»Wir sind eine der gemeinen Blumen auf den Wiesen. Etliche sind gelb an Farbe, andere sind blau, andere sind rot. Die gelb an Farbe sind, stinken einen Gestank. Wir wissen nicht, weshalb es ihr Los ist, da doch andere herrlich duften. Die einen und die anderen aber fürchten sich, zertreten oder gemäht zu werden. Solange die Knospen geschlossen sind, sind sie grün, die einen und die anderen. Und duftlos. Wenn ihre Farbe aufbricht, verbirgt sich nicht länger der Gestank und der Duft. Das vorher Unentschiedene ist plötzlich entschieden: was ihnen vorbestimmt war. Und je schöner und größer die Farbe und Form der Blüte, desto größer ihr Gestank und ihr Duft. Ich bin in diesem Jahre aus dem Grün ausgebrochen zu einer Farbe. Das ist geschehen. Und es schmerzt mich, weil ich die Ahnung habe, ich gehöre zu den Gelben. Ich fühle eine Schuld, wiewohl ich schließen müßte, die gelbe Blüte ist schuldlos. Doch ich bin ein Mensch. Und es wird gesprochen: Es lebt der Mensch mit der Fähigkeit zu erkennen. Er erkennt gut und böse. Es ist ein göttlicher Stoff in ihm. Nichts Triftiges kann ich gegen die Meinung ins Feld führen, daß es so sei. In Augenblicken doch vermisse ich das Buch, das die Menschen in ihrer Buntheit beschreibt und in ihrer unterschiedlichen Existenz. Eystein, die Dichter haben es nicht vermocht, einen Tag eines Einfarbigen zu beschreiben. Dieser Tag hat 86400 Sekunden, und ein Mensch erlebt sie mit zwei Billionen einzelner lebendiger Zellen, die täglich aus ihrer Mitte viele Millionen Samenzellen erwählen und von sich abspalten, deren jede einzige befähigt ist, wieder er selbst zu werden. Welche Verwirrung! Unsere Gedanken sind verflucht, dies Labyrinth durchjagen zu können. Wir essen, Eystein, und die Speise wirkt in uns. Diese Milch, dies Fleisch, die Pflanzen. Wenn wir Kaffee trinken oder Alkohol, dann fressen unsere Nieren heftiger Wasser aus dem Blutsaft. Ich glaube, nur ein Gott hat dies anstellen können. Ich glaube an Gott, Eystein. Aber ich hasse ihn.«
Hans Henny Jahnn: Perrudja
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