Ein typischer Begriff des neuzeitlichen Geschichtsverständnisses, das die Gegenwart als Ergebnis der Geschichte begreifen will, die Historie zum Erklärungsmodell der Gegenwart wird. Alexander Kluge hat diesen Irrtum in einem Filmtitel auf den Punkt gebracht: den Angriff der Gegenwart auf den Rest der Zeit. Dieser Irrtum hat schwerwiegende Folgen. Er rechtfertigt eine ständige Neubewertung der Geschichte je nach der sich verändernden Gegenwart. Ständig muß die Geschichte neu geschrieben werden, ständig wird ältere Geschichtsschreibung entwertet. Ein konkretes Beispiel ist die Geschichtsschreibung zum ersten Weltkrieg, die sich über mehr als fünfzig Jahre ausschließlich mit der Generalfrage nach »Schuld« befasste. Insbesondere die »Kriegsschuldfrage« und ihre vom Kriegsergebnis vorgegebene Antwort hat die Geschichtswissenschaft insofern zum scholastischen Hilfsarbeiter der Sieger und der Revolutionäre gemacht - ein Zugriff, aus dem sie sich bis heute nur unvollkommen befreien konnte. Mir persönlich ist die alte These Ranke's lieber, daß die Geschichtswissenschaft sich um die Feststellung bemüht, »wie es wirklich gewesen« ist.