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gated society, am 6.12. 2002 um 23:52:22 Uhr
gehirnaqaplaning

wesens bestimmen: Beseitigung von Schmerzen, Ausrottung von Krankheit, Normalisierung von Gebrechen und letztlich verwaltetes Sterben. Ich wollte zeigen, wie diese Forderungen für teures Steuergeld riskante Medikalisierung, lähmende Professionallsierung und entmachtende Ritualisierung zeitigen mußten. Ich wies darauf hin, daß nicht nur Behandlung, sondern auch Vorsorge in diesem Rahmen untersucht werden müssen, und ich tat dies, bevor sich die Neohexerei der Prophylaxe richtig durchgesetzt hatte. Damals stand weder die Akzeptanz der Anti-Raucherregeln noch die staatliche Finanzierung der Akupunktur bei Drogenabhängigen oder Strafgefangenen in Baltimore auf der Tagesordnung. Mit der Gegenüberstellung von Lebenskunst und Medikallsierung wollte ich die Ethik der Lebenskunst von sogenannter medizinischer Ethik abgrenzen.
Wenn ich das Buch neu zu schreiben hätte, müßte ich von Medikallsierung nicht als einer Form der Demorallsierung, sondern des Nihilismus sprechen. jeder Kontakt mit der Medizin tendiert heute nicht mehr so sehr zur Entmutigung des Patienten wie zu seiner epistemischen Verwandlung. Das stimmt für Allopathie ebenso wie für therapeutischen Tanz. Von der Beobachtung des Leukozytenverhältnisses bis zu safer sex, vom Blutdruckmesser zum Zen-do wird Rückkoppelung auf das neue Selbst betrieben. 1976 erschien das Immunsystem erstmals in der Literatur, und heute ist die Orientierung innerhalb seiner Parameter zur Selbstverständlichkeit geworden.
Eine Ärzti-,i aus Essen erzählte mir neulich, daß an einem Vormittag drei Patientinnen aus Sorge um ihr Immunsystem zu ihr kamen: die eine litt an Haarausfall, die zweite an Aktie und bei der dritten habe ich das Symptom vergessen. Das ließ über 1 1

die Ausbildung von Arzten nachdenken: Das Erste, was sie lernen müssen, ist die Rangfolge der vermuteten Krankheitsursachen. Im protestantischen Deutschland um 1800 stand bei Männern die Masturbation und bei Frauen die Hysterie an erster Stelle. Ein paar Jahrzehnte später war es die Tuberkulose, dann die Syphilis; heute steht wohl die Diagnostik, ob durch den Arzt oder das Gesundheitsmagazin, an der Spitze der Pathogene.

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Systemdenken wird auch durch Vorlesungsverzeichnisse, Computerspiele und die Sprache des Spt'egels vermittelt. Aber die Gesundheitsfürsorge treibt die Verseuchung auf die Spitze. Das »Ego« als Immunsystem kann nur über den Test erfahren, wie es ihm geht. Als neulich der Onkologe bei jim mit der Chemotherapie aussetzte, fragte ich ihn, wie es ihm gehe. Er bat mich, am nächsten Tag wieder anzurufen, aber erst nach 11 Uhr, wenn der Labortest von der Post geliefert worden ist. Das orphische »Erkenne dich selbst« lautet 'etzt: @Laß prüfen, wie es deinem Immunsystem geht."
Das Wort »lmmunsystem« steht vor 1972 im Register keines einzigen Biologiebuches.' Zehn Jahre ist es schwer, einen Aufsatz der in diesem Saal ausliegenden Zeitschriften zu finden, der diesen Ausdruck nicht verwendet. Ende der 80 er Jahre schon dringt der Begriff des Immunsystems aus der Medizin in die Psychologie, a in die Sozialwissenschaften. Familien und Kulturen werden als Immunsysteme besprochen. Donna Haraway nennt »das' Immunsystem zu Recht «ein mächtiges polymorphes Objekt des Glaubens, des Wissens und der Praxis... ein Leitfaden der echten und falschen Selbsterkenntnis in der BioPolitik".' Ein hoher Grad kulturell flexibler Selbstregulierung wird da zum Ideal einer Gesellschaft hochstilisiert, in der das Risiko durch Versicherung nicht mehr verwaltet werden kann. Die Immun-Gesellschaft ist also der Schritt über die RisikoGesellschaft hinaus. In diesem Zusammenhang erhält jene eigenartige Qualitätskontrolle, der ihre Gesellschaft sich widmet, eine ganz neue Funktion, an die ich beim Verfassen der Nemest's der Medizin nicht dachte.
In diesem Buch, das ich nach mehreren Jahren im Laufe des Monats w ieder gelesen habe, um mich für diesen Vortrag vorzubereiten, bezeichne ich die Medikalisierung der Gesellschaft als eine dreifache Drohung: Die Gastfreundschaft für den Andersartigen wird durch die therapieorientierte Diagnostik bedroht, die Leidenskunst durch das Versprechen der Schmerztilgung untergraben und die Kunst des Sterbens durch den Kampf gegen den Tod überlagert. Wenn ich das Buch nochmals zu schreiben hätte, dann würde ich mich mit einer noch tieferen

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