Einunddreißigster Gesang.
Zum IX. Kreis. Der Brunnen. Die Giganten. Antäus setzt sie auf den Grund.
1
Dieselbe Zunge, die mich erst verletzte[405]
Und beide Wangen überzog mit Roth,
War’s, die mich dann mit Arzeneien letzte.
4
So, hör’ ich, hat der Speer Achills gedroht,
Und seines Vaters, der mit einem Zücken
Verletzt’ und mit dem andern Hülfe bot.
7
Wir kehrten nun dem Jammerthal den Rücken,[406]
Den Damm durchschneidend, der es rings umlag,
[175] Um, schweigend, mehr nach innen vorzurücken.
10
Dort war’s nicht völlig Nacht, nicht völlig Tag,
Daher die Blicke wenig vorwärts gingen;
Doch tönt’ ein Horn. Der stärkste Donner mag
13
Bei solchem Ton kaum hörbar noch erklingen,
Drum sucht’ ich nur, entgegen dem Gebraus,
Mit meinem Blick zu seinem Quell zu dringen.
16
Nicht tönte nach dem unglücksel’gen Straus,[407]
Der Karls des Großen heil’gen Plan vernichtet,
Des Grafen Roland Horn mit solchem Graus.
19
Wie ich mein Auge nun dorthin gerichtet,
Glaubt’ ich, viel hohe Thürme zu ersehn,
Und sprach: „„Ist eine Veste dort errichtet?““
22
Mein Meister drauf: „Weil du zu weit zu spähn[408]
Versuchst in diesen nachterfüllten Räumen,
Mußt du dich selber öfters hintergehn.
25
Dort siehst du, daß, wie oft, zu eitlen Träumen
Aus der Entfernung das Geschaute schwoll;
Drum schreite vorwärts ohne lang zu säumen.“
28
Dann faßt’ er bei der Hand mich liebevoll,
Und sprach: „Ich will dir die Bewandtniß sagen,
Weil’s nah dann minder seltsam scheinen soll.
31
Ob’s Thürme wären, wolltest du mich fragen?
Nein, Riesen sind’s, die rings am Brunnenrand
Vom Nabel aufwärts in die Lüfte ragen.“
34
Wie wenn der Nebel fortzieht, der das Land
In Dunst gehüllt, allmälig unsre Blicke
Das klar erkennen, was er erst umwand;
37
So, spähend durch die Luft, die trübe dicke,
Scheucht’ ich den Wahn, genaht dem tiefen Schlund,
Doch fühlte, daß mich neu die Furcht bestricke.
[176]
40
Gleichwie Montereggione’s Zinnen-Rund[409]
Zahlreiche Thürme ringsum mächtig krönen:
Thürmten sich, halb aufragend aus dem Grund,
43
Die Leiber von den wilden Erdensöhnen,
Von den Giganten, denen Jovis Droh’n
Noch immer gilt, wenn seine Donner dröhnen.
46
Vom nächsten sah das Angesicht ich schon,
Auch Schultern, Brust und großen Theil vom Bauche
Und hängend beide Arm’ abwärts davon.
49
Wenn die Natur nicht mehr nach altem Brauche
Dergleichen Wesen schafft, so thut sie recht,
Damit nicht Mars sie mehr als Schergen brauche.
52
Schafft sie den Walfisch auch und das Geschlecht
Der Elephanten noch, doch sicher findet,
Wer reiflich urtheilt, sie hierin gerecht,
55
Weil, wenn die Ueberlegung sich verbindet
Mit bösem Willen und mit großer Macht,
Jedwede Schutzwehr dann dem Volke schwindet.
58
Das Antlitz schien mir lang und ungeschlacht,
Sanct Peters Pinienzapfen zu vergleichen,[410]
[177] Und jedes Glied nach solchem Maß gemacht.
61
Es mochten wohl vom Strand, der von den Weichen
Ihn abwärts barg, der oberen Gestalt
Drei Friesen ausgestreckt nicht dahin reichen,[411]
64
Wo seine Stirn das borst’ge Haar umwallt,
Denn aufwärts maß er dreißig große Palmen,
Bis zu dem Ort, wo man den Mantel schnallt.
67
„Raphel mai amech zabi almen!“[412]
So tönt’ es aus den dicken Lippen vor,
Die nicht sich eigneten für sanftre Psalmen.
70
Mein Führer rief: „Nimm doch dein Horn, du Thor,
Und magst du Zorn und andern Trieb empfinden,
So sprudl’ ihn flugs durch seinen Bauch hervor.
73
Du kannst an deinem Hals den Riemen finden,
Verwirrter Geist, der’s angebunden hält.
Sieh doch ihn dort die dicke Brust umwinden!“
76
Darauf zu mir: „Sich selbst verklagt der Held;
Der Nimrod ist’s, durch dessen toll Vergehen
Man nicht mehr eine Sprach’ übt in der Welt.
79
Mit ihm ist nicht zu sprechen. Mag er stehen!
Kein Mensch versteht von seiner Sprach’ ein Wort,
Und er kann keines Andern Wort verstehen.“
82
Wir gingen nun zur Linken weiter fort,
Und fanden schon in Bogenschusses Weite
Den zweiten größern, wildern Riesen dort.
85
Nicht weiß ich, wem’s gelang, daß er im Streite
Ihn fing und band; doch vorn geschnürt erschien
Sein linker Arm und hinterwärts der zweite!
88
Denn eine Kett’ umwand vom Nacken ihn,
[178]
Um, was von seinem Leib nach oben ragte,
Nach unten hin fünfmale zu umziehn.
91
Da sprach mein Meister: „Mit dem Donn’rer wagte
Sein kühner Stolz des großen Kampfes Loos.
Hier aber sieh den Preis, den er erjagte.
94
Ephialtes ist’s. Sein Thun war kühn und groß[413]
Im Riesenkampfe, zu der Götter Schrecken;
Nun ist sein droh’nder Arm bewegungslos.“
97
Und ich zu ihm: „„Den ungeheuren Recken,
Den Briareus, wenn dies geschehen kann,[414]
Möcht’ ich wohl gern in diesem Thal entdecken.““
100
Mein Führer drauf: „Du siehst hier neben an[415]
Antäus stehn. Er spricht, ist ungebunden,
Und setzt uns nieder in den tiefsten Bann.
103
Der, den du suchst, wird weiterhin gefunden,
Gleich diesem hier, nur schrecklicher zu schau’n,
Allein wie er mit Ketten fest umwunden.“
106
Hier schüttelt’ Ephialtes sich, und traun!
Kein Erdenstoß, von dem die Thürme schwanken,
War heftiger, erregte tiefres Grau’n.
109
Ich glaubte schon dem Tode zuzuwanken,
Und sah ich nicht, wie ihn die Kett’ umschloß,
So gnügten mich zu tödten die Gedanken.
112
Wir gingen weiter, ich und mein Genoß,
Und sahn Antäus, der dem tiefen Bronnen
Fünf Ellen bis zum Haupte hoch, entsproß.
115
„Der du im Thal, das ew’gen Ruhm gewonnen,
[179] Weil Hannibal in ihm, der kühne Feind,
Mit seiner Schaar vor Scipio’s Muth entronnen,
118
Einst tausend Löwen fingst! – wenn du, vereint
Mit deinen Brüdern kühn den Arm geschwungen
Im hohen Krieg, so hätten, wie man meint,
121
Die Erdensöhne doch den Sieg errungen.
Jetzt setz’ uns dort hinab, wo, fern dem Licht,
Die starre Kälte den Cocyt bezwungen.
124
Zu Tityus noch Typhäus schick’ uns nicht,[416]
Das, was man hier ersehnt, kann dieser geben,
Verzerre drum nicht also dein Gesicht!
127
Er kann auf Erden deinen Ruf erheben.
Er lebt und hofft, wenn ihn nicht vor der Zeit
Die Gnade zu sich ruft, noch lang zu leben.“
130
Er sprach’s, und Jener, schnell zum Griff bereit,
Streckt’ aus die Hand, um auf ihn loszufahren,
Die Hand, die Herkul fühlt’ im großen Streit.
133
Virgil, kaum konnt’ er sich gepackt gewahren,[417]
Rief: „Komm hierher, wo dich mein Arm umstrickt!“
Drauf macht’ er’s, daß wir Zwei ein Bündel waren.
136
Wie Carisend’, von unten her erblickt,[418]
[180]
Sich vorzubeugen scheint und selbst zu regen,
Wenn Wolken ihr der Wind entgegenschickt:
139
So schien Antäus jetzt sich zu bewegen,
Als er sich niederbog, und großen Hang
Empfand ich, fortzugehn auf andern Wegen.
142
Doch leicht zum Grund, der Lucifern verschlang
Und Judas, setzt’ er nieder unsre Last,
Und, so geneigt, verweilt’ er dort nicht lang,
145
Und schnellt’ empor, als wie im Schiff der Mast.[419]
_______________
Zweiunddreißigster Gesang.
IX. Kreis des ewigen Eises. 1. Kaina. Bluts-Verräther. 2. Antenora. Vaterlandsverräther.
1
O hätt’ ich Reime von so heiserm Schalle,
So rauh, wie sie erheischt dies Loch voll Graus,
Auf welchem ruhn die andern Felsen alle,[420]
4
Dann drückt’ ich, was ich will, vollkommner aus,
Doch, sie nicht habend, geh’ ich nur mit Bangen
Jetzt an die Rede, wie zum harten Straus.
7
Denn nicht ein Spiel ist ja mein Unterfangen,
Den Grund des Alls dem Liede zu vertrau’n,[421]
[181] Und nicht mit Kinderlallen auszulangen.
10
Doch fördern meine Reim’ jetzt jene Frau’n,[422]
Amphions Hülf’ an Thebens Mau’r und Thoren,
Dann wohl entspricht mein Lied der Tat an Grau’n.[423]
13
O schlecht’ster Pöbel, an dem Ort verloren,
Der hart zu schildern ist, o wär’st du doch,
In unsrer Welt als Zieg’ und Schaf geboren!
16
Wir waren nun im dunkeln Brunnenloch[424]
[182]
Tief unterm Riesen, näher schon der Mitte,
Und nach der hohen Mauer sah ich noch.
19
Da hört’ ich sagen: „Schau’ auf deine Schritte,
Daß du den Armen nicht im Weiterziehn
Die Häupter stampfen magst mit deinem Tritte.“
22
Drum wandt’ ich mich, und vor mir hin erschien
Und unter meinen Füßen auch, ein Weiher,
Der durch den Frost Glas, und nicht Wasser, schien.
25
Die Donau bleibt im Frost vom Eise freier,
Und nah dem Pol selbst in der längsten Nacht
Deckt nicht den Tanais ein so dichter Schleier.
28
Und wäre Tabernik herabgekracht[425]
Und Pietrapan, nicht hätte nur am Saume
Bei ihrem Sturz dies harte Eis gekracht.
31
Wie Abends, wenn die Bäuerin im Traume
Noch Aehren liest – die Schnauze vorgestreckt,
Der Frösche Volk quäkt aus dem nassen Raume;
34
Also, bis wo das Schamroth sich entdeckt, (bis zum Nacken)
Fahl, mit dem Ton des Storchs die Zähne schlagend,
War elend Geistervolk im Eis versteckt,
37
Zur Tiefe hingewandt das Antlitz tragend,
Vom Froste mit dem Mund, und von den Weh’n
Des Herzens mit den Augen Zeugniß sagend.
40
Als ich ein Weilchen erst mich umgesehn,
Schaut’ ich zum Boden hin und sah von oben
Zwei, eng umfaßt, vermischt das Haupthaar, stehn.
43
„„Ihr, die ihr drängend Brust an Brust geschoben,
Wer seid ihr?““ sprach ich; dann, als sie auf mich,
Die Hälse rückend, ihre Blick’ erhoben,
46
Sah ich die Augen, feucht erst innerlich,
Von Thränen träufeln, die, noch kaum ergossen,
Zu Eis erstarrten; und sie schlossen sich,
49
Fest, wie nie Klammern Holz an Holz geschlossen;
Drum stießen sich im Grimme wilden Streits,
Gleich zweien Böcken, diese Qualgenossen.
52
Und einer, der sein Ohrenpaar bereits
Durch Frost verlor, brach, stets gebückt, das Schweigen:
„Was hängst du so am Schauspiel unsres Leids?
55
[183] Soll ich, wer diese beiden sind, dir zeigen?[426]
Das Thal, das des Bisenzio Flut benetzt,
War ihnen einst und ihrem Vater eigen.
58
Ein Leib gebar sie, und durchsuche jetzt
Kaina ganz, du findest sicher Keinen
Mit besserm Grund in dieses Eis versetzt –
61
Nicht ihn, deß Brust und Schatten einst durch einen[427]
Stoß seines Speers durchbohrt des Artus Hand,
Focaccia nicht, noch ihn, deß Kopf den meinen[428]
64
So deckt, daß mir die Aussicht gänzlich schwand,
Den, hörst du Sassol Mascheroni nennen,[429]
Du ein Toskaner, sicher leicht erkannt.
67
Jetzt hör’, um mir nur schleunig Ruh zu gönnen,
Ich, Camicion, hoff’ bald Carlin zu schau’n,[430]
Und werde neben ihm mich brüsten können!“
70
Und Hunden gleich, vom Froste blau und braun,
Sah tausend Fratzen ich empor sich heben,
Weshalb noch jetzt mir jedes Eis macht Grau’n.
73
– Und weiter ging’s zum Mittelpunkt zu streben,[431]
[184]
Auf welchem ruht des ganzen Alls Gewicht;
Selbst wandelt’ ich durch ew’gen Frost voll Beben.
76
War’s Vorsatz, war’s Geschick – ich weiß es nicht,
Genug, es stieß mein Fuß, beim Weitergehen
Durch viele Häupter, eins ins Angesicht.
79
„Was trittst du mich?“, so hört’ ich’s heulend schmähen,
„Rächst du noch schärfer Montapert an mir?[432]
Wenn aber nicht, weswegen ist’s geschehen? –“
82
„„Mein Meister,““ sprach ich, „„harr’ ein wenig hier,
Denn gern belehrt’ ich mich von diesem näher,
Dann folg’ ich, wie dir’s gut dünkt, eilig dir.““
85
Still stand, wie ich gewünscht, der hohe Seher,
Und Jener fluchte noch so wild wie erst,
Da sprach ich: „„Wer bist du, du arger Schmäher?““
88
„Und du, der du durch Antenora fährst,“
Sprach er, „wer du, der so stößt Andrer Wangen,
Daß es zu arg wär’, wenn du lebend wärst?“
91
„„Ich lebe,““ sagt’ ich. „„Hättest du Verlangen
Nach Ruf, so wird er dir durch mich zu Theil,
Drum wirst du wohl mit Freuden mich empfangen.““
94
Drauf Er: „Ich wünsche nur das Gegentheil,
Drum packe dich – in diesen Eisesmassen
Verspricht solch Schmeichelwort ein schlechtes Heil.“[433]
97
Da griff ich nieder, ihn beim Schopf zu fassen,
Und sagt’ ihm: „„Nöthig wird’s, daß du dich nennst,
Soll ich ein Haar auf deinem Kopfe lassen.““
100
Und Er: „Ob du mich zausen magst, du kennst
Mich dennoch nicht – nichts sollst du hier erkunden,
Wenn du mir tausendmal ins Antlitz rennst.“
103
Ich hielt sein Haar um meine Hand gewunden,
[185] Und ob schon ausgerauft manch Büschel war,
Schaut’ er hinab, und bellte gleich den Hunden.
106
Da rief ein Andrer: „Bocca, nun fürwahr,
Du ließest schon genug die Kiefern klingen,
Jetzt bellst du noch? Plagt dich der Teufel gar?“
109
„„Dich““, rief ich, „„mag ich nicht zum Reden zwingen,
Verräther du, allein zu deiner Schmach
Will ich zur Erde wahre Nachricht bringen.““
112
„Erzähle, was du willst, doch hintennach,“
Rief Bocca, „magst du diesen nur nicht schonen,
Der eben jetzo so geläufig sprach.
115
Sieh ihn für’s Gold der Franken hier belohnen,
Und sage, daß Duera da nicht fehlt,[434]
Wo ziemlich kühl und frisch die Sünder wohnen.
118
Und fragt man noch, wen sonst dies Eis verhehlt,
Dort siehst du Becheria’s Augen triefen,[435]
Den jüngst die Florentiner abgekehlt.
121
Auch wohnt Soldanier jetzt in diesen Tiefen,[436]
Gan, Tribaldello, der Faënza’s Thor
Den Feinden aufschloß, da noch Alle schliefen.“
124
Wir gingen fort und, etwas weiter vor
War Haupt auf Haupt gedrückt, ein Paar zu finden,
Das fest in einem Loch zusammenfror.
127
Wie man aus Hunger nagt an harten Rinden,
So fraß der Obre hier den Untern an,
Da wo sich Nacken und Gehirn verbinden.
130
Wie in die Schläfe Menalipps den Zahn[437]
[186]
Ein Tideus voll von wilder Wuth geschlagen,
So ward von ihm dem Schädel hier gethan.
133
„„O du, der du mit viehischem Behagen
Den Haß an diesem stillst, an dem du nagst,
Weshalb,““ begann ich, „„magst du dich beklagen?
136
Und hör’ ich, daß du dich mit Recht beklagst,
Und wer er sei, und was dein Nagen räche,
So lohn’ ich’ dorten dir, wo du erlagst,
139
Wenn diese nicht verdorrt, mit der ich spreche.““[438]
_______________
Dreiunddreißigster Gesang.
IX. Kreis. 2. u. 3. Antenora und Ptolemäa. Vaterlands- und Freundes-Verräther.
1
Den Mund erhob vom schaudervollen Schmaus
Der Sünder jetzt und wischt’ ihn mit den Locken
Des angefressnen Hinterkopfes aus.
4
Er sprach: „Du willst zum Reden mich verlocken:
Verzweiflungsvollen Schmerz soll ich erneu’n,
Bei deß Erinnrung schon die Pulse stocken?
7
Doch dient mein Wort, um Saaten auszustreu’n,[439]
Die Frucht der Schande dem Verräther bringen,
Nicht Reden werd’ ich dann, noch Thränen scheu’n.
10
Zwar, wer du bist, wie dir hieher zu dringen
Gelungen, weiß ich nicht, doch schien vorhin
Wie Florentiner-Laut dein Wort zu klingen.
13
Du höre jetzt: Ich war Graf Ugolin,[440]
[187] Erzbischof Roger Er, den ich zerbissen.
Nun horch, warum ich solch ein Nachbar bin.
16
Daß er die Freiheit tückisch mir entrissen,
Als er durch Arglist mein Vertraun bethört
Und mich getödtet hat, das wirst du wissen.
19
Vernimm darum, was du noch nicht gehört,
Noch haben kannst – den Tod voll Graus und Schauer,
Und fass’ es, wie sich noch mein Herz empört.
22
Ein enges Loch in des Verließes Mauer,
Durch mich benannt vom Hunger, wo gewiß
Man Manchen noch verschließt zu bittrer Trauer,
25
Es zeigte kaum nach nächt’ger Finsterniß
Das erste Zwielicht, als ein Traum voll Grauen
Der dunklen Zukunft Schleier mir zerriß.
28
Er jagt’, als Herr und Meister, durch die Auen
Den Wolf und seine Brut zum Berg hinaus,
[188]
Der Pisa hindert, Lucca zu erschauen.[441]
31
Mit Hunden, mager, gierig und zum Straus
Wohleingeübt, entsendet’ er Sismunden,
Lanfranken sammt Gualanden sich voraus.
34
Bald schien im Lauf des Wolfes Kraft geschwunden
Und seiner Jungen Kraft, und bis zum Tod
Sah ich von scharfen Zähnen sie verwunden.
37
Als ich erwacht’ im ersten Morgenroth,
Da jammerten, halb schlafend noch, die Meinen,
Die bei mir waren, und verlangten Brod.
40
Theilst du nicht meinen Schmerz, so theilst du keinen;
Theilst du, was bang zu ahnen ich begann,
Und weinest nicht, wann pflegst du dann zu weinen?
43
Schon wachten wir, die Stunde naht’ heran,
Wo man uns sonst die Speise bracht’, und Jeden
Weht’ ob des Traumes Unglücksahnung an.
46
[189] Da hört’ ich riegeln unter mir den öden,
Graunvollen Thurm – und in’s Gesicht sah ich
Den Kindern allen, ohn’ ein Wort zu reden.[442]
49
Ich weinte nicht, so starrt’ ich innerlich;
Sie weinten, und mein Anselmuccio fragte:
Du blickst so, Vater! ach, was hast du? sprich!
52
Doch weint’ ich nicht, und diesen Tag lang sagte
Ich nichts, und nichts die Nacht, bis abermal
Des Morgens Licht der Welt im Osten tagte.
55
Als in mein jammervoll Verließ sein Strahl
Ein wenig fiel, da schien es mir, ich fände
Auf vier Gesichtern mein’s und meine Qual.
58
Ich biß vor Jammer mich in beide Hände,
Und Jene, wähnend, daß ich es aus Gier
Nach Speise thät’, erhoben sich behende
61
Und schrien: Iß uns, und minder leiden wir!
Wie wir von dir die arme Hüll’ erhalten,
O, so entkleid’ uns, Vater, auch von ihr.
64
Da sucht ich ihrethalb mich still zu halten,[443]
Stumm blieben wir den Tag, den andern noch.
Und du, o Erde, konntest dich nicht spalten?
67
Als wir den vierten Tag erreicht, da kroch[444]
Mein Gaddo zu mir hin mit leisem Flehen:
Was hilfst du nicht? Mein Vater, hilf mir doch!
70
Dort starb er – und so hab’ ich sie gesehen,
Wie du mich siehst, am fünften, sechsten Tag,
Jetzt den, jetzt den hinsinken und vergehen,
73
Schon blind, tappt’ ich dahin, wo jeder lag.
[190]
Rief sie drei Tage, seit ihr Blick gebrochen;
Dann that der Hunger, was kein Schmerz vermag.“[445]
76
Und scheelen Blickes fiel er, dies gesprochen,
Den Schädel an, den er zerriß, zerbrach,
Mit Zähnen, wie des Hundes, stark für Knochen.
79
O Pisa, du, des schönen Landes Schmach,
In dem das Si erklingt mit süßem Tone,
Sieht träg dein Nachbar deinen Freveln nach,
82
So schwimme her Capraja und Gorgone,[446]
Des Arno Mund zu stopfen, daß die Flut
Dich ganz ersäuf’ und keiner Seele schone.
85
Denn, wenn auch Ugolino’s Frevelmuth,
Wie man gesagt, die Schlösser dir verrathen,
Was schlachtete die Kinder deine Wuth?
88
O neues Theben, war an solchen Thaten
Nicht ohne Schuld das zarte Knabenpaar,
Das ich genannt? nicht Hugo samt Brigaten? –
91
Wir gingen nun zu einer andern Schaar,[447]
Die, statt wie jene, sich hinabzukehren,
Das Antlitz aufwärts, eingefroren war.
94
Die Zähren selber hemmen hier die Zähren,
Drum wälzt der Schmerz, der nicht nach außen kann,
Sich ganz nach innen, um die Angst zu mehren.
97
Denn, was zuerst dem trüben Aug’ entrann,
Das war zum Klumpen von Krystall verdichtet,
[191] Und füllte ganz die Augenhöhlen an.
100
Und ob vom Frost, der solches Eis geschichtet,
Mein Antlitz wie bedeckt mit Schwielen schien,
Und deshalb jegliches Gefühl vernichtet,
103
Doch fühlt’ ich, schien’s, mir Luft entgegenziehn;
Drum sprach ich: „„Herr, wie mag hier Luft sich regen,
Wo nie die Sonne, dunstentwickelnd, schien?““
106
Und Er: „Du gehst der Antwort schnell entgegen,
Und siehst, wenn wir noch weiter fort gereist,
Aus welchem Grund die Lüfte sich bewegen.“
109
Da rief ein eisumstarrter armer Geist:
„Grausame Seelen, ihr, die jetzt vom Lichte
Zu dieser letzten Stelle Minos weist,[448]
112
Hebt mir den harten Schleier vom Gesichte,
Damit ich lüfte meines Herzens Weh’n,
Eh neu die Thräne sich zu Eis verdichte.“
115
Ich sprach: „„Soll dir’s nach deinem Wunsch geschehn,
So nenne dich, und wenn ich’s nicht erzeige,
So will ich selbst zum Grund des Eises gehn.““
118
Drauf Er: „Ich bin’s, der Frucht vom bösen Zweige[449]
Als Bruder Alberich dort angeschafft,
Und speise hier die Dattel für die Feige.“[450]
121
„„O,““ rief ich, „„hat der Tod dich hingerafft?““
Und Er zu mir: „Ob noch mein Leib am Leben,
Davon bekam ich keine Wissenschaft.
124
Denn Ptolemäa hat den Vorzug eben,
Daß oft die Seele stürzt in dies Gebiet,
Eh’ ihr den Anstoß Atropos gegeben.[451]
127
Und daß du lieber mir vom Augenlid
[192]
Verglas’te Thränen nehmest, sollst du wissen:
Sobald die Seele den Verrath vollzieht,[452]
130
Wie ich gethan, wird ihr der Leib entrissen
Von einem Teufel, der dann drin regiert
Bis an den Tod, indeß in Finsternissen
133
Des kalten Brunnens sie sich selbst verliert.
Vielleicht ist oben noch der Körper dessen,
Der hinter mir in diesem Eise friert.
136
Kommst du von dort, so magst du’s selbst ermessen.
Herr Branca d’Oria ist’s, der jämmerlich[453]
Schon manches Jahr im Eise fest gesessen.“
139
„„Ich glaube,““ sprach ich, „„du betrügest mich,
Denn Branca d’Oria ist noch nicht begraben,
Und ißt und trinkt und schläft und kleidet sich.““
142
Und Er darauf: „Es konnte jenen Graben,
An dem beim Pech die Schaar von Teufeln wacht,
Noch nicht erreicht Herr Michel Zanche haben,
145
Da war sein Leib schon in des Dämons Macht.
So ging’s auch dem von d’Oria’s Geschlechte,
Der den Verrath zugleich mit ihm vollbracht.
148
Jetzt aber strecke zu mir her die Rechte,
Und nimm das Eis hinweg“ – doch that ich’s nicht,[454]
Denn gegen ihn war Schlechtsein nur das Rechte;
151
[193] O Genua, Feindin jeder Sitt’ und Pflicht,[455]
Ihr Genueser, jeder Schuld Genossen,
Was tilgt euch nicht des Himmels Strafgericht?
154
Ich fand mit der Romagna schlimmsten Sprossen
Der Euren Einen, für sein Thun belohnt,
Die Seel’ in des Cocytus Eis verschlossen,
157
Deß Leib bei euch noch scheinbar lebend wohnt.
_______________
Vierunddreißigster Gesang.
IX. Kreis. 4. Judecca. Erzverräther. Judas, Brutus, Cassius, Satan. Rückkehr zum Licht.
1
„Uns naht des Höllenköniges Panier![456]
Schau hin, ob du vermagst ihn zu erspähen,“
So sprach mein edler Meister jetzt zu mir,
4
Und wie, wenn dichte Nebel uns umwehen,
Wie in der Dämmerung, vom fernen Ort,
Windmühlenflügel aussehn, die sich drehen,
7
So sah ich jetzo ein Gebäude dort,
Und da ich nichts, mich vor dem Wind zu decken,
Sonst fand, drängt’ ich mich hinter meinen Hort.
10
Dort war ich, wo – ich sing’ es noch mit Schrecken –[457]
Die Geister, in durchsicht’ges Eis gebannt,
Ganz drin, wie Splitterchen im Glase, stecken.
13
Der lag darin gestreckt, und Mancher stand,
[194]
Der aufrecht, jener auf dem Kopf; der bückte
Sich bogengleich, das Haupt zum Fuß gewandt.
16
Als hinter ihm ich so weit vorwärts rückte,
Daß es dem Meister nun gefällig schien,
Mir Den zu zeigen, den einst Schönheit schmückte,
19
Da trat er weg von mir, hieß mich verziehn,
Und sprach zu mir: „Bleib, um den Dis zu schauen
Und hier laß nicht dir Muth und Kraft entfliehn.“
22
Wie ich da starr und sprachlos ward vor Grauen,
Darüber schweigt, o Leser, mein Bericht,
Denn keiner Sprache läßt sich dies vertrauen.
25
Nicht starb ich hier, auch lebend blieb ich nicht;
Nun denke, was dem Zustand dessen gleiche,
Dem Tod und Leben allzugleich gebricht.
28
Der Kaiser von dem thränenvollen Reiche
Entragte mit der halben Brust dem Glas,
Und wie ich eines Riesen Maß erreiche,[458]
31
Erreicht’ ein Riese seines Armes Maß.
Nun siehst du selbst das ungeheure Wesen,
Dem solch ein Glied verhältnismäßig saß.
34
Ist er, wie häßlich jetzt, einst schön gewesen,
Und hat den güt’gen Schöpfer doch bedroht,
So muß er wohl der Quell sein alles Bösen.
37
O Wunder, das sein Kopf dem Auge bot!
Mit drei Gesichtern sah ich ihn erscheinen,[459]
[195] Von diesen aber war das vordre roth.
40
Anfügten sich die andern zwei dem einen,
Gerad’ ob beiden Schultern hingestellt,
Um oben sich beim Kamme zu vereinen;
43
Das Antlitz rechts weißgelblich – ihm gesellt,
Das links, gleich dem der Leute, die aus Landen
Von jenseits kommen, wo der Nilus fällt
46
Groß, angemessen solchem Vogel, standen[460]
Zwei Flügel unter jedem weit heraus,
Die wir den Segeln gleich, nur größer fanden,
49
Und federlos, wie die der Fledermaus.
Sie flatterten ohn’ Unterlaß und gossen
Drei Winde nach verschiedner Richtung aus.
52
Dadurch ward der Cocyt mit Eis verschlossen.
Sechs Augen waren nie von Thränen frei,
Die auf drei Kinn’ in blut’gem Geifer flossen.
55
Und einen armen Sünder malmt’ entzwei
Und kaute jeder Mund, daher zerbissen,
Flachsbrechen gleich, die scharfen Zähne ihrer drei.
58
Der vordre Mund schien sanft in seinen Bissen,
Verglichen mit den scharfen Klau’n, zu fein,
Die oft die Haut vom Fleisch des Sünders rissen.
61
Da sprach Virgil: „Sieh hier die größte Pein!
Ischarioths Kopf steckt zwischen scharfen Fängen,[461]
Und außen zappelt er mit Arm und Bein.
64
Zwei Andre sieh den Kopf nach unten hängen;[462]
[196]
Hier Brutus an der schwarzen Schnauze Schlund
Sich ohne Laute winden, drehn und drängen;
67
Dort Cassius, kräftig, wohlbeleibt und rund. –
Doch naht die Nacht, drum sei jetzt fortgegangen,
Denn ganz erforscht ist nun der Hölle Grund.“
70
Jetzt winkte mir, den Hals ihm zu umfangen,
Und Zeit und Ort ersah sich mein Gesell,
Und, als sich weit gespreizt die Flügel schwangen,
73
Hing er sich an die zott’ge Seite schnell,
Griff Zott’ auf Zott’, um sich herabzusenken
Inmitten eis’ger Rind’ und rauhem Fell.
76
Dort angelangt, wo in den Hüftgelenken[463]
Des Riesen sich der Lenden Kugel drehn,
Eilt’ er, mit Müh’ und Angst, sich umzuschwenken.
79
Wo erst der Fuß war, kam das Haupt zu stehn;
Die Zotten fassend, klomm er aufwärts weiter,
Als sollten wir zurück zur Hölle gehn.
82
„Hier halte fest dich; denn auf solcher Leiter
Entkommt man nur so großem Leid,“ so sprach
Tief keuchend, wie ein Müder, mein Begleiter,
85
[197] Worauf er Bahn sich durch ein Felsloch brach,
Dann setzt’ er mich auf einen Rand daneben,
Und klomm mit mir den Fuß behutsam nach.
88
Ich blickt’ empor, und glaubte, wie ich eben
Den Dis gesehn, so stell’ er noch sich dar;
Doch seine Füße sah ich sich erheben.
91
Wenn nun mein jäher Schreck’ nicht wäre klar,
Den bät’ ich, daß er erst erkennen lerne,
Durch welchen Punkt ich jetzt gedrungen war.
94
Da sprach Virgil: „Jetzt auf, das Ziel ist ferne,
Der Weg auch schwierig, den du vor dir hast;
Und Sol, aufsteigend, scheucht bereits die Sterne.“
97
Nicht war’s ein Gang durch einen Prachtpalast,
Der vor mir lag; er lief auf rauhem Grunde
Durch eine Felsschlucht, völlig dunkel fast.
100
Ich, aufrecht stehend, sprach: „„Eh aus dem Schlunde
Der Weg, den du mich leitest, mich entläßt,
Reiß aus dem Irrthum mich und gieb mir Kunde:
103
Wo ist das Eis? Wie steckt Dis köpflings fest?
Und wie hat Sol so schnell aus solchen Weiten[464]
Die Ueberfahrt gemacht zum Ost vom West?““
106
„Du glaubst dich auf des Centrums andrer Seiten,
Wo du am Wurme, der die Erde kränkt
Und sie durchbohrt, mich sahst herniedergleiten.
109
Du warst’s, so lang’ ich mich hinabgesenkt;
Allein den Punkt, der anzieht alle Schwere,
Durchdrangest du, da ich mich umgeschwenkt.
112
Jetzt kamst du zu der andern Hemisphäre,
Entgegen der, die großes trocknes Land
Bedeckt, und unter deren Zelt der Hehre[465]
[198]
115
So fehllos lebt’ und starb wie er entstand,
Du stehest jetzo auf dem kleinen Kreise,
Der hier Judecca’s andre Seit’ umspannt.
118
Und hier beginnt der Sonne Tagesreise,
Wenn sie dort endet, und im Brunnen steckt
Noch immer Lucifer nach alter Weise.
121
Vom Himmel ward er hier herabgestreckt.[466]
Das Land, das erst hier ragte, hat sich droben
Aus Furcht vor ihm im Meeresgrund versteckt,
124
Und sich auf jenem Halbkreis dort erhoben.
Um ihn zu flieh’n, drang auch die Erde vor
Aus dieser Höhl’ und drängte sich nach oben.“
127
So sprach Virgil – und sieh, vom Dis empor
Ging eine Schlucht, tief, wie die ganze Hölle,
Zwar nicht erkannt vom Auge, doch vom Ohr;
130
Denn rauschend lief ein Bach, deß rasche Welle[467]
[199] Sich Bahn durch Felsen brach, mit sanftem Hang
Und vielgewunden, bis zu jener Stelle.
133
Nun trat mein Führer auf verborgnem Gang
Den Rückweg an entlang des Baches Windung;
Und wie ich, rastlos folgend, aufwärts drang,
136
Da blickte durch der Felsschlucht ob’re Ründung[468]
Der schöne Himmel mir aus heitrer Ferne,
Und wir entstiegen aus der engen Mündung
139
Und traten vor zum Wiedersehn der Sterne.
Dante Alighieri / Die Komödie, oder auch die Göttliche Komödie
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