Irgendwann im Jahr 1969. Am späten Nachmittag hatte Theo gesagt: »He Spieler, eine neue Scheibe von Hendrix.« Dann hatten wir das neue LSD im Blut. Ein Freund und seine Freundin, die nur kifften, kamen aus Nürnberg und wollten bei uns Haschisch kaufen. Der Sommer war warm. Ich hatte mein Hemd ausgezogen und lag, nur in Unterhose und Jeans, auf Theos Matratze. Die war 80 Zentimeter breit und zwei Meter lang. Alle anderen saßen auf der (zum Schlafen aufklappbaren) Couch und in den Sesseln. Im Raum laute Musik. Einen Tag danach stand im lokalteil der »Frankfurter Rundschau«: »Rauschgiftparty in der Bahnhofsgegend aufgeflogen. In der Wohnung des 27jährigen Schriftstellers H.P.K. und des 18jährigen Studenten Theo S. lagen sie halbnackt auf Matratzen: sieben Jungen und ein Mädchen.«
Irgendwann 1970. Ich hatte LSD genommen und sah den Film »Django«. Kurz danach, gleich nach dem kino, geschah etwas, das mich so verwirrte, dass ich nicht mehr wußte, wo und wie ich war. Noch im Kino? Ein Schauspieler in einem alten Film, den ich schnellstmöglich anhalten mußte? In der Wirklichkeit? - Es geschah in der Bockenheimer Anlage, die wir »die Shitwiese« oder »die Sien« (Szene) nannten. Eine Wiese auf einem Hang, auf der ich allerlei Kram verkaufte (ehrlicher gesagt: verkaufen ließ). Vor mir stand ein Schuldner, der sich, vor meinen Augen, überraschend, in einen Terroristen verwandelte, indem er seine Jacke öffnete und mir eine Pistole in einem Schulterhalfter zeigte. ich sah das Ding und hörte, abrupt, auf Drohungen auszustoßen. So standen wir einander gegenüber. Ich, ein größenwahnsinnig gewordener Rauschgifthändler, und er, der kleine Abhängige. Schnell machte er seine Jacke wieder zu, als hätte er mir, begleitet von seiner Freundin, die Pistole nur gezeigt, um mich aus einem sinnlosen Traum zu reißen und mir anzukündigen, daß meine mit Blindheit geschlagene Existenz nun beendet, nur eine schwachsinnige Zeit der Vorbereitung gewesen sei, und daß ich mich nun der Wirklichkeit stellen mußte. Er, sein Gesicht mir zugewandt, ich, wie von einer erschreckenden erscheinung gebannt, so standen wir uns für Augenblicke gegenüber, Augenblicke, die nicht Bruchteile der Zeit, sondern Wegweiser zur Ewigkeit waren. Als mein Bewußtsein zurück und wieder im Bereich der Zeit war, gingen wir in ein Cafe, um vernünftig miteinander zu reden.
Er war ein Kleindealer und bei mir in den roten zahlen. ich ein Kleindealer und bei hans in den roten zahlen. Kleindealer, die bei mir hoch verschuldet waren, hatten das real existierende Geld zusammengeworfen (genauer gesagt: der kleine Harald hatte es eingesammelt), und bei Daki, einem Griechen eingekauft. Daki war neu in Frankfurt, in der Diskothek »Club 65«, damals bekannt als Drogenmarkt, aber für Theo und mich gefährlich aufgrund der aggressiven Konkurrenz. in dieser Disko hatte der Grieche den kleinen Harald angesprochen, denn der trug lange Haare und war 16, konnte (damals!) noch kein Polizist, Polizeischüler oder Spitzel sein. Daki hatte den kl. Harald, der so hieß weil es (Körpergröße!) in der Szene auch einen großen Harald gab. Daki hatte den kleinen gefragt: »Wer etwas zum kiffen verkaufen« könne. Der kleine hatte grinsend geantwortet: »Ich.« Aber daki wollte, in der Wahrheit, nicht kaufen, sondern verkaufen. Zehn Kilo Libanonshit (für ihn nur ein Anfang), beste Qualität, zu einem Preis, von dem die Clique über uns (Hans, Haschpeter, Klint) nur träumen konnten. Aber, der kleine Harald und seine Freunde konnten die connection nur halten, wenn sie schnell kauften und verkauften, Daki war ungeduldig. »Die Sache ist einfach die«, sagte der kl. Harald zu mir am Tag nach der Begegnung mit Gerald und seiner Freundin, »die Sache ist einfach die, entweder du und wir, oder du und Hans.«
Schnell verkaufen war am leichtesten möglich, wenn die Konkurrenz unterboten wurde. Folgerichtig fielen die Preise. Der zweite hammer für Dealer, di3e nicht an diesen kanal angeschlossen waren, war die Qualität. Die war so gut, wie Klint, Hans, Haschpeter noch nie geliefert hatten. Eine Zeitlang danach wußte ich, am Anfang, wenn Neue neu ins Geschäft kommen wollen, liefern sie immer das Beste.
Kurz nach meinem gespräch mit dem kl. harald beschloss die Clique über uns, dass im »Club 65« und in der bockenheimer Anlage beim Stadtbad West (»Shitwiese«) ein Gramm nicht mehr unter acht Mark verkauft werden darf. Dann kam ein Junge zu uns in die Wohnung und schrie: »Spieler! Auf der Wiese werden deine Leute zusammengeschlagen.« die Wiese war etwa einen Kilometer (oder weniger) von unserer Wohnung entfernt. Theo, peter, Gerald und der kl. Harald schlüpften in ihre Jacken und liefen zur Wiese. Sie wurden von ordonanz-offizieren begleitet. Das war eine Jugend, die durch das Weltbild der Hippies beeinflußt und mitgeformt wurde. eine Jugend, die den herkömmlichen Umgang mit der Würde der Person als verletzend empfand, und es (in der Regel) entsetzt ablehnte, den eigenen zarten Astralkörper in das obskure Getümmel eines Konkurrenzkampfes zu werfen, so jede Selbstachtung aufs Gröbste zu verneinen, und durch Drohgebärden und Imponiergehabe einen langweiligen, weil traditionell monotonen Streß herbeizuführen.
Nicht meine »Leute«, Mike war zusammengeschlagen worden. Mit dem hinweis, er hätte das Preisdiktat der über uns vereinigten Clique mißachtet. Vier Gammler, Rotwein trinkende Brutalotypen, die Theo schon in München, als er, vor seiner Dealer-Zeit, dort rumgammelte, gesehen hatte. Aus München kam auch Haschpeter, an dem man erkannte, dass er gern Schweres, Fettes, Grobes aß, aber auch immer in Eile war, weil er, als Pascha, ein Geschäft und eine Familie regieren, kurz: schnell alt werden wollte. Da er immer nur mit Chauffeur als Leibwächter und Begleiterscheinung auftauchte, wußte ich, dass er sich an amerikanischen Gangsterfilmen, gedreht nach den 30er Jahren orientierte, die auch ich als Kind gesehen hatte.
Die Schläge, die Mike bekommen hatte, waren nicht so hart, wie es gestern und heute in Mode war (ist?). Mike mußte nicht ins Krankenhaus. Und für mich hatte die Sache auch Gutes. Haschpeter und hans waren eine Frima. Und ich bei Hans tief in den roten zahlen. Er kam, noch völlig uninformiert, mit einer Begleiterscheinung zu uns in die Wohnung. Meinte nach meiner Offenbarung: »Dann gib mir wenigstens einen Tausender«, und als ich das (ich hatte ja nur 1700 in der Tasche), als definitv unmöglich ablehnte, wurde er wütend. Es waren, als Bewohner, nur Theo und ich anwesend. dass der nun offen ausgebrochene Krieg viel Geld kosten würde (mehr Soldaten, neue Burgen, Schmerzensgeld für Mike) wischte Hans als abwegig und nicht zur Sache gehörend vom Tisch. Theos Einwand: die Lieferungen von Hans seien in letzter zeit arg schlecht (Theo: »zu viel Mehl beigemischt«, beantwortete er mit der Forderungen: »Dann gebt mir den Stoff zurück. Ich werde euch bewiesen, daß er zu verkaufen ist. Das ging natürlich nicht, wir hatten ihn ja, restlos, in Kommission gegeben. Auch mein Hinweis, dass meine roten Zahlen nicht mehr oder kaum noch in schwarze zu verwandeln sind, weil der kl. Harald (ich nannte den Namen nicht), 16 Jahre alt und Schüler einer privaten Handelsschule (der Besuch wurde von seinen Eltern finaziert), eine. wie er mir erklärte, «neue Aktiengesellschaft» gegründet hatte, eine Gesellschaft, die sich weigerte alte Zahlen als noch verpflichtend anzuerkennen, war, meinte Hans. am Thema vorbei. Was auch immer ich sagte, sah er nur als Täuschungs- oder Ablenkungsmanöver. Er sagte: «Du kannst nicht jedem kleinen, nur weil er schöne Augen hat, so leichtsinnig und dumm in Kommission geben.» Und: «Wenn du dich auf deine Leute nicht verlassn kannst, dann kannst du, in der Zukunft, nicht hier in der Wohnung rumsitzen, sondern mußt selbst auf der Wiese verkaufen." Der total bekiffte Theo fiel lachend vom Stuhl.
Hypolite: »Das sit der gelebte dialektische Widerspruch.«
Sartre: »Ja, aber er sit nicht in Bewegung, er ist noch nicht in Bewegung.«
Sitzung der Sociéte Francaise de Philosophie am 2. Juni 1947, dokumentiert von Jean-paul Sartre in »Bewußtsein udn Selbsterkenntnis«, Rowohlt-Taschenbuch 1973, S. 83
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