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gated society schrieb am 6.12. 2002 um 00:37:00 Uhr über

gehirnaqaplaning

sprachen, auf der Bühne plötzlich einen italienischen Akzent hatten. Dagegen wehrten wir uns - gegen allmächtige Regisseure und Intendanten.
Wir fingen an, wirklichkeitsnahes Theater zu machen, unser Regisseur war die Realität. Unsere Schauspieler sprachen wie der Mann von der Straße.

Bertolt Brecht und der Zirkus haben Ihre damalige Theaterarbeit stark beeinflußt?

Brecht half uns, Ordnung in unsere Gedanken zu bringen. Be-
sonders wichtig wurde er für uns dadurch, daß er die Gesellschaft als veränderungsfähig, als veränderbar bestimmt. Brecht half uns als Theoretiker, vom Zirkus lernten wir das Spielerische, und er verschaffte uns gleichzeitig den Zugang zum Zuschauer.
Brecht wurde in Brasilien oft mißverstanden. Um es überspitzt zu sagen: Der Verfremdungseffekt vieler brasilianischer Brechtaufführungen bestand in der Entfremdung der Zuschauer@ Die Zuschauer waren schließlich so befremdet, daß sie nicht mehr ins Theater kamen. Brecht-Stücke galten beim Publikum als kühl, langweilig.
Für uns war Brecht genau das Gegenteil. Wir fanden seine Stücke sehr spielerisch, im guten Sinne komisch und unterhaltsam, verwandt mit unserem Zirkus. Brecht und der Zirkus: Überlegung und Spiel eng beieinander. Das gab uns Brecht, das gab uns der Zirkus. Die Inhalte, die Probleme zogen wir aus der brasilianischen Wirklichkeit, mehr als genug.

Später haben Sie relativ viele klassische Stücke gespielt. Waren sie für das Publikum, das Sie suchten, nicht schwerer verständlich als die realistischen Stücke der Anfangszeit? Kann man darin nicht einen Rückzug in die Theatergeschichte sehen, der von einer i . mmer stärker werdenden Verfolgung durch die Zensur diktiert wurde?

Wir haben Moli@re vor Fischern gespielt. Wir haben ihre Sprache gesprochen, und die Fischer haben genau verstanden, worum es ging. Wir haben EI Mei . or Alcalde, el Rey von Lope de Vega vor Bauern und Landarbeitern gespielt. In dem Stück geht es um das Verhältnis zwischen Landarbeitern und Landbesitzern. Das ha-

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ben die Leute im Nordosten Brasiliens genau begriffen. Es waren ihre Probleme, die wir da zeigten, und sie reagierten darauf. Nach den Aufführungen kam es oft zu hitzigen Diskussionen.
Wenn wir ein Stück von Lope de Vega oder von Moll@re spielten, konnten wir von der Heuchelei der katholischen Kirche, von der brasilianischen Bourgeoisie sprechen, ohne daß die Zensurbehörden uns etwas hätten anhaben können. Keiner ihrer Beamten hätte es i emals gewagt, ein so berühmtes Stück wie Tartuffe zu verbieten, das auch auf den staatlichen Spielplänen stand.

Sie haben sich im Laufe der Jahre immer weiter vom konventt'onellen Theater entfernt, von den Stücken und noch mehr von der Institution. Beide üben Ihrer Meinung nach Bevormundung des Zuschauers aus?

Von der Institution wollen wir lieber gar nicht reden. Aber was die Stücke betrifft- Wenn ich mir Simon Bolivar anschaue, wird mein Wunsch, das zu tun, was er tut, unterdrückt. Ich soll eine Katharsis »erleiden«. Simon Bolivar darf und kann alles, was ich nicht kann und darf. Aber das, was Simon Bolivar kann, kann ich ebenfalls und auch -eder Zuschauer. Das muß man zeigen.

Sie sind oft mißverstanden worden. Man sagt Ihnen nach, Sie wollten das traditionelle Theater abschaffen.

Das will ich ganz und gar nicht. Trotz seiner beschränkten Möglichkeiten fasziniert es mich immer wieder. Bis vor kurzem habe ich selbst noch inszeniert. Und Ich schreibe ja auch noch Stücke. Das täte ich sicher nicht, wenn ich das Theater abschaffen wollte. Ich bin allerdings der Meinung, daß ich mit meiner jetzigen Theaterarbeit sehr viel mehr bewirken kann. Auch in mir, und in jedem anderen, steckt Veränderungskraft. Diese Fähigkeiten will ich freisetzen und entwickeln. Das bürgerliche Theater unterdrückt sie. So gesehen, halte ich Katharsis für etwas
sehr Schädliches.
Auch Brecht hat dieses Problem nicht gelöst. Auch der Zuschauer Brechts bleibt, abgesehen von den Lehrstücken, passiv. Er denkt zwar, aber er handelt nicht. Im großen und ganzen ist der Zuschauer bei Brecht inaktiv.

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Ich finde, daß es neben einem kathartischen Effekt einen geben muß, der den Zuschauer aktiv werden läßt.

Indem man ihm blutige Leber ins Gesicht wz'rft?

Das ist im Teatro Oficina de Säo Paulo passiert, bei einer Gruppe, die vom Lt'ving Theatre beeinflußt war. Die Schauspieler bewarfen die Zuschauer von der Bühne herunter mit roher Leber, überall spritzte das Blut. Dann sprangen sie ins Parkett und zerrten die Zuschauer an den Haaren. Sie wollten sie aus ihrer Passivität reißen, indem sie sie angriffen. Meiner Ansicht nach ist das der falsche Weg. Was sie erreichten, war, daß die Zuschauer Angst bekamen und sich gegen die Schauspieler wehrten und nicht mehr ins Theater gingen.
Ihre Kritik trifft auch das Living Theatre?

Ich kritisiere das Living Theatre, aber ich verurteile nicht, was es macht. Verurteilen hieße verbieten wollen. Meine Kritik soll konstruktiv sein. Ich glaube nicht, daß ein rascher körperlicher Kontakt und ähnliche Dinge, die die Leute vom Living Theatre mit dem Publikum anstellen, wirklich etwas im Zuschauer verändern können. Das glaube ich nicht. Die sieben Meditationen über den Sado-Masochismus fand ich lächerlich und grotesk. Ich fand die Folterszene exhibitionistisch und oberflächlich, folkloristisch. »Schaut her, so foltert man also in Brasilien!- Dieser Eindruck bleibt zurück.

Was haben Sie Ende der 6oer Jahre unternommen, um Kontakt zum Zuschauer zu bekommen?

Wir haben z. B. Meinungsumfragen veranstaltet. Ein berühmtes Samballed heißt: @Bahia, terra da.felicidade« (»Bahia, Land der Glückseligkeit«). Bekanntlich ist in Bahia das Elend besonders groß. Samba und Karneval täuschen darüber hinweg. Wir haben Passanten auf der Straße gefragt. - »Sind Sie der Meinung, daß Bahla das Land der Glückseligkeit istViele waren dieser Melnung. Dann bohrten wir weiter. "ja, also, hier ist doch alles anders. Brasilien hat 'a viele Probleme. Arbeitslose gibt es viele. Aber hier sind sie glücklicherWenn wir sie auf die hohe

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Kindersterblichkeit ansprachen, kamen etliche zu dem Schluß: »ja, es verhungern zwar viele hier, aber sie verhungern glücklicherAus all diesen Antworten haben wir eine Collage zusammengebaut, mit Musik, Tanz usw. Wir haben Sambal'eder wörtlich genommen, todernst gesungen, manchmal hinalüsgeschrien. Die Antworten der Passanten haben wir mit Musik unterlegt, haben Dias eingeblendet, mit Statistiken kommentiert.

Den Zuschauer ansprechen, ihn unterhalten und belehren ... Sie sahen später ein, daß es damit allein nicht getan war, auch bei diesen Collagen nicht. Die Zuschauer saßen weiterhin wie brave Schüler. Ihre Techniken, mit denen Sie seit etwa I97o arbeiten, sind darauf angelegt, dem Zuschauer das Wort zu erteilen. Das konventionelle Theater druckt den Zuschauer in einen Sessel wie in et'ne festgeschraubte Schulbank.

Und dazu gehört auch Brecht. Nehmen wir als Beispiel eine Schachpartie. Ein Schachspieler der Stanislawskij-Schule spielt wunderbar, mit Leidenschaft, er regt sich auf, gewinnt und verliert, aber niemand weiß, warum, von welchen Überlegungen er sich leiten läßt, nach welchen Gesetzen sein Spiel abläuft. Das ist unbefriedigend für den, der zuschaut.
Ein Schachspieler der Brecht-Schule kommentiert sein Spiel. Er sagt: »Paß auf, ich bedrohe jetzt mit dem Bauern den König. Welchen Zug mache ich dannEr erklärt seine Züge. Wenn ich Schach spiele, rede ich auch: »Paßt auf: So und so macht man das - und jetzt setzt ihr euch hin und spieltDer Zuschauer kommt, setzt sich hin und spielt. ich stehe hinter ihm und helfe ihm: »Den Bauern kannst du so bewegen, den Turm soIch erkläre ihm das Spiel, spielen muß er selbst. Zunächst wird er schlecht spielen und oft verlieren. Aber er wird viel dabei lernen und immer besser werden. Wenn ich ihm, wie Brecht, nur die Spielregeln erkläre, ihn aber nicht spielen lasse, wird er niemals Schach spielen lernen. Solange der Zuschauer nicht selbst die Handlung bestimmen Zwangsjacke, eine Vorschrift wie die Praxis autoritärer Erziekann, solange er nicht selbst handelt, ist jedes »Schauspiel« eine

hung, und der Zuschauer ein Wesen, dem eine Kulturpille nach der anderen eingefüttert wird. Und der Schauspieler wird zum Automaten degradiert, der die Kulturpillen ausspuckt. Manipulation!

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