Auf einer nahegelegenen Weide röhrt seit Tagen immer wieder für ein oder zwei Stunden eine Kuh herum. Die sei bestimmt brünftig, spekuliert man. Das will ich aber nicht so recht glauben, nicht nur, weil ich die Brunft eher mit Rot- oder Damwild in Verbindung bringe. Es fällt nämlich auf, dass die Kuh dabei einfach nur auf der Wiese herumsteht und nichts weiter macht als den Hals vorzustrecken und zu brüllen. Ihre Weidegefährten blicken sie verständnislos an und fühlen sich anscheinend nicht im geringsten aufgefordert, irgendwelche brunftkonformen Aktivitäten zu ergreifen. Ebenso wenig wie die Kuh. Es scheint mir daher eher ein Ausdruck der Unzufriedenheit, der Verzweiflung und gar des Weltschmerzes zu sein, der diese einzigartige Kuh übermannt hat. Es mag eine Anklage gegen den Bauern sein, der sich nur für ihre Milch interessiert und alle anderen Seiten ihres Kuhwesens ignoriert. Vielleicht ist es die Einsicht in ihr Schicksal, das ihr im Schlachthof blüht. Nicht dass sie den Tod übermäßig fürchten würde - vielleicht natürlich auch das, es wäre nur kühlich - vielmehr ist es die Gleichgültigkeit, mit der ihre Gefährten vor sich hinweiden, und die Berechnung, mit der man ihr die Kehle durchschneiden will. Auf ihre kuhmäßige Weise denkend ist sie womöglich zu Einsichten gekommen, die uns völlig verschlossen sind und für unsere Augen hinter dem Horizont des Kuhdaseins verborgen liegen. Hoffentlich bleibt es ihr erspart, hören zu müssen, dass man sie nur des protestierenden Brüllens wegen für brünftig hält. Vielleicht sollte ich ihr zu ihrer Entspannung und Beruhigung einen Fernseher auf der Weide aufstellen oder ein Stück Schopenhauer vorlesen. Nun gut, sie wird es der fremden Sprache wegen wohl nicht verstehen, aber ich verstehe sie ja auch nicht so richtig. Aber ein wenig eben doch irgendwie.
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