Frieren für den Frieden in Leipzig
Montagsdemo gegen den Krieg: 30.000 Menschen
laufen die traditionelle Demorunde von 1989 ab.
Seit Dezember treffen sich hier die Leipziger
jeweils zum Wochenanfang. Ein Hauch von
Happening weht durch die Reihen
LEIPZIG taz »Die Kerzen fehlen«, stellt eine ältere
Dame beim Friedensgebet in der Nikolaikirche fest.
Ansonsten erinnert die Leipziger Montagsdemo in
vielerlei Hinsicht an die legendären Demonstrationen
von 1989.
Lautsprecherwagen werfen Parolen und wärmenden
Sound unter die 30.000 Friedensdemonstranten an
diesem kalten Märzmontag. Am Ring, entlang der
traditionellen Demorunde von 89, zeigt eine Studentin
ein frivoles Plakat mit einem weiblichen Unterleib: "The
only Bush I trust is my own!"
Gibt es morgen wirklich Krieg? Ein Hauch von
Happening weht durch die Reihen. Nicht zu vergleichen
mit der Mischung aus Angst und feierlichem Ernst von
damals, als man nicht wusste, ob das Politbüro
durchdreht und Panzer schickt. "Die Gefahr ist nicht so
hautnah spürbar", meint ein Paar, das 89 schon dabei
war und unverdrossen die Kerze im Marmeladenglas
hütet. Beide freuen sich, dass es nun viel bunter zugeht.
Anders als beispielsweise in der sächsischen
Landeshauptstadt Dresden gibt es keinen kleinlichen
Zoff um Rednerlisten und keine Phobie, unversehens in
den Schatten einer PDS-Fahne zu geraten. Ein
»Aktionskreis Frieden« koordiniert übergreifend.
Und natürlich lebt die Legende. "Man hat hier 89 schon
einmal mit Erfolg demonstriert. Das motiviert", meinen
zwei Studentinnen, die damals noch Kinder waren.
Leipziger Bürgerstolz, allergisch gegen jegliches
zentralistische und imperiale Gehabe, mag
hinzukommen.
Vor allem aber wirkt die evangelische Nikolaikirche im
Stadtzentrum bis heute als Nukleus dieser Bewegung.
Warum mobilisiert gerade Leipzig so viele
Kriegsgegner? "Weil es seit Anfang der Achtzigerjahre
die Friedensgebete gibt", antwortet der mittlerweile
59-jährige Pfarrer Christian Führer geradeheraus,
während ihm Aktivisten eines Friedensbusses ein
Regenbogentuch umhängen. Die Nikolaikirche und ihr
Pfarrer sind zu Synonymen für den Umbruch in der DDR
und nun wiederum für die Leipziger Antikriegsbewegung
geworden.
Genauso zaghaft wie 1989 hatte es nach einem Aufruf
auch Weihnachten 2002 wieder begonnen. Jetzt, ein
Vierteljahr später, aber gibt es kurz vor 17 Uhr kaum
noch einen Stehplatz in der momentan von Gerüsten
verstellten Kirche. Bei weitem nicht alle Besucher
beherrschen das Vaterunser oder den Luther-Choral
»Verleih uns Frieden gnädiglich«, wie sich zeigt.
Der Pfarrer mit dem ergrauten Igelschnitt findet wie stets
Worte, deren Klarheit ob des gewohnten Politchinesisch
geradezu irritiert. Banal, dumm, dreist und entsetzlich sei
dieser gewollte Krieg. Die Bibel hält genügend
Textstellen bereit: "Wer das Schwert nimmt, wird durch
das Schwert umkommen!" Das Bush-Amerika, und
diese Differenzierung ist Führer wichtig, würde mit
einem Krieg das Gesicht eines demokratischen Staates
und das Recht auf UNO-Mitgliedschaft verlieren. Hier
brandet spontaner Beifall auf, der eigentlich unterbleiben
sollte. Aber auch Saddams "Krieg gegen das eigene
Volk" wird angeprangert. Jährt sich doch der
Giftgasangriff gegen die Kurden an diesem Tag zum
fünfzehnten Mal.
Noch ein anderer bekommt bei der
Abschlusskundgebung auf dem Augustusplatz langen
Applaus für seine deutlichen Worte. Friedrich
Schorlemmer, der Wittenberger Theologe, sieht die
Stunde der Wahrheit auch für die Lügen des
amerikanischen Präsidenten gekommen. "Der Gott Jesu
Christi ist kein Kriegsgott", wehrt er sich gegen dessen
Vereinnahmung durch amerikanisches
Gottesgnadentum.
Antiamerikanismus? Das sich selbst als linksradikal
bezeichnende Leipziger »Bündnis gegen Rechts« verteilt
ein Flugblatt. In diesem greift es den
»antiamerikanischen Konsens« an, der eine
Verschleierung eigener Großmachtambitionen darstelle.
Einzig die Abschaffung des Kapitalismus böte dem
ewigen Frieden eine Chance.
"MICHAEL BARTSCH
taz Nr. 7008 vom 19.3.2003, Seite 4, 129 Zeilen
(TAZ-Bericht), MICHAEL BARTSCH
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