aus der Wohnung. Ich lief hinter ihm her.
Mathias benutzte mehrere Abkürzungen über niedergetretene Zäune und durch fremde Vorgärten und so erreichten wir innerhalb von vielleicht drei Minuten den Waldrand hinter den Bahnschienen.
»Hilfeee ... hilf mir doch einer!« schallte es aus etwa 50 Metern Entfernung zu uns herüber. Mein erster Gedanke war, dass sich ein Betrunkener den Fuß gebrochen habe oder irgendwo fest steckte. Ich wunderte mich über den eigenartigen Geruch im Herbstwald. Als ob jemand grillen würde.
»Da vorn ist es« keuchte Mathias atemlos und deutete eine kleine Senke hinunter, auf die wir zurannten. Ich bemerkte ein wenig schwarzen Rauch, der von der ausgewiesenen Stelle aufstieg.
Als wir angekommen waren, brauchte ich einen Moment, um zu verstehen, was ich sah. Der Waldboden war auf einer Fläche von etwa 4 Quadratmetern scharz und verkohlt, in der Mitte der Feuerstelle lag ein altes, rostzerfressenes Ölfass und halb im Fass krümmte sich ein grausam entstellter, nackter Körper und winkte uns zu.
»Helft miiiiir doch« rief uns die Gestalt zu, doch wir standen einige Sekunden nur fassungslos da und starrten auf seinen Körper, der nach meinem Ermessen hätte garnicht mehr in der Lage sein dürfen, sich zu bewegen, geschweige denn zu sprechen. Er war von oben bis unten verbrannt, die Haut war an vielen Stellen schwarz verkohlt, keine Haare, keine Nase, keine Augenlider, keine Ohren mehr.
»Macht irgendwas, haut mir einen Knüppel über den Kopf, damit es vorbei ist, egal, macht was ...« jammerte der Verbrannte, der offensichtlich bei vollem Bewusstsein war. Mathias und ich traten an ihn heran und versuchten den geschundenen Körper aus dem qualmenden Fass heraus zu ziehen.
Wir suchten fragend Hilfe im Gesicht des anderen, wo wir den armen Menschen anfassen sollten, denn keine Stelle seines Körpers war unverletzt. Wir überwanden gleichzeitig unsere Scheu und griffen an den Armen des Mannes zu, der jetzt schrie und stöhnte. Er fühlte sich heiß und trocken an.
Nichts hatten wir dabei, womit wir ihm hätten helfen könnten, ich wünschte mir verzweifelt Wasser, aber rings herum war nur Wald. Uns blieb nur das Warten auf professionelle Hilfe.
Minuten später hörten wir das Martinshorn eines Krankenwagens. Wir blickten durch den Wald auf die andere Seite des Sportplatzes und erkannten die Sanitäter, die offensichtlich nicht den von Mathias vorgeschlagenen Weg benutzen konnten: Das große Tor war verschlossen.
Wir schrien und winkten, aber der Wagen machte kehrt und suchte nach einem anderen Weg zu der beschriebenen Stelle, sie hatten uns nicht gesehen.
Mathias sprang auf und rief im rennen, dass er im Sportlerinstitut den Schlüssel besorgen und einem der dort arbeitenden Ärzte Bescheid geben wolle.
Ich war allein mit dem Verletzten, der mich wimmernd immer wieder bat, ihn von seinen Leiden zu erlösen. Das Institut war vielleicht 500 Meter weit entfernt und Mathias war ein guter Läufer, ich sah ihn wenig später das Tor am anderen Ende des Sportplatzes öffnen, und den immernoch planlos umherirrenden Krankenwagen zum Ort des Geschehens lotsen. Der Verbrannte hatte begonnen mich zu verfluchen und zu beschimpfen, weil ich ihm den letzten Gefallen nicht geben konnte, ihn zu erlösen. Er rollte hin und her vor Schmerz. In meiner Verzweiflung fielen mir die Notoperationen in alten und schlechten Westernfilmen ein und so steckte ich dem Klagenden ein Stück Holz zwischen die Zähne, damit er wenigstens etwas zum draufbeißen hätte. Ich wusste mir nicht anders zu helfen.
Der Krankenwagen hatte den Waldrand erreicht und behäbig kletterte ein junger und ein älterer Rettungsassistent aus dem Fahrzeug. Der Jüngere war offensichtlich neu, denn sein Kollege erklärte ihm die Vorgehensweise. Mit ihrem Erste Hilfe Koffer kamen sie in den Wald gestapft um die Lage zu sondieren, dem Älteren entfuhr ein ‚Ach Du Scheisse‘, der Jüngere wurde sehr blass und schwankte beim Anblick des Verletzten.
Ein junger Student mit Brille war zeitgleich den einsamen Waldweg entlang gekommen, hatte die Schreie gehört und half mir bei meiner nutzlosen Wache, er kniete sich neben mich und redete beruhigend auf den Sterbenden ein, auch er konnte nichts weiter tun, als da zu sein.
Die Sanitäter waren zu ihrem Wagen zurück gerannt und funkten nach einem Notarzt. Aus der Richtung des Sportlerinstitutes sah ich einen Mann mit weißem Kittel und Arztkoffer auf uns zu gehen, Mathias war vor ihm da und schilderte hastig, wie er dem Arzt erklärt habe, dass hier ein Mann mit Verbrennungen ersten Grades läge und litt. Und er wunderte sich, wieso sich der Arzt nicht mehr beeilen würde.
»Hierher! Los, schneller, der Mann stirbt!« schrie er heiser.
Der Arzt aus der Sportmedizin ging wohl davon aus, dass es sich bei dieser ‚Verbrennung ersten Grades‘ um eine vielleicht etwas größere Brandblase handeln würde. Er stieg in den Wald, sah den Verletzten, bekam riesige Augen und schüttelte fassungslos den Kopf. Er zog sich ein paar Gummihandschuhe über, aber seinen kleinen Arztkoffer machte er erst gar nicht auf.
Der junge Student und ich machten Platz, wir übergaben an die, die wirklich helfen konnten. Die Rettungssanitäter kamen mit ihrer Trage zurück, der Ältere erklärte im gehen, wie man damit umginge. Zu dritt bugsierten sie den immer noch schreienden Mann auf die Bahre und trugen ihn vorsichtig zum Rettungswagen.
Der nächste der kam, war ein Notarzt, der mit Vollgas über den Fußballplatz raste, aus dem Wagen hastete und befehlsgewohnt das Kommando übernahm. Der Sportmediziner nahm seinen kleinen Koffer und trottete mit hängendem Kopf in sein Institut zurück.
Ein weiterer Wagen rollte an den Waldrand, diesmal die Kripo. Lässig Kaugummi kauend schlenderten sie über den ‚Tatort‘, ließen sich kurz erklären, was passiert sei und machten derbe Scherze über Grillunfälle. Mir wurde übel.
Mit der Fußspitze hob einer der Beamten die Tonne an und entdeckte darunter ein kleines leeres Fläschchen ‚Mariacron‘ und einen angekokelten Ausweis, den er mit spitzen Fingern seinem Kollegen übergab.
‚Aha, hier haben wir den Brandbeschleuniger‘ schloss sein Kollege weise, ich wand ein, dass man doch kaum mit einem Achtelliter Schnaps ein solches Feuer entfachen könne. Ich machte meine kurze Aussage, viel konnte ich ja nicht erzählen. Beim Aufnehmen meiner Personalien wurde mehr mitgeschrieben als bei dem, was ich zu sagen hatte.
Die Tür des Krankenwagen war nicht geschlossen worden und wir hörten immer noch verzweifelte Rufe und Schreie des Verletzten, die langsam immer leiser wurden. Mit einer Pinzette begann der Notarzt große Fetzen verbrannter Haut abzulösen und der ältere Sanitäter fluchte, dass er nirgends eine Stelle fand, wo er seine Infusionsnadel hätte anbringen können.
Der Polizisten mit dem Ausweis kam zurück und meldete knapp, dass die Überprüfung ergeben habe, dass das Opfer aus dem hiesigen Psychiatrischen Krankenhaus käme.
Ein Rettungshubschrauber erschien am Himmel und landete auf dem Sportplatz. Das Ärzteteam aus der Luft kletterte in den engen Krankenwagen, schloss die Tür und half bei der Versorgung des Verletzten.
»Ja, unser Herr Schmidt hier war wohl ein ganz Durchgeknallter« erklärten sich die Beamten die Situation gegenseitig. »Der Fall ist klar, er hat sich in das Fass gelegt, sich mit dem Zeug übergossen und angezündet. Was für ein Idiot!«, schlossen die beiden gutgelaunt.
"Ja, aber wo sind denn seine Kleider? Ist er nackt hierher gekommen? Und wo ist das Feuerzeug?
Und wie kann man das alles wissen, wenn man nur kurz den Tatort begutachtet und das Indiz hinzufügt, dass der Mann psychische Probleme hatte?" schoss es mir durch den Kopf, aber ich sagte nichts, rauchte, und starrte auf die Tür des Krankenwagens.
Es war still geworden. Herr Schmidt musste gestorben sein.
Wenig später stiegen die Ärzte aus dem Rettungswagen in ihren Hubschrauber um, hoben ab und verschwanden über unseren Köpfen.
Auch ich ging. Ich hatte viel zuviel erlebt und gesehen und wünschte mir, nicht dabei gewesen zu sein.
Von dem Ganzen stand kein Wort in den Zeitungen. Scheinbar geschieht so etwas öfter, und man bekommt es, wenn überhaupt, nur zufällig mit. Ein Irrer hat sich umgebracht, passiert eben.
Ich treffe Mathias heute noch manchmal auf der Straße. Wir lächeln uns dann zu und wissen beide was uns verbindet, auch wenn wir nie darüber geredet haben.
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