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elfboi schrieb am 17.12. 2002 um 21:42:21 Uhr über

gats


06.06.2002

Ausland
Thomas Fritz

Die GATS-Attacke

Die Liberalisierungsoffensive der EU: Staatlich geschützte Bereiche wie Post und Telekommunikation,Abfallbeseitigung und Recycling, Wasser- und Energieversorgung sollen vollends für rosinenpickende Multis geöffnet werden

»We are not amused.« Säuerlich verziehen die Beamten der Brüsseler Generaldirektion für Handel die Mienen, wenn sie auf die durchgesickerten Verhandlungsdokumente angesprochen werden, in denen die EU die radikale Öffnung der Dienstleistungsmärkte in 29 Ländern fordert. Der 16. April ist tatsächlich ein schwarzer Tag für die EU-Kommission. Stellten doch ATTAC und die Amsterdamer Organisation Corporate Europe Observatory (CEO) geheime Papiere aus dem wenig bekannten 133er Ausschuß ins Internet. Tags darauf machte die rund 1000seitige Wunschliste der EU Schlagzeilen auf der Titelseite des britischen Guardian. Die Blamage für die Kommission war perfekt.

Keinen Stein ließen die Brüsseler Freihändler auf dem anderen bei ihrer Suche nach neuen Märkten für die europäische Dienstleistungsindustrie. Akribisch werden für jedes der 29 Länder noch die letzten möglichen Handelshemmnisse aufgelistet, deren Abschaffung die EU fordert. Elf verschiedene Dienstleistungssektoren stehen auf der Wunschliste, darunter freiberufliche und unternehmensnahe Dienste, Bau- und Finanzdienstleistungen, Groß- und Einzelhandel, Tourismus und Transport. Aber auch die in vielen Ländern noch staatlich geschützten Bereiche wie Post und Telekommunikation, Abfallbeseitigung und Recycling, Wasser- und Energieversorgung sollen für rosinenpickende Multis geöffnet werden.


Der Umfang ist atemberaubend

Die jetzt bekanntgewordenen Dokumente passen in die neue Liberalisierungsrunde, auf die sich die Mitglieder der Welthandelsorganisation WTO im vergangenen Jahr bei ihrer Ministerkonferenz in Doha/Katar einigten. Teil des überaus umfangreichen Verhandlungspakets ist auch das Dienstleistungsabkommen GATS (General Agreement on Trade in Services), das 1995 in das Vertragswerk der WTO aufgenommen wurde. Anfang 2000 sind im Rahmen der WTO Neuverhandlungen des GATS begonnen worden, deren Abschluß mit dem geplanten Ende der neuen Welthandelsrunde am 1. 1. 2005 zusammenfallen soll. Ob dieser Termin aber eingehalten werden kann, ist mehr als fraglich.

Der Regelungsumfang des GATS ist atemberaubend und umfaßt zusätzlich zu den von der EU in ihren Geheimpapieren aufgelisteten Sektoren noch die medizinischen und soziale Dienste sowie Bildung und Kultur. Kein Dienstleistungssektor ist grundsätzlich ausgenommen. Alle sollen sie den WTO- Prinzipien des Marktzugangs und der Gleichbehandlung in- und ausländischer Anbieter unterworfen werden. Die besondere Brisanz liegt dabei darin, daß Dienstleistungsmärkte weniger durch klassische Handelshemmnisse wie Zölle geschützt werden, sondern vor allem durch innerstaatliche Regelungen wie Gesetze, Verordnungen, ökologische Normen oder soziale Standards. Ziel der GATS-Verhandlungen ist es aber, sämtlichen innerstaatlichen Regelungen ein möglichst enges Korsett verbindlicher Rahmenrichtlinien anzulegen.

Gerade die öffentlichen Dienste müssen mit verschärftem Wettbewerbsdruck rechnen. Denn sobald sie in Konkurrenz zu privaten Anbietern erbracht werden, was vielfach ohnehin schon der Fall ist, findet das Abkommen Anwendung. Das GATS zielt u. a. darauf ab, daß staatliche Unterstützungen für öffentliche Dienste in gleichem Maße ausländischen Privatanbietern gewährt werden. Effekt dieser zunehmenden privatwirtschaftlichen Konkurrenz ist aber, daß die für gemeinwohlorientierte Leistungen verfügbaren öffentlichen Mittel weiter sinken werden. Aber auch die Möglichkeit einer gewissen politischen Steuerung staatlicher Investitionen ist durch das GATS bedroht, da die öffentliche Auftragsvergabe ebenfalls liberalisiert werden soll. All die negativen Erfahrungen mit bisherigen Liberalisierungen und Privatisierungen öffentlicher Dienste - Qualitätseinbußen, Preissteigerungen, erschwerter Zugang, Entlassungen, Lohnsenkungen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse - bleiben dabei, wie so oft, unberücksichtigt. Warum das so ist, erklärt die EU-Kommission: »Das GATS ist in erster Linie ein Instrument zum Wohle der Unternehmen

Der Zeitplan der GATS-Verhandlungen sieht vor, daß bis Ende Juni 2002 alle WTO-Mitglieder ihre Marktöffnungsforderungen bei der WTO einreichen müssen. Was die EU von einem Teil ihrer Handelspartner fordert, ist nun bekanntgeworden. Unbekannt ist aber noch, welche Zugeständnisse die EU von der Mehrheit der ärmeren Entwicklungsländer erwartet und welche konkreten Liberalisierungswünsche andere WTO- Mitglieder an die EU adressieren. Die anschließende Verhandlungsphase ist daher besonders brisant. Bis Ende März 2003 müssen die WTO-Mitglieder angeben, in welchen Bereichen sie zu Zugeständnissen bereit sind und ihre Märkte für ausländische Anbieter öffnen wollen.


Willige Diener der Industrie

Die Dokumente aus dem Brüsseler 133er Ausschuß (dieser koordiniert die europäische Außenhandelspolitik) sind ein Musterbeispiel für die Verfilzung nationaler und europäischer Gremien mit der Privatwirtschaft. Wie kommen solche Papiere zustande? Zunächst erstellt die Generaldirektion Handel erste Entwürfe der GATS-Forderungen, die im 133er Ausschuß diskutiert und mit den nationalen Hauptstädten abgestimmt werden. Die zuständigen Ministerien der EU-Staaten können Ergänzungen vornehmen. Das deutsche Wirtschaftsministerium schickte dazu Teile der Entwürfe an ausgewählte Wirtschaftsverbände mit der Bitte um Stellungnahme. Die Generaldirektion Handel sammelt schließlich die Forderungen der nationalen Regierungen und erstellt verfeinerte Forderungslisten, die abermals in die nationale Abstimmung gehen. Die endgültigen Forderungen werden schließlich bei der WTO eingereicht.

Ob die Übermittlung der Entwürfe an die Industrie überhaupt rechtens ist, darf bezweifelt werden. Die Mitgliedstaaten wurden nämlich ersucht sicherzustellen, daß die Listen »nicht öffentlich zugänglich gemacht« und »nur an zuständige Offizielle weitergeleitet« werden. Daran hat sich das deutsche und manch anderes Wirtschaftsministerium aber nicht gehalten. In einer Antwort auf eine kleine Anfrage der PDS räumt die Bundesregierung ein, sie habe Elemente der Entwürfe an »einzelne, sachlich unmittelbar betroffene Wirtschaftsverbände« übermittelt, aber aufgrund ihres »vertraulichen Charakters« seien sie »nicht zu einer breiten Verteilung geeignet«. Vertraulichkeit im Sinne der Bundesregierung gilt also nicht gegenüber der Industrie, diese genießt vielmehr Privilegien staatlicher Unterhändler, sondern ausschließlich gegenüber der interessierten Öffentlichkeit.

Der Dienstleistungsindustrie stehen nicht nur die Beamten nationaler Ministerien zu Diensten, sondern auch diejenigen der EU-Kommission. Um den Informationsfluß zwischen Kommission und Industrie in Sachen GATS zu optimieren, wurde 1999 das European Services Forum (ESF) gegründet. Wie Dietrich Barth, ein hoher Beamter der Generaldirektion Handel, unverblümt feststellt, ist das ESF »eine privatwirtschaftliche Organisation der Dienstleistungswirtschaft, die eng mit der EU-Kommission zusammenarbeitet, um die offensiven und eventuelle defensive Handelsinteressen der Gemeinschaft zu definieren und die Kommission zu beraten«. Entsprechend finden sich zahlreiche der ESF-Forderungen in den durchgesickerten Verhandlungsdokumenten wieder, so die vollständige Niederlassungsfreiheit im Ausland oder der unbehinderte Einsatz von »Schlüsselpersonal« an sämtlichen Konzernstandorten.


Entwicklungspolitik am Ende

Die entwicklungspolitischen Bekenntnisse der EU verkümmern zur Farce, wenn die europäischen GATS-Forderungen zum Maßstab genommen werden. Vom krisengeschüttelten Argentinien wird der Verzicht auf Quellensteuern erwartet, welche auf die grenzüberschreitende Kreditvergabe im Bank- und Versicherungsgewerbe erhoben werden. Besonders weitreichende Lockerungen erwartet die EU von denjenigen Ländern, die sich mit Hilfe konsequenter Kapitalverkehrskontrollen gegen die Ansteckung durch die asiatische Finanzkrise von 1997/98 schützen konnten, vor allem Indien, Malaysia und China. So soll Malaysia den Handel mit der inländischen Währung Ringgit und mit Fremdwährungen vollständig freigeben, obwohl gerade Beschränkungen des Devisenhandels eine wichtige Maßnahme im Kampf gegen Finanzkrisen darstellen. Von Indien und China verlangt die EU die Zulassung äußerst riskanter innovativer Finanzinstrumente, der sogenannten Derivate. Der Großteil der Derivate wird nicht beaufsichtigt und hat schon häufig bei Finanzcrashs eine Rolle gespielt, so beim Zusammenbruch des berüchtigten US-Investmentfonds Long Term Capital Management. Die Philippinen sollen gar den Offshore-Töchtern ausländischer Banken (diese haben ihren Sitz für gewöhnlich in vollkommen unregulierten Steueroasen) Geschäfte in einheimischer Währung ermöglichen. Gerade auf diesem Weg finden aber die krisenverschärfenden Spekulationen gegen Schwachwährungen statt.

Bei Durchsicht der EU-Forderungen wird klar, daß das GATS zu Recht als »Klon« des 1998 gescheiterten multilateralen Investitionsabkommens (MAI) bezeichnet wird. Durchgängig verlangt die EU, daß gerade entwicklungspolitisch sinnvolle Auflagen gegenüber ausländischen Investoren geschleift werden. So erlauben viele Länder in bestimmten Sektoren keine Übernahmen, sondern lediglich Gemeinschaftsunternehmen mit lokalen Firmen (Joint ventures), was einheimische Beschäftigung sichern und einen Technologietransfer ermöglichen soll. Um einheimische Arbeitskräfte nicht nur in niedrigen Positionen zu beschäftigen, begrenzen viele Länder die Zahl der Ausländer im Management von Niederlassungen. Um marktbeherrschende Stellungen zu verhindern, wird häufig die Anzahl von Zweigstellen begrenzt, die ein ausländischer Konzern im Inland errichten darf. Weitere Beschränkungen betreffen die Höhe ausländischer Beteiligungen, den Rücktransfer von Gewinnen oder den Erwerb von Grund und Boden. Die EU fordert, daß all diese durchaus sinnvollen Investitionsauflagen beseitigt werden.


Zweiklassenversorgung

Auch in umweltpolitisch sensiblen Bereichen kennt der europäische Exporthunger keine Grenzen. Weitreichende Marktöffnungen streben die europäischen Unterhändler beispielsweise im Energiesektor an, ein Bereich, der bisher noch gar nicht als eigenständiger GATS-Sektor existiert. Die Wunschliste reicht von der Erkundung (Exploration) potentieller Energiequellen über den Bau von Anlagen, Pipelines und Stromnetzen, das Betreiben von Transport- und Übertragungsnetzen, den Groß- und Einzelhandel mit Energieprodukten bis hin zur Stillegung von Produktionsstätten. Auch die Wasserver- und -entsorgung haben Kommission und Industrie als europäisches Handelsinteresse definiert. Einflußreiche Lobbyisten sind die französischen Weltmarktführer im Wasserbereich, Vivendi und Suez. Aber auch deutsche Unternehmen wie RWE, AquaMundo, die E.ON-Tochter Gelsenwasser oder Berlinwasser International werden mit Exportbürgschaften, Entwicklungshilfegeldern und durch Übernahmen kommunaler Wasserwerke für den Weltmarkt fitgemacht. Wichtig also, daß Handels- und Investitionshemmnisse auch im Wasserbereich fallen. Die EU fordert daher die vollständige Marktöffnung für Wassersammlung, -klärung und -vertrieb sowie für die Bereitstellung sanitärer Anlagen.

Die öffentlichen Versorgungsunternehmen, sei es im Energie-, Wasser- oder auch im Telekommunikationssektor, werden von den Freihandelsapologeten notorisch schlechtgeredet. Anders lassen sich ausländische Kapitalbeteiligungen, denen (Teil-)Privatisierungen vorauszugehen haben, offensichtlich nicht rechtfertigen. So werden öffentliche Unternehmen als ineffizient, korrupt und kostentreibend beschrieben, ohne ernsthaft nachzuweisen, warum all dies auf private Unternehmen nicht genauso zutrifft. Gerade qualitative Aspekte, wie der kostengünstige Zugang aller Bevölkerungsgruppen zu lebensnotwendigen und hochwertigen Diensten, spielen im Kalkül der Liberalisierer überhaupt keine Rolle. So sind die meisten transnationalen Konzerne nur in der Lage, standardisierte High-Tech-Lösungen anzubieten, die kostengünstigere Alternativen, z. B. angepaßte Technologien, verdrängen. Da öffentliche Versorgungsunternehmen oftmals Monopolstellungen innehaben, führt die Marktöffnung zudem häufig zur Auswechslung öffentlicher durch private Monopole, wobei die Gewinnerwartungen der privaten Betreiber notorisch in Konflikt zu einer kostengünstigen Grundversorgung geraten. Arme Bevölkerungsgruppen sind nun einmal mangels Kaufkraft keine attraktive Zielgruppe privatwirtschaftlicher Unternehmen.

Als besonderes Risiko kommt beim GATS hinzu, daß sämtliche staatliche Auflagen, seien diese nun umwelt-, sozial- oder entwicklungspolitisch motiviert, mittels eines »Notwendigkeitstests« daraufhin überprüft werden sollen, ob sie »ungerechtfertigte Handelshemmnisse« darstellen. Gegen derartige Handelsbeschränkungen könnte dann vor dem WTO- Schiedsgericht geklagt werden. Bei der WTO wurde eine spezielle Arbeitsgruppe zu innerstaatlichen Regulierungen eingesetzt, die sich u. a. mit der Entwicklung dieses Notwendigkeitstests befaßt.

Zwar hat die EU bisher keine Forderungen im Bildungs- und Gesundheitswesen an die 29 Länder gerichtet, dennoch wird es auch in diesen Bereichen zu GATS-Verhandlungen kommen, da andere WTO-Mitglieder hier dezidierte Interessen artikulieren. Dies wird ab Juli dieses Jahres auch innenpolitisch relevant, denn dann muß die EU ihre Liberalisierungsangebote aushandeln. Dabei hat die EU sowohl im Bildungs- wie auch im Gesundheitssektor schon GATS-Verpflichtungen übernommen, wie der gemeinsamen Verpflichtungsliste der Europäischen Gemeinschaft entnommen werden kann. Wenn es nach den Wünschen der US-amerikanischen Dienstleistungsindustrie geht, müßten diese aber noch erheblich ausgeweitet werden. Der Zusammenschluß der US-Dienstleistungsindustrie, die Coalition of Service Industries (CSI), bringt das für sie ärgerlichste Handelshemmnis im Gesundheitswesen wie folgt auf den Punkt: »Die öffentliche Trägerschaft der Gesundheitsversorgung erschwert privaten US-amerikanischen Gesundheitsanbietern den Zutritt auf die ausländischen Märkte


Weltweiter Widerstand

Besonders stark ist das Interesse, staatliche Subventionen des öffentlichen Bildungs- und Gesundheitssystems in private Taschen umzuleiten. So kritisiert die US-Regierung beispielsweise die »Intransparenz« bei der Vergabe staatlicher Subventionen für tertiäre Bildungsdienstleistungen, Erwachsenenbildung und berufliche Weiterqualifizierungen. Die WTO sekundiert und stellt nüchtern fest, daß in denjenigen Sektoren, in denen wie im Krankenhaussektor staatliche und private Träger nebeneinander existieren, »Subventionen und ähnliche ökonomische Vergünstigungen unter die Verpflichtung zur Inländerbehandlung fallen«. Ausländischen Privatanbietern müßte folglich der gleichberechtigte Zugang zu sämtlichen Unterstützungsmaßnahmen gewährt werden, welche sonst nur öffentlichen bzw. im öffentlichen Auftrag tätigen Anbietern zustehen. Würden die öffentlichen Mittel tatsächlich noch mehr als bisher zugunsten kostenpflichtiger, auf zahlungskräftige Kundschaft ausgerichtete Privatanbieter umgelenkt, wären frei zugängliche staatliche Bildungs- und Gesundheitssysteme zweifellos unfinanzierbar.

Zu Recht richtet sich daher der weltweite Widerstand gegen die ungehemmte Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte. Soziale Bewegungen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen sind maßgebliche Träger dieses Protests. In der Bundesrepublik formiert sich ein breites Widerstandsbündnis auf Initiative des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC. Studierende organisieren sich europaweit in dem Bündnis »Education is not for sale«. Da die Dienstleistungsliberalisierung derart stark in das alltägliche Leben eingreift, ist zu hoffen, daß diese Ansätze sich noch deutlich ausweiten werden.

* Thomas Fritz ist freier Mitarbeiter von WEED (Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung), Berlin, und engagiert sich bei ATTAC


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