Große Schwierigkeiten bot mir von jeher (und bietet mir zum Theil noch jetzt) das Einnehmen der Mahlzeiten, das bis Ostern dieses Jahres (1900) stets allein auf meinem Zimmer stattfand. Kein Mensch hat eine Vorstellung davon, mit welchen Hindernissen ich dabei zu kämpfen hatte; denn während ich aß, wurde mir fortwährend im Munde herumgewundert; auch nahmen dabei die thörichten Fragen: »Warum sagen Sie's nicht (laut)?« usw. unbehindert ihren Fortgang, während doch das laute Sprechen für einen Menschen, der den Mund voll hat, nahezu eine Unmöglichkeit ist. Meine Zähne waren dabei beständig in großer Gefahr; es ist auch öfters vorgekommen,, daß mir einzelne meiner Zähne während des Essens durch Wunder zerbrochen sind. Oft wurden mir während des Essens Zungenbißwunder applizirt. Die Schnurrbarthaare wurden mir bei den Mahlzeiten fast regelmäßig dergestalt in den Mund hineingewundert, daß ich mich schon aus diesem Grunde entschließen mußte, mir den Schnurrbart im August 1896 ganz abrasiren zu lassen. Das Fallen des Schnurrbarts war aber auch noch aus anderen Gründen für mich zur Nothwendigkeit geworden, so wenig ich mir auch – am Tage – mit glattrasiertem Gesichte selbst gefallen mochte und noch gefalle. Mit Rücksicht auf die im Kap. XIII geschilderten Verhältnisse ist es für mich erforderlich, mich wenigstens in der Nacht mit Hülfe meiner Einbildungskraft als ein weibliches Wesen vorzustellen und dieser Illusion hätte natürlich der Schnurrbart ein kaum überwindliches Hinderniß bereitet. Solange ich allein aß, habe ich fast stets während der Mahlzeiten Klavier spielen oder lesen müssen, da es auch während des Essens immer geboten war, dem entfernten Gotte den Beweis der Unversehrtheit meiner Verstandeskräfte zu liefern; sofern ich dies nicht wollte, blieb mir kaum etwas anderes übrig, als das Essen im Stehen einzunehmen.
Daniel Paul Schreber:
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903)
S. 196 ff
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