Das neue Mittel hole ich mir in der Engel-Apotheke. In die Leonhardi-Apotheke,
wo ich bisher »Frisium 10« geholt habe, wage ich mich nicht
mehr. Vielleicht denken die, ich bin süchtig. Bin ich bereits süchtig? Warum
geht mir pausenlos diese Angst, süchtig zu sein, durch den Kopf? Süchtig, das
heißt abhängig. Abhängig von wem? Von meinem Partner, von meinen
Eltern? Eine ganze Zeitlang dachte ich, erwachsen geworden zu sein,
unabhängig und stark genug, um allein zurechtzukommen. Die Angst hat
mich auf ein Nichts zurechtgestutzt.
Eine Packung »Frisium« zu zehn, zwei zu zwanzig Tabletten, wovon eine
noch halb voll ist, rechne ich auf dem Weg zur Apotheke nach. Wieder auf
der Straße, greife ich nach der lila Schachtel in der kleinen Plastiktüte, öffne
sie, ziehe den Beipackzettel heraus, lese: »Der Wirkstoff des Sigacalm schirmt
die emotionellen und affektiven Steuersysteme rundum gegen Reizüberflutung
ab. Daraus resultiert eine ausgewogene Gemütslage mit ruhiger Gelassen-heit.«
Und einige Zeilen weiter heißt es: »Zur Rückgewinnung normaler
vegetativer Reaktionen kann Sigacalm kurmäßig angewendet werden.«
Kurmäßig, das ist gut. Reizüberflutung, ja, das ist es. Ich kann die Fülle der
auf mich einstürmenden Wahrnehmungen nicht mehr bewältigen. Die
Bandbreite meiner Sinne ist ins Unermessliche gestiegen. Ohren, Augen,
Nase haben ihre Antennen bis auf das Äußerste ausgefahren. Der Osterfladen
vom Bäcker Meinhoff schmeckt plötzlich penetrant nach künstlichem
Zitronenaroma; das Singen der Vögel am Morgen hört sich an wie ein
entrüstetes Pfeifkonzert; das Rasseln herunterfallender Rollläden, das Fiepen
elektronischer Kassen im Geschäft, die Wortfetzen vorübergehender
Menschen auf der Straße, der Motorenlärm von Autos - alles scheint mit einem Verstärker ausgerüstet zu sein, der nur eines im Sinn hat: mich fertig zu
machen, mich weichzukochen, mich unterzukriegen.
Ich kann doch nicht einfach lückenlos umsteigen, überlege ich auf der
Heimfahrt nach M.. erst von »Tranxilium« auf «Frisium«, jetzt von »Frisium«
auf »Sigacalm«. Ich werde heute gar nichts einnehmen und warten bis zum
Schlafengehen. Der Tag wird vorübergehen, auch ohne Tablette. Wie gut,
dass es bald Abend ist.
[...]
Als ich gegen fünf Uhr morgens aufwache, zetern die Vögel. Unter dem
Kopfkissen hole ich ein Stück Traubenzucker hervor, drehe mich auf den
Rücken und lasse den Morgen kommen.
Mir graut, wenn ich an das Stück Autobahn denke: Lichthupen, die immer
näher kommen, aufdringliche Bremslichter in der Heckscheibe des
Vordermanns, stumm gestikulierende Autofahrer und Philip, der brüllt:
»Fahr, Mutti, fahr!«
Ich schließe die Augen zum Autogenen Training. Die geballte Faust im
Hinterkopf bohrt ein tiefes Loch in die Matratze und lässt sie wie eine Wippe
nach hinten kippen. Die Augen kugeln nach innen, Hände, Beine und Körper
schwimmen davon.
Ich denke an die halbe Tablette, die ich gleich in meine blei-schwere
Müdigkeit hinunterschlucken werde. Dieses Leben von Tablette zu Tablette,
eine halbe morgens, eine halbe mittags, eine halbe abends, teilt den Tag in
drei Teile, lässt mich auf die Uhr schauen, wie lange es noch hin ist bis zur
nächsten, und hält mich fest an einer Stelle, die von tiefen Gräben umgeben
ist. Ich werde mir ein Erfolgserlebnis verschaffen, die weißen Dinger
weglassen, über den Graben springen und weitergehen. Heute nur noch eine
viertel Tablette zu den Mahlzeiten, morgen auch, übermorgen ohne Krücken.
Ein paar Baldrian-Hopfenperlen, als Ersatz, werde ich mir mitnehmen auf die
Reise.
Langsam steige ich aus dem Bett. Dieses Turnen am Morgen einmal Spagat,
Seitwärtsschwingen mit gestrecktem Oberkörper, zehnmal rechts, zehnmal
links - sagt mir, dass ich noch viel, viel Kraft habe.
Werde ich heute Nacht schlafen können? Ohne Zittern, ohne Angst, mit
diesem lächerlichen Viertel Tablette? Ich horche in mich hinein. Und wenn
die Angst im Schlaf kommt? Und wenn die Bilder kommen? Nein, einfach
nicht daran denken. Vielleicht ist die Angst vor der Angst viel schlimmer als
die Angst selbst. Einen Augenblick lang denke ich an ein großes,
schäumendes, braunes Bier. Kloster-Bier. Bier hat mir noch nie etwas bedeutet, aber würde es mich nicht schlafen lassen wie ein Murmeltier? Nein.
Alkohol kommt nicht in Frage. Ich kann doch nicht jeden Abend Kloster-Bier
trinken.
Ich schließe die Augen, fahre mit der Hand in mein Haar, schiebe die
Kopfhaut hin und her. In der Mitte des Kopfes, so scheint es, steht eine Wand,
die ihn in zwei Hälften teilt und droht, ihn auseinander fallen zu lassen.
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