Der Erwählte ist ein 1951 erschienener Roman des deutschen Schriftstellers Thomas Mann. Als seine Entstehungszeit gilt die Zeit von Januar 1948 bis Oktober 1950.
Inhaltsverzeichnis [Verbergen]
1 Hintergrund
2 Inhalt
2.1 Wiligis und Sibylla
2.2 Gregorius auf der Insel
2.3 Auf dem Festland
2.4 Die Buße
3 Deutung
4 Formale Strategie des Autors
5 Zeugnis
6 Literatur
Hintergrund [Bearbeiten]Bei dem Roman handelt es sich um eine thematisch abweichend fokussierte Neuerzählung des Werkes „Gregorius“ von Hartmann von Aue aus dem 12. Jahrhundert. Hartmanns in Versform verfasste, mittelhochdeutsche Erzählung bezieht sich wiederum wohl auf die französische Legende „Vie du pape Gregoire“. Aus denselben Quellen schöpft die ebenfalls von Thomas Mann ausgewertete Erzählung »Von der wundersamen Gnade Gottes und der Geburt des seligen Papstes Gregor« in der spätmittelalterlichen Exempel-Sammlung Gesta Romanorum.
Inhalt [Bearbeiten]
Wiligis und Sibylla [Bearbeiten]Thomas Mann siedelt die Romanhandlung in Flandern-Artois an, in dem das Herzogspaar Grimald und Baduhenna ein glückliches Leben am Hofe führen. Nur der bislang unerfüllte Kinderwunsch steht ihrer Erfüllung noch im Wege. Als dieser sich doch erfüllt, muss Grimald dafür den Tod seiner Frau im Kindbett hinnehmen. Die aus dieser Geburt hervorgegangenen Zwillinge Sibylla und Wiligis werden vom Vater in herzoglicher Manier aufgezogen. Besonders seiner Tochter bringt Grimald sehr viel Liebe und Stolz entgegen. Beide Kinder sind von ausnehmender Schönheit.
Der Vater kann sich der Heiratsanträge für seine Tochter aus den Königshäusern der umgebenden Länder kaum erwehren aber lehnt diese samt und sonders, teils sehr unwirsch, ab. Auf dem Sterbebett legt er besonders die Aufgabe für Sibylla zu sorgen in die Hände seines Sohnes. Doch die beiden Zwillinge, die in enger Verbundenheit und in einer narzisstischen Selbstverliebtheit ihre Zeit meist nur miteinander verbracht haben, können niemanden Fremden als ihrer Art würdig wahrnehmen. Dieser gegenseitige Narzissmus führt zum Inzest der beiden. Sibylla wird von ihrem Bruder schwanger.
Voller Entsetzen und Verzweiflung ob ihrer Tat wenden sie sich an Ritter Eisengrein, einen Berater ihres Vaters, was zu tun sei. Der Ratspruch lautet zuerst, Sibylla zur Niederkunft auf die Burg des Ritters zu bringen, und Wiligis zur Läuterung seiner Sünden auf den Kreuzzug in das heilige Land zu schicken. Auf dem Weg dorthin, noch vor der Einschiffung in Marseille stirbt Wiligis an seinem gebrochenen und überforderten Herzen. Sibylla bringt einen Sohn zur Welt, der in einem Fass auf einem Boot in den Ärmelkanal ausgesetzt wird. Heimlich legen Eisengreins Frau, die auch Sibyllas Hebamme ist, und Sibylla dem Kind in dem Fass eine stattliche Summe zur Versorgung und eine Tafel bei, in der die Herkunft des Kindes als adelig, aber auch als aus dem Inzest entstanden beschrieben wird.
Gregorius auf der Insel [Bearbeiten]Auf einer Kanalinsel wird das Kind nun von Fischern gefunden. Der Abt dieser Insel, Gregorius, hält seine schützende Hand über das Kind. Er arrangiert zuerst seine Aufbringung bei einer Fischerfamilie und kümmert sich später selbst um seine Erziehung. Diese Erziehung auf den Gebieten der alten Schriften, des Rechtswesens und der christlichen Lehre und seine auffallend hübsche Gestalt lassen den ebenfalls Gregorius getauften Jungen im Jugendalter mit seinem Ziehbruder in Konflikt geraten. Obgleich Gregorius sich nicht mit der Stärke seines Bruders aus der Fischerfamilie messen kann, ist er diesem wegen seiner Konzentration und Geschicklichkeit körperlich und sportlich immer ebenbürtig. Gregorius' Bruder will durch einen Streit ein Kräftemessen erzwingen, im Kampf jedoch schlägt Gregorius ihm die Nase ein. Die Mutter, des blutenden Bruders ansichtig, kann nicht an sich halten und gibt zeternd Gregorius' wahre Herkunft preis. – Gregorius hört dies und stürzt verständlicherweise in eine Identitätskrise. Der Abt muss ihn nun vollständig über seine Vergangenheit und die Umstände seiner Ankunft auf der Insel aufklären und gibt ihm auch die Tafel. Nichts kann Gregorius davon abhalten, die Insel zu verlassen um am Festland die Wurzeln seiner Herkunft zu ergründen und seine Eltern zu erlösen. Die in seinem Fass in ein Brot eingebackenen Goldstücke waren vom Abt schon bald nach seiner Auffindung einem Juden zur Vermehrung abgegeben, so dass mit dem daraus über die Jahre entstandenen Vermögen die Ritterausrüstung des Gregorius angeschafft werden kann. Damit endet der erste Teil und Gregorius kommt nach 17 Jahren auf das Europäische Festland.
Auf dem Festland [Bearbeiten]Dort angekommen, erhält er Kunde vom »Minnekrieg«, d.h. der Belagerung der Stadt Bruges, Sitz der Herzogin Sibylla, seiner Mutter, durch Herzog Roger, einem gewaltsamen Freier, der das Land seit Jahren verwüstet, im unbedingten Drang, die Herzogin zur Frau zu erhalten.
Erfüllt vom jugendlichen Tatendrang und zur Sühne seiner Schuld, die in seinem schieren Dasein besteht, besiegt Gregorius den Belagerer im Zweikampf und befreit somit die Herzogin und das Land. Der Rat des Herzogtums legt trotz dieser Befreiung der Herzogin ans Herz, sich zu vermählen, auf dass sich solche Ereignisse nicht wiederholen. Die Herzogin willigt ein und nimmt ihren Sohn, den Befreier, zum Mann.
Diese Ehe, aus der wiederum zwei Töchter entspringen, währt wenige Jahre, bis die Herzogin von einer neugierigen und geschwätzigen Magd auf das Geheimnis ihres Gemahls hingewiesen wird: Allein in seiner Kammer schluchzt der Herzog Gregorius regelmäßig über einer Tafel. Ein Jagdausflug des Herrschers wird alsbald genutzt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Sibylla fällt es beim Erkennen der Tafel, die aus ihrer eigenen Hand stammt, in Ohnmacht. Erneut ist die von ihr ersehnte Liebe zum Inzest geworden. Sie verzweifelt und droht zu sterben - man ruft den Herzog, welcher bei seiner Ankunft seine geliebte Frau als seine eigene Mutter wiederfinden muss. Der Schmerz scheint bodenlos, doch Gregorius findet zumindest die Kraft, die nächsten Schritte zu ordnen. Sibylla solle abdanken und sich der Pflege der Ärmsten und Kranken widmen, er wolle sich als Eremit einem Leben in Buße hingeben.
Die Buße [Bearbeiten]Auf seiner Wanderung durch die Wildnis kommt er zu einem Fischerhaus, welches aber zuerst außer der beißenden Verachtung des Fischers nichts für ihn zu bieten hat. Nur das Mitleid der Fischersfrau ermöglicht ihm zumindest ein Nachtlager im Schuppen. Am kommenden Morgen wird er vom Fischer mit dem Boot zu einem mächtigen Stein inmitten eines Sees gebracht und oben auf diesem mit einem Eisen angekettet. Dort, auf diesem Stein, verhindert sein Verhungern eine wunderbare Nahrungsquelle aus dem Innersten der Erde, die ihn jeden Tag erneut sättigt, wie die Mutter das Kind an der Brust. Auf diesem Felsen lebt und büßt er nun weitere 17 Jahre, bis er von zwei römischen Gesandten befreit wird.
Während seiner Zeit der Buße kommt es nämlich in Rom, nach dem Tod des letzten Papstes, zu einem Aufruhr und Bürgerkrieg verfeindeter Parteien und damit letztlich zum Schisma der Kirche. In dieser scheinbar ausweglosen Lage erscheint zwei hochstehenden Römischen Bürgern, einem Geistlichen und einem Laien, die Vision eines Opferlammes, welches genaue Angaben über einen Einsiedler im fernen Norden macht. – In Flandern auf einem Stein sei der Büßer Gregorius zu finden, und der sei der nächste Papst. Beide machen sich unverzüglich auf die Reise und finden schließlich zu Gregorius auf dem Stein mit Hilfe eines Fischers. Dieser hatte den Reisenden einen Fisch zum Mahl angeboten, in dem aber der Schlüssel zu Gregorius' Fessel zum Vorschein kam. Dieses Omen, das der Fischer damals spöttisch mit den Worten: »Berg ich den je aus der Wellentiefe und sehe ihn wieder, dann will ich dir abbitten, Heiliger.« vorweggenommen hatte, bewegt ihn, die Römer zu dem Stein überzusetzen. Der Fischer, der davon ausgehen muss, nur die sterblichen Überreste des Gregorius vorzufinden, aber auch die beiden Gesandten werden nun auf eine schwere Probe gestellt, da sie statt des Erwählten nur ein verkümmertes Wesen finden, das zu ihrem Erstaunen mit ihnen spricht. Gefragt nach seinem Namen und seiner Herkunft antwortet das Wesen wie prophezeit. Der Kleriker kann darüber nur spotten. Man möge doch bitte kein Murmeltier zum Papst machen, die Muslime würden mit dem Lachen nicht mehr aufhören. Als das struppige Tierchen ungefragt den enttäuschten und sich schon abwendenden Besuchern mitteilt: »Ich kann auch Latein«, ist der Laie überzeugt und kann den widerstrebenden Kleriker überreden. Schon auf der Bootsfahrt zum Festland kommt es zur Rückverwandlung des Gregorius in seine stattliche Menschengestalt.
In Rom wird dieser nun zum Papst gekrönt und führt die Kirche durch seine Energie, aber auch sein Charisma in eine neue, glanzvolle Phase. Einige Jahre später beschließt seine Mutter, im Dienst an den Bedürftigen gealtert, nach Rom zu pilgern und wird dort auch von dem Papst Gregorius empfangen. Beide geben zuerst vor, einander nicht zu erkennen, zu guter Letzt fallen sich aber Mutter und Sohn erlöst in die Arme. In diesem letzten Abschnitt bekennen sie auch, insgeheim bei ihrer Hochzeit die Identität des anderen geahnt zu haben.
Deutung [Bearbeiten]Das zentrale Thema des Romans ist der schicksalhaft-unterbewusste Inzest der Protagonisten. In diesem Mythos, oft als Christlicher Ödipus bezeichnet, findet der Inzest in zwei Generationen statt. Wiligis und Sibylla verfallen in ihrer Selbstliebe einander und der daraus entstandene Sohn Gregorius heiratet siebzehn Jahre später seine Mutter. Auch der zweite Inzest ist verwerflich und vermeidbar, weil Sohn und Mutter (vgl. letztes Kapitel) die wahre Identität des anderen ahnen.
Der Vergleich mit Ödipus ist berechtigt, gerät Gregorius ja gerade durch die Suche nach seinen Wurzeln wieder an seine Mutter. Doch gerade an dieser Stelle, der Heirat mit seiner eigenen Mutter, kommt das weitere große Element des Romans ins Spiel: Die Schuld. Die Schuld in Form der Selbstliebe, des Narzissmus. Durch die gegenseitige und unbändige Faszination schreiben Mutter und Sohn alle Bedenken und Vorsichten in den Wind.
Im Übrigen hat der Autor den Inzest zweier von ihrer gemeinsamen Einzigartigkeit überzeugter Geschwister bereits früh behandelt (Wälsungenblut), jedoch damals unterschwellig andere Probleme fokussierend.
Die Frage freilich bleibt, ob wirklich eine moralische Schuld der Protagonisten vorliegt, oder ob die Parodierung der christlichen Vorgaben diese selbst affiziert.
Formale Strategie des Autors [Bearbeiten]Einschachtelungen entfernen das hochheikle Thema aus Manns Gegenwart. Er erfindet den gleich anfangs auftretenden Geist der Erzählung, dem wir einen fiktiven Erzähler, Clemens den Iren, danken, der nun endlich die Geschichte erzählen darf. Dergestalt fällt es Mann besonders leicht, sich über die Sittenstrenge und Moralvorstellungen dieser Zeit, wie sie vor allem die katholischen Kirche vertrat, aber auch über die Freizügigkeit des Adels lustig zu machen. Besonders die Auffindung des zukünftigen Papstes in Gestalt eines Murmeltiers ist ein Muster der Ironie und des Spottes.
Zeugnis [Bearbeiten]»Bis zum Erfühlen der Ironieen dieser entzückenden Dichtung wird es bei den meisten Lesern reichen, aber wohl nicht bei allen bis zum Erkennen des Ernstes und der Frömmigkeit, die noch hinter diesen Ironieen steht und ihnen erst die wahre, hohe Heiterkeit gibt.«
Hermann Hesse am 8. November 1950 an Thomas Mann [Anni Carlsson (Hrsg.), Volker Michels (Hrsg.):Hermann Hesse - Thomas Mann. Briefwechsel. S.283. Frankfurt a. M. 1999, ISBN 351841038-5]
Literatur [Bearbeiten]Klaus Makoschey, Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns. 'Joseph, der Ernährer', 'Das Gesetz', 'Der Erwählte', Frankfurt am Main 1998 (= Thomas Mann Studien, Bd. 17), S. 123-235.
Volker Mertens, Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption, Zürich / München 1978.
Andreas Urs Sommer, Neutralisierung religiöser Zumutungen. Zur Aufklärungsträchtigkeit von Thomas Manns Roman ‚Der Erwählte‘, in: Rüdiger Görner (Ed.), Traces of Transcendency. Spuren des Transzendenten. Religious Motifs in German Literature and Thought (= Publications of the Institute of Germanic Studies, University of London, School of Advanced Study, vol. 77), München 2001, S. 215-233.
Ruprecht Wimmer, Der sehr grosse Papst. Mythos und Religion im Erwählten, in: Thomas Mann Jahrbuch, Bd. 11 (1998), S. 91-107.
Hans Wysling, Thomas Manns Verhältnis zu den Quellen. Beobachtungen am 'Erwählten', in: Paul Scherrer / Hans Wysling, Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns, Bern / München 1967 (= Thomas Mann Studien, Bd. 1), S. 258-324.
Von „http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Erw%C3%A4hlte“
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