Es ist gewiß schon eine Errungenschaft, daß wir heute dahin gelangt sind, dieses Grundübel der neuzeitlichen Musikentwicklung, diese innerste Ursache unserer melodischen Verarmung zu erkennen. Es ist auch zweifellos eine Errungenschaft, daß wir in den anfangs erwähnten Bestrebungen zum Ausbau unseres Tonsystems, in den weiterhin angedeuteten Bemühungen zur Neubelebung des polyphonen Musikempfindens Symptome einer Reaktion verzeichnen können, die gegen das vorwiegend harmonische Musikempfinden und -gestalten gerichtet sind und auf eine Stärkung und Betonung des melodischen Elementes zielen. Aber darüber dürfen wir uns doch keiner Täuschung hingeben, daß dies zunächst nur Ansätze und Einzelerscheinungen sind, und daß vor allem von diesen Ausgangspunkten allein aus eine wirkliche Neugestaltung unseres musikalischen Ausdrucksvermögens nicht erfolgen kann. Ob melodische oder ob harmonische Gestaltung überwiegen – dies ist eine Frage, die mehr die kritisch ästhetische Betrachtung angeht als den schöpferischen Musiker. Das eigentliche Problem der neuen Musik liegt darin, die Gesetze einer neuen Formung zu finden und aufzustellen, Gesetze also, die hervorgegangen sind aus der neuen, melodisch individualistischen Musikauffassung, und die beweisen, daß auch aus diesen heraus eine solche neue Formung erfolgen kann, ja daß diese neue Formung erst die Daseinsnotwendigkeit des ihr zugrunde liegenden Stilprinzipes erweist.
|