Eilfter Gesang.
Papst Anastasius. Eintheilung der weitern Kreise.
1
Am äußern Saum von einem hohen Strande,
Umkreist von Felsentrümmern ohne Zahl,
Gelangten wir zu einem grausern Lande.
4
Dort bargen wir vor des Gestankes Qual,[119]
Der gräßlich dampft aus jenen tiefen Gründen,
Uns hinter eines hohen Grabes Maal.
7
Wir sahn den Inhalt diese Schrift verkünden:
Hier liegt Papst Anastasius, den Photin [120]
Vom rechten Pfad verführt zu Schmach und Sünden.
[62]
10
„Wir müssen,“ sprach er, „langsam abwärts zieh’n;
Erträglicher wird nach und nach den Sinnen
Der schlechte Dunst, der unerträglich schien.“
13
„„So laß uns etwas,““ sprach ich drauf, „„beginnen,
Das uns die hier verbrachte Zeit ersetzt.““
„Du siehst,“ erwiedert’ er, „darauf mich sinnen.“
16
„Mein Sohn, du wirst in diesen Felsen jetzt,“[121]
[63] So fuhr er fort, „drei klein’re Kreise zählen,
Nach Stufen, wie die andern fortgesetzt.
19
Erfüllt sind alle von verdammten Seelen,
Doch weil du selbst sie sehn wirst, so vernimm,
Wie und warum sie sich hier unten quälen.
22
Jedwede Bosheit weckt des Himmels Grimm,
Der Unrecht Zweck ist, denn sie macht es immer
Durch Trug und durch Gewalt mit Andern schlimm.
25
Doch Trug, des Menschen eigne Sünd’, ist schlimmer
Und die Betrüger bannt des Herrn Geheiß
Drum tiefer hin, zu schmerzlicherm Gewimmer.
28
Gewaltthat wird bestraft im ersten Kreis,[122]
Doch, nach dreifacher Gattung von Vergehen,
In dreien Binnenkreisen stufenweis.
31
An Gott, an sich, am Nächsten kann’s geschehen,
Daß man Gewalt verübt, an Leib und Gut.
Wie? sollst du jetzt mit klaren Gründen sehen: –
34
Gewaltthat an des Nächsten Leib und Blut
Geschieht durch Todtschlag und durch schlimme Wunden.
Am Gute durch Verwüstung, Raub und Glut.
37
Todtschläger werden, die, so schwer verwunden,
Verwüster, Räuber, drum hinabgebannt
Zur Pein im ersten Binnenkreis gefunden.
40
Gewalt übt man an sich mit eigner Hand,
Und seinem Gut. – Um fruchtlos zu bereuen,
Sind drum zum zweiten Binnenkreis gesandt,
43
Die selber sich zu tödten sich nicht scheuen;
Die, so im Spielhaus all’ ihr Gut verthan
Und dorten weinten, statt sich zu erfreuen.
[64]
46
Gewalt auch thut der Mensch der Gottheit an,
Im Herzen sie verleugnend, und nicht achtend,
Was er durch Güte der Natur empfahn.
49
Du wirst, den klein’ren Binnenkreis betrachtend,
Drum die von Sodom und von Cahors schau’n,[123]
Und Volk, im Herzen seinen Gott verachtend. –
52
Trug, des Gewissens Qual, ist am Vertrau’n
Und ist auch oft verübt an solchen worden,
Die nicht als Freund’ auf den Betrüger bau’n.
55
Die letzte Art scheint das Band zu morden,
Das die Natur aus Lieb’ um Alle flicht,
Drum nisten in dem zweiten Kreis die Horden
58
Der Heuchler, Schmeichler, die, so falsch Gewicht
Gebrauchen, Simonisten, Zaubrer, Diebe,
Und Kuppler und dergleichen Schandgezücht.
61
Dagegen mit der allgemeinen Liebe
Zerreißt die erste Art auch noch das Band,
Das Treue fordert aus besonderm Triebe:
64
Zum Mittelpunkt des All’s, wo seinen Stand
Dis selber hat, zum letzten, kleinsten Kreise
Sind die Verräther drum zur Qual verbannt.“
67
Und ich: „„Du stellst nach deiner klaren Weise
Wohl abgetheilt den Höllenschlund mir dar
Und welche Sünder jedes Rund umkreise;
70
Doch sprich: Das Volk, das dort im Sumpfe war,
Die, so der Wind führt und die Regen schlagen,
Die mit Geschrei sich stoßen immerdar,
73
Wie kommt’s, wenn sie den Zorn des Himmels tragen,
Daß nicht die Feuerstadt ihr Strafort wird?
Wenn nicht, was leiden sie doch solche Plagen?““
76
Und er darauf zu mir: „Was schweift verwirrt
Dein Geist hier ab von den gewohnten Wegen?
Wo andershin hat sich dein Sinn verirrt?
79
Willst du nicht deine Sittenlehr’ erwägen,[124]
Die Kunde von drei Neigungen verleiht,
[65] Die Gottes Zorn und seinen Haß erregen,
82
Von Tollwuth, Bosheit, Unenthaltsamkeit?
Die dritt’ ist, da sie minderes Verachten
Des Herrn verräth, von mindrer Strafbarkeit.
85
Willst du den Spruch bedenken und betrachten,
Wer jene sind, die vor der Stadt voll Glut,
Dort oben, ihre Straf’ erduldend, schmachten,
88
So wirst du sehn, wie sie von dieser Brut
Geschieden sind, und minder sie beschwerend
Auf ihnen das Gericht des Himmels ruht.“
91
„„O Sonne, du, die trübsten Blicke klärend,
Wie Wissen, so erfreut der Zweifel mich,
Vernehm’ ich dich ihn lösend, mich belehrend;
94
Drum wend’ ein wenig,““ sprach ich, „„rückwärts dich.
Du sagst: die Wuchrer Gottes Gab’ verletzen,
Jetzt sage mir, wie löst dies Räthsel sich?““
97
„Weltweisheit,“ sprach er, „lehrt in mehrern Sätzen,[125]
Daß nur aus Gottes Geist und Kunst und Kraft
Natur entstand mit allen ihren Schätzen;
100
Und überdenkst du deine Wissenschaft
Von der Natur, so wirst du bald erkennen,
Daß eure Kunst, mit Allem, was sie schafft,
103
Nur der Natur folgt, wie nach bestem Können
[66]
Der Schüler geht auf seines Meisters Spur;
Drum ist sie Gottes Enkelin zu nennen.
106
Vergleiche nun mit Kunst und mit Natur
Die Genesis, wo’s also lautet: Leben
Sollst du im Schweiß des Angesichtes nur. –
109
Weil Wuchrer nun nach anderm Wege streben,
Schmähn sie Natur und ihre Folgerin,
Indem sie andrer Hoffnung sich ergeben.
112
Doch folge mir, denn vorwärts strebt mein Sinn,[126]
Da schon die Fisch’ empor am Himmel springen;
Schon auf den Caurus sinkt der Wagen hin,
115
Und weit ist’s noch, eh’ wir zur Tiefe dringen.
_______________
Zwölfter Gesang.
III. Abtheilung. VII. Kreis 1. Ring. Gewaltsame gegen Andere; Centauren, Chiron, Attila und andere Tyrannen und Mörder.
1
Rauhfelsig war der Steig am Strand hernieder,
Ob deß, was sonst dort war, der Schauer groß,[127]
Und jedem Auge drum der Ort zuwider.
4
Dem Bergsturz gleich bei Trento – in den Schooß[128]
Der Etsch ist seitwärts Trümmerschutt geschmissen,
Durch Unterwühlung oder Erdenstoß –
7
Wo von dem Gipfel, dem er sich entrissen,
Der Fels so schräg ist, daß zum ebnen Land,
Die oben sind, den Steg nicht ganz vermissen:
10
So dieses Abgrunds Hang, und dort am Rand
War’s, wo von Felsentrümmern überhangen,
Sich ausgestreckt die Schande Kreta’s fand,[129]
13
Einst von dem Scheinbild einer Kuh empfangen.
[67] Sich selber biß er, als er uns erblickt,
Wie innerlich von wildem Grimm befangen.
16
Mein Meister rief: „Bist du vom Wahn bestrickt,
Als säh’st du hier den Theseus vor dir stehen,
Der dich von dort zur HöIl’ herabgeschickt?
19
Fort, Unthier, fort. Den Weg, auf dem wir gehn,
Nicht deine Schwester hat ihn uns gelehrt,
Doch dieser kommt, um eure Qual zu sehen.“
22
So wie der Stier, vom Todesstreich versehrt,
Emporsetzt und nicht gehen kann, nur springen,
Und Satz um Satz hierhin und dorthin fährt,
25
So sahen wir den Minotaurus ringen;
Drum rief Virgil: „Jetzt weiter ohne Rast;
Indeß er tobt, ist’s gut, hinab zu dringen.“
28
So klommen wir, von Trümmern rings umfaßt,
Auf Trümmern sorglich fort, und oft bewegte
Ein Stein sich unter mir der neuen Last.
31
Ich ging, indem ich sinnend überlegte;
Und Er: „Du denkst an diesen Schutt, bewacht
Von Zornwuth, die vor meinem Wort sich legte.
34
Vernimm jetzt, als ich in der Hölle Nacht
Zum erstenmal so tief herabgedrungen,[130]
War dieser Fels noch nicht herabgekracht;
37
Doch kurz, eh’ jener sich herabgeschwungen
Vom höchsten Kreis des Himmels, der dem Dis
So edler Seelen großen Raub entrungen,
40
Erbebte so die grause Finsterniß,
Daß ich die Meinung faßte, Liebe zücke[131]
[68]
Durchs Weltenall und stürz’ in mächt’gem Riß
43
Ins alte Chaos neu die Welt zurücke.
Der Fels, der seit dem Anfang fest geruht,
Ging damals hier und anderwärts in Stücke.[132]
46
Doch blick’ ins Thal; schon naht der Strom von Blut,[133]
In welchem Jeder siedet, der dort oben
Dem Nächsten durch Gewaltthat wehe thut.“
49
O blinde Gier, o toller Zorn! eu’r Toben,[134]
Es spornt uns dort im kurzen Leben an,
Und macht uns ewig dann dies Bad erproben. –
52
Hier ist ein weiter Graben, der den Plan
Ringshin umfaßt in weitem runden Bogen,
Wie mir mein weiser Führer kundgethan.
55
Centauren, rennend, pfeilbewaffnet, zogen,
Sich folgend zwischen Fluß und Felsenwand,
Wie in der Welt, wenn sie der Jagd gepflogen.
58
Als sie uns klimmen sahn, ward Stillestand;
Drei traten vor mit ausgesuchten Pfeilen,
Und schußbereit den Bogen in der Hand.
61
Und einer rief von fern: „Ihr müßt verweilen!
Zu welcher Qual kommt ihr an diesen Ort?
Von dort sprecht, sonst soll euch mein Pfeil ereilen!“
64
„Dem Chiron sagen wir dort nah ein Wort,“
Sprach drauf Virgil; „zum Unheil dich verführend,
Riß vorschnell stets der blinde Trieb dich fort.“
67
[69] „Nessus ist dieser,“ sprach er, mich berührend,[135]
„Der starb, als Dejaniren er geraubt,
Doch aus sich selbst die Rache noch vollführend;
70
Der in der Mitt’ ist, mit gesenktem Haupt,
Der große Chiron, der Achillen nährte;[136]
Dort Pholus, welcher stets vor Zorn geschnaubt.[137]
73
Am Graben rings gehn tausend Pfeilbewehrte,
Und schießen die, so aus dem Pfuhl herauf
Mehr tauchen, als der Richterspruch gewährte.“
76
Wir beide nahten uns dem flinken Hauf,
Chiron nahm einen Pfeil und strich vom Barte
Das Haar nach hinten sich mit seinem Knauf.
79
Als nun der große Mund sich offenbarte,
Sprach er: „Bemerkt: der hinten kommt, bewegt,[138]
Was er berührt, wie ich es wohl gewahrte.
82
Und wie’s kein Todtenfuß zu machen pflegt.“
Da trat ihm an die Burst mein weiser Leiter,
Wo Mensch und Roß sich einigt und verträgt.
85
„Lebendig ist,“ so sprach er, „der Begleiter,
Der dieses dunkle Thal mit mir bereist;
Nothwendigkeit, nicht Schaulust zieht uns weiter.
88
Von dort, wo Gott ihr Halleluja preist,
Kam Eine her, dies Amt mir aufzutragen.
Er ist kein Räuber, ich kein böser Geist.
91
Doch, bei der Kraft, durch die ich sonder Zagen
Auf wildem Pfad im Schmerzensland erschien,
Gieb einen uns von diesen, die hier jagen.
[70]
94
Daß er die Furt uns zeig’ und jenseits ihn
Trag auf dem Kreuz ans andere Gestade;
Denn er, kein Geist, kann durch die Luft nicht ziehn.“
97
„Auf Nessus! leite sie auf ihrem Pfade,“
Rief Chiron rechts gewandt, „bewahre sie,
Daß sonst kein Trupp der Unsern ihnen schade.“
100
Da solch Geleit uns Sicherheit verlieh,
So gingen wir am rothen Sud von hinnen.
Aus dem die Rotte der Gesottnen schrie.
103
Bis zu den Brauen waren Viele drinnen.
„Tyrannen sind’s, erpicht auf Gut und Blut,“
So hört’ ich den Centauren nun beginnen.
106
„Hier weinen sie ob mitleidloser Wuth.
Den Alexander sieh und Dionysen,[139]
Der auf Sicilien Schmerzensjahre lud.
109
Die schwarzbehaarte Stirn sieh neben diesen,
Den Ezzelin – und jener Blonde dort[140]
Ist Obiz Este, der, wie’s klar erwiesen,[141]
112
Vertilgt ward durch des Rabensohnes Mord.“
Den Dichter sah ich an, der sprach: „der zweite[142]
Bin ich, der erste der, merk’ auf sein Wort.“
115
Und weiter gab uns Nessus das Geleite
Und stand bei Andern, welche bis zum Rand
Des Munds der Richterspruch vom Sud befreite.
118
Und seitwärts zeigt’ er einen mit der Hand:
[71] „Der macht’ einst am Altar das Herz verbluten,[143]
Das man noch jetzt verehrt am Themse-Strand.“
121
Und Viele hielten aus den heißen Fluten[144]
Das ganze Haupt, dann Brust und Leib gestreckt,
Auch kannt’ ich Manchen in den nassen Gluten.
124
Stets seichter ward das Blut, so daß bedeckt
Am Ende nur der Schatten Füße waren,
Und dorten ward des Grabens Furt entdeckt.
127
Da sagte der Centaur: „Du wirst gewahren,
Wie immer seichter hier das Blut sich zeigt.
Jetzt aber, will ich, sollst du auch erfahren,
130
Daß dort der Grund je mehr und mehr sich neigt,
Bis wo die Flut verrinnt in jenen Tiefen,
Woraus das Seufzen der Tyrannen steigt.
133
Gerechter Zorn und Rache Gottes riefen[145]
Dorthin der Erde Geißel, Attila,
Pyrrhus und Sextus; und von Thränen triefen,
136
Von Thränen, ausgekocht vom Blute, da
Die beiden Rinier, arge Raubgesellen,[146]
Die man die Straßen hart bekriegen sah –“
139
Hier wandt’ er sich, rückeilend durch die Wellen.[147]
_______________
[72]
Dreizehnter Gesang.[148]
VII. Kreis 2. Ring. Selbstmörder, als klagende Bäume, (der Kanzler Peter v. Vineis) und Spieler.
1
Noch war nicht Nessus jenseits am Gestade,
Da schritten wir in einen Wald voll Graun,
Und nirgend war die Spur von einem Pfade.
4
Nicht grün war dort das Laub, nur schwärzlich braun,
Nicht glatt ein Zweig, nur knotige, verwirrte,
Nicht Frucht daran, nur gift’ger Dorn zu schaun.
7
Nie bei Cornet und der Cecina irrte[149]
Damhirsch und Eber durch so dichten Hain,
Dies Wild, das nie die Saat des Feldes kirrte.
10
Hier aber nisten die Harpy’n sich ein,[150]
Die, von den Inseln Troja’s Volk zu scheuchen,
Es ängsteten mit Unglücks-Prophezein,
13
Mit breiten Schwingen, Federn an den Bäuchen,
Klau’n an den Füßen, menschlich von Gesicht,
Wehklagend aus den seltsamen Gesträuchen.
16
„Bevor du eindringst, wisse, dich umflicht,“[151]
Sprach Er, „der zweite Binnenkreis; zu schauen
Indeß du weiter gehst, versäume nicht,
19
Bis daß wir kommen in des Sandmeer’s Grauen;
Und gieb wohl Acht, denn Allem, was ich sprach,
Wirst du dann durch den Augenschein vertrauen.“
22
[73] Schon hört’ ich rings Geheul und O und Ach,
Doch sah ich Keinen, der so ächzt’ und schnaubte,
So daß mein Knie mir fast vor Schauder brach.
25
Ich glaub’, er mochte glauben, daß ich glaubte,
Verborgne stöhnten aus dem dunkeln Raum,
Die mir zu sehn das Dickicht nicht erlaubte.
28
„Brich nur ein Zweiglein ab von einem Baum,“
Begann mein Meister, „und du wirst entdecken,
Was du vermuthest, sei ein leerer Traum.“
31
Da säumt’ ich nicht, die Finger auszustrecken,
Riß einen Zweig von einem großen Dorn,
Und plötzlich schrie der Stumpf zu meinem Schrecken:
34
„Warum mich brechen?“ drauf ein blut’ger Born
Aus ihm entquoll, und diese Wort’ erklangen:
„Was peinigt uns dein mitleidloser Zorn?
37
Uns, Menschen einst, von Rinden jetzt umfangen.
Wohl größre Schonung ziemte deiner Hand,
Und wären wir auch Seelen nur von Schlangen.“
40
Gleichwie ein grüner Ast, hier angebrannt,
Dort ächzt und sprüht, wenn aufgelöst in Winde,[152]
Der feuchte Dunst den Weg nach außen fand;
43
So drangen Wort und Blut aus Holz und Rinde,
Und mir entsank das Reis, daß ich geraubt;
Dann stand ich dort, als ob ich Furcht empfinde.
46
„Verletzte Seele, hätt’ er je geglaubt.[153]
Was früher schon ihm mein Gedicht entdeckte,“
So sprach Virgil, „nie hätt’ er sich’s erlaubt.
[74]
49
Wenn er die Hand nach deinem Aste streckte,
So reut’s mich jetzt, daß, weil’s unglaublich schien,
Ich Lust in ihm zu solcher That erweckte.
52
Doch sag ihm, wer du warst. Er wird, wenn ihn
Der Tag einst neu umfängt, den Fehl zu büßen,
Dort frisch ans Licht dein Angedenken ziehn.“
55
Der Stamm: „Lockspeise ist im Wort, dem süßen,[154]
Die mich zum Sprechen treibt; mag euch’s, wenn mich
Der Drang beim Reden festhält, nicht verdrießen.
58
Ich bin’s, der einst das Herz des Friederich
Mit zweien Schlüsseln auf- und zugeschlossen,
Und sie so sanft und leis gedreht, daß Ich,
61
Nur ich, sonst Keiner, sein Vertraun genossen –
Und bis ich ihm geopfert Schlaf und Blut,
Weiht’ ich dem hohen Amt mich unverdrossen.
64
Die Metze, die mit buhlerischer Glut[155]
Auf Cäsars Haus die geilen Blicke spannte,
Sie, aller Höfe Laster und Sünd’ und Wuth,
67
Schürt’ an, bis Alles gegen mich entbrannte,
Und Alle schürten Friedrichs Gluten an,
Daß heitrer Ruhm in düstres Leid sich wandte.
70
Da hat mein zornentbrannter Geist, im Wahn,
[75] Durch Sterben aller Schmach sich zu entwinden,
Mir, dem Gerechten, Unrecht angethan.
73
Bei diesen Wurzeln schwör’ ich, diesen Rinden:
Stets war’s um meine Treue wohl bestellt
Für ihn, der werth war, ew’gen Ruhm zu finden.
76
Kehrt einer je von euch zurück zur Welt,
So mög’ er dort mein Angedenken heben,
Das jener Streich des Neids noch niederhält.“
79
Hier hielt er an, ich aber schwieg mit Beben.
Da sprach der Dichter: „Ohne Zeitverlust
Frag’ ihn, er wird auf Alles Antwort geben.“
82
Ich aber: „„Frag’ ihn selbst. Dir ist bewußt,
Was mir ersprießlich sei, ihm abzufragen;
Ich könnt’ es nicht, denn Leid drückt meine Brust.““
85
Und Er: „Soll einst, was du ihm aufgetragen,
Er frei vollziehn, dann, o gefang’ner Geist,
Beliebe dir, zuvor uns anzusagen,
88
Wie dieser Stämme Band die Seel’ umkreist?
Und ob den Rinden, die sich um sie legen,
Gleich Gliedern, jemals eine sich entreißt?“
91
Und zischend schien es sich im Stamm zu regen,
Dann aber ward das Weh’n zu diesem Wort:
„In kurzer Rede sag’ ich dies dagegen:[156]
94
Wenn die vom Leib’ sich trennen, welche dort
Sich frevelhaft in wildem Grimm entleiben,
Schickt Minos sie zu diesem Schlunde fort.
97
Hier fallen sie, wie sie die Stürme treiben,
In diesem Wald nach Zufall, ohne Wahl,
[76]
Um wie ein Speltkorn wuchernd zu bekleiben.
100
So wachsen Büsch’ und Bäum’ in diesem Thal,
Und die Harpy’n, die sich vom Laube weiden,
Sie machen Qual, und Lust[WS 5] auch für die Qual.
103
Einst eilen wir nach unserm Leib, doch kleiden
Uns nie darein; denn was man selbst sich nahm,
Will Gott uns nimmer wieder neu bescheiden.
106
Wir schleppen ihn in diesen Wald voll Gram,
Und jeder Leib wird an den Baum gehangen,
Den hier zur ew’gen Haft sein Geist bekam.“ –
109
Wir horchten auf den Stamm noch voll Verlangen,[157]
Mehr zu vernehmen, als urplötzlich schnell
Schrei’n und Getos zu unsern Ohren drangen,
112
Als ob hier Eber, Hund und Jagdgesell,
Die ganze Jagd, heran laut tosend brauste
Mit Waldes-Rauschen, Schreien und Gebell. –
115
Und sieh, linksher, zwei Nackende, Zerzauste,
Fortstürmen, wie vom Aeußersten bedroht,
Daß das Gezweig zertrümmert kracht’ und sauste.
118
Der Vordre schrie: „Zu Hilfe, komm’, o Tod!“
Dem Andern schien’s, daß es mehr Eile brauche;
„Lan,“ rief er, „dort bei Toppo in der Noth[158]
121
Schien nicht dein Fußwerk gut zu dem Gebrauche.“
Dann, weil erschöpft vielleicht des Odems Rest,
Macht’ er ein Knäul aus sich und einem Strauche.
124
[77] Sieh schwarze Hunde, durchs Gestrüpp gepreßt,
Schnell hinterdrein, die wild die Läufe streckten,
Wie Doggen, die man von der Kett’ entläßt!
127
Sie schlugen ihre Zähn’ in den Versteckten,
Zerrissen ihn und trugen stückweis dann
Die Glieder fort, die frischen, blutbefleckten.
130
Mein Führer faßte bei der Hand mich an
Und führte mich zum Busche, der vergebens
Aus Rissen klagte, welchen Blut entrann.
133
Er sprach: „Was machtest du doch eitlen Strebens,[159]
O Jakob, meinen Busch zu deiner Hut?
Trag’ ich die Schulden deines Lasterlebens?“
136
Mein Meister, dessen Schritt bei ihm geruht,
Sprach: „Wer bist du? Warum aus so viel Rissen
Hauchst du zugleich die Schmerzensred’ und Blut?“
139
Und Er: „Ihr Seelen, die ihr kommt, zu wissen,
Wie harte Schmach ich hier erdulden muß,
Zu sehn, wie man mir so mein Laub entrissen,
142
O sammelt’s an des traur’gen Stammes Fuß.
Ich bin aus jener Stadt, die statt des alten[160]
[78]
Den Täufer wählt als Schutzherrn. Voll Verdruß
145
Wird jener drum als Feind ihr grausam walten,
Und hätte man nicht noch sein Bild geschaut,
Das dort sich auf der Arnobrück’ erhalten,
148
Die Bürger, die sie wieder aufgebaut
Vom Brand des Attila, aus Schutt und Grause,
Sie hätten ihrer Müh’ umsonst vertraut.
151
Den Galgen macht’ ich mir aus meinem Hause.“
_______________
Vierzehnter Gesang.
VII. Kreis 3. Ring. Lästerer, Wucherer, Unnatürliche, im glühenden Sand. Kapaneus. Der Greis von Kreta. 3ter Höllenfluß.
1
Weil ich der Vaterstadt mit Rührung dachte,
Las ich das Laub, das ich, das Herz soll Leid,
Zurück zum Stamm, der kaum noch ächzte, brachte.
4
Drauf kamen wir zur Grenz’ in kurzer Zeit
Vom zweiten Binnenkreis, und sahn im dritten
Ein grauses Kunstwerk der Gerechtigkeit.[161]
7
Denn dort eröffnete vor unsern Schritten
Und unsern Blicken sich ein ebnes Land,
Deß Boden nimmer Pflanz’ und Gras gelitten.
10
Und wie sich um den Wald der Graben wand,[162]
[78] War dieses von dem Schmerzenswald umwunden.
Hier weilten wir an beider Kreise Rand.
13
Dort ward ein tiefer, dürrer Sand gefunden,
Der dem, den Cato’s Füße stampften, glich,[163]
Wie wir vernehmen aus den alten Kunden.
16
O Gottes Rache! Jeder fürchte dich,
Dem, was ich sah’ mein Lied wird offenbaren,
Und wende schnell vom Lasterwege sich.
19
Denn nackte Seelen sah ich dort in Schaaren,
Die, alle klagend jämmerlich und schwer,
Doch sich nicht gleich in ihren Strafen waren.
22
Die lagen rücklings auf der Erd’ umher,
Die sah ich sich zusammenkrümmend kauern,
Noch Andre gingen immer hin und her.
25
Die Mehrzahl mußt’ im Gehn die Straf’ erdauern.
Der Liegenden war die gering’re Zahl,
Doch mehr gedrängt zum Klagen und zum Trauern.
28
Langsamen Falls sah ich mit rothem Strahl
Hernieder breite Feuerflocken wallen,
Wie Schnee bei stiller Luft im Alpenthal.
31
Wie Alexander einstens Feuerballen,[164]
Heiß bis zur Erde, sah auf seine Schaar
In jener heißen Gegend Indiens fallen,
34
Daher sein Volk, vorbeugend der Gefahr,
Den Boden stampfen mußt’, um sie zu tödten,
Weil einzeln sie zu tilgen leichter war;
37
So sah ich von der Glut den Boden röthen;
Wie unterm Stahle Schwamm, entglomm der Sand,
Wodurch die Qualen zwiefach sich erhöhten.
40
Nie hatten hier die Hände Stillestand,
Und hier- und dorthin sah ich sie bewegen,
Abschüttelnd von der Haut den frischen Brand.
43
Da sprach ich: „„Du, dem Alles unterlegen,
Bis auf die Geister, die sich dort voll Wuth
Am Thor zur Wehr gestellt und dir entgegen,
[80]
46
Wer ist der Große, welcher, diese Glut
Verachtend, liegt, die Blicke trotzig hebend,
Noch nicht erreicht von dieser Feuerflut?““
49
Und jener rief, mir selber Antwort gebend,
Weil er gemerkt, daß ich nach ihm gefragt,
Uns grimmig zu: „Todt bin ich, wie einst lebend.
52
Sei auch mit Arbeit Jovis Schmied geplagt,[165]
Von welchem Er den spitzen Pfeil bekommen,
Den er zuletzt in meine Brust gejagt;
55
Sei auch zu Hilf’ die ganze Schaar genommen,
Die rastlos schmiedet in des Aetna Nacht;
Hilf, hilf, Vulkan! so schrei er zornentglommen,
58
Wie er bei Phlägra that in jener Schlacht,
und machtvoll sei auf mich sein Blitz geschwungen: –
Er wiss’, daß nie ihm frohe Rache lacht –“
61
Da hob so stark, wie sie mir nie erklungen,
Mein Meister seine Stimm’, ihm zuzuschrei’n:
„O Kapaneus, daß ewig unbezwungen[166]
64
Dich Hochmuth nagt, ist deine wahre Pein,
Denn keine Marter, als dein eignes Wüthen,
Kann deiner Wuth vollkommne Strafe sein.“
67
Drauf schien des Meisters Zorn sich zu begüten.
Von jenen Sieben war er, sagt’ er mir,
Die Theben zu erobern sich bemühten.
70
Er höhnt, so scheint’s, noch Gott in wilder Gier,
Und, wie ich sprach, sein Stolz bleibt seine Schande,
Sein Trotz des Busens wohlverdiente Zier.
73
Jetzt folge mir, doch vor dem heißen Sande
Verwahr’ im Gehen sorglich deinen Fuß,
Und halte nah dich an des Waldes Rande.
76
[81] Ich ging und schwieg, und einen kleinen Fluß,
Sah ich diesseits des Waldes sprudelnd quellen,
Vor dessen Röth’ ich jetzt noch schaudern muß.
79
Dem Bach aus jenem Sprudel gleichzustellen,[167]
Der Buhlerinnen schändlichem Verein,
Floß er den Sand hinab mit dunklen Wellen.
82
Und Grund und Ufer waren dort von Stein,
Auch beide Ränder, die den Fluß umfassen,
Drum mußte hier der Weg hinüber sein.
85
„Von allem, was ich noch dich sehen lassen,
Seit wir durch jenes Thor hier eingekehrt,
Das uns, wie Alle, ruhig eingelassen,
88
War noch bis jetzt nichts so bemerkenswerth,
Als dieser Fluß, zu dem du eben ziehest,
Der über sich die Flämmchen schnell verzehrt.“
91
So Er zu mir, und ich darauf: „„Du siehest[168]
[82]
Mich lüstern schon genug, drum speist’ ich gern;
Gib Kost nun, wie du Essenslust verliehest.““
94
Und Er: „Wüst liegt ein Land im Meere fern,
Das Kreta hieß, und Keuschheit hat gewaltet,
Als noch die Welt stand unter seinem Herrn.
97
Ein Berg dort, Ida, war einst schön gestaltet,
Mit Quellen, Laub und Bäumen reich geschmückt,
Jetzt ist er öd, verwittert und veraltet.
100
Dorthin hat Rhea ihren Sohn entrückt,
Und, alle Späher listig hintergehend,
Des Kindes Schrei’n durch Lärmen unterdrückt.
103
Ein hoher Greis ist drin, grad’ aufrecht stehend,
Den Rücken nach Damiette hingewandt,
Nach Rom hin, wie in seinen Spiegel, sehend;
106
Das Haupt von feinem Gold; Brust, Arm und Hand
Von reinem Silber; weiter dann hernieder
Von Kupfer nur bis an der Hüften Rand;
109
Von tücht’gem Eisen bis zur Sohle nieder;
Nur von gebranntem Ton der rechte Fuß,
Doch ruht auf diesem meist die Last der Glieder
112
Das Gold allein ist von gediegnem Guß;
Die andern haben Spalt und träufeln Zähren,
Und diese brechen durch die Grott’ als Fluß,
115
Um ihren Lauf nach diesem Thal zu kehren,
Als Acheron, als Styx, als Phlegethon,
Und bilden, wenn sie zu den tiefsten Sphären
118
Durch diesen engen Graben hingeflohn,
Dort den Cocyt; doch nahst du diesem Teiche
Bald selber dich, drum hier nichts mehr davon.“
121
Und ich zu ihm: „„Wenn auf der Erd’, im Reiche
Des Tages, schon der kleine Fluß entstund,
Wie kommt es, daß ich ihn erst hier erreiche?““
124
Und Er zu mir: „Du weißt, der Ort ist rund,
Und ob wir gleich schon tief hernieder drangen,
Doch haben wir, da wir uns links zum Grund
127
[83] Herabgewandt, den Kreis nicht ganz umgangen,
Und wenn du auch noch manches Neue siehst,
Mag Staunen drum dein Auge nicht befangen.“
130
„„Sprich noch, wo Phlegethon, wo Lethe fließt?
Du schweigst von der; von jenem hört’ ich sagen,
Daß er aus diesem Regen sich ergießt.““
133
So ich; und Er: „Gern hör’ ich deine Fragen,
Doch sollte wohl des rothen Wassers Sud[169]
Auf jene selbst die Antwort in sich tragen.
136
Nicht in der Hölle fließt der Lethe Flut,[170]
Dort siehst du sie beim großen Seelenbade,
Wenn die bereute Schuld auf ewig ruht.“
139
Und drauf: „Jetzt weg vom Wald, und komm gerade[171]
Denselben Weg, den meine Spur dich lehrt;
Die Ränder, nicht entzündet, bilden Pfade,
142
Und über ihnen wird der Dunst verzehrt.“
_______________
Fünfzehnter Gesang.
VII. Kreis. 3. Ring. Sodomiter. Brunetto, Dante’s Lehrer.
1
Wir gehen nun auf hartem Rand zusammen,
Und feuchter Dampf, den Bach umnebelnd, schützt
Das Wasser und die Dämme vor den Flammen.
[84]
4
So wie sein Land der Flandrer unterstützt,
Bang vor der Springflut Ansturz, die vom Baue
Des festen Damms rückprallend schäumt und spritzt;
7
Wie längs der Brenta Schloß und Dorf und Aue
Die Paduaner sorglich wohl verwahrt,
Bevor der Chiarentana Frost erlaue;[172]
10
So war der Damm auch hier von gleicher Art,
Nur daß in minder hohen, dicken Massen
Vom Meister dieser Bau errichtet ward.
13
Schon weit zurück hatt’ ich den Wald gelassen,[173]
So daß der Blick, nach ihm zurückgewandt,
Nicht mehr vermögend war, ihn zu erfassen.
16
Da kam am Fluß des Damms ein Schwarm gerannt,
Und wie am Neumond bei des Abends Grauen
Nach dem und jenen man die Blicke spannt,
19
So sahn wir sie auf uns nach oben schauen;
Und wie der alte Schneider nach dem Oehr,[174]
So spitzten sie nach uns die Augenbrauen.
22
Und wie sie alle gafften, faßte Wer,
Mich bei dem Saum, indem er mich erkannte,
Und rief erstaunt: „Welch Wunder! Du? Woher?“
25
Als er nach mir den Arm ausstreckte, wandte
Ich ihm den Blick aufs Angesicht, das schier
Geröstet war; doch zeigte das verbrannte
28
[85] Sogleich die wohlbekannten Züge mir;
Ich neigte drum mein Antlitz zu dem seinen,
Und rief: „„Ach, Herr Brunetto, seid ihr hier?““[175]
31
Und Er: „Mein Sohn, nicht mag dir’s lästig scheinen,
Zurückzugehn, denn gern wohl spräch’ ich dich.
Laß die vorbeiziehn, die mit mir erscheinen.“
34
„„Ich bitt’ euch selbst darum,““ entgegnet’ ich,
„„Daher ich gern mit euch mich setzen werde,
Wenn’s dieser billigt, denn Er leitet mich.““
37
„Ach Sohn, wer stille steht von dieser Heerde,[176]
Muß unbeweglich hundert Jahr hernach
Daliegen, Glut erduldend, auf der Erde.
40
Drum geh’, ich folge deinem Tritte nach,
Bis wir aufs Neu zu meiner Rotte kommen,
Die ewig läuft, beweinend ihre Schmach.“
43
Gern wär’ ich neben ihn hinabgeklommen,
Doch wagt’ ichs nicht und ging, das Haupt geneigt,
Wie wer da geht von Ehrfurcht eingenommen.
46
„Du, welcher vor[WS 6] dem Tod herniedersteigt,“
Begann er nun, welch Schicksal führt dein Streben?
[86]
Und wer ist der, so dir die Pfade zeigt?“
49
„„Dort oben,““ sprach ich, „„in dem heitern Leben
War ich, eh’ reif mein Alter, ohne Rath
Verirrt und rings von einem Thal umgeben,
52
Aus dem ich eben gestern Morgens trat.
Schon kehrt’ ich mich zurück, da kam mein Leiter
Und führt’ mich wieder heim auf diesem Pfad.““
55
Drauf sprach Er: „Folgst du meinem Sterne weiter,[177]
Dann, wenn ich recht bemerkt im Leben, schafft
Er dich zum Hafen, ehrenvoll und heiter.
58
Und hätte mich der Tod nicht weggerafft,
Hätt’ ich, da dir so hold die Sterne waren,
Dich selbst zum Werk beseelt mit Muth und Kraft.
61
Doch jenem Volk von Schnöden, Undankbaren,
Das niederstieg von Fiēs335;le und fast[178]
Des Bruchsteins Härte noch scheint zu bewahren,
64
Ihm bist du, weil du wacker thust, verhaßt;
Mit Recht, weil übel stets zu Dorngewinden
Mit herber Frucht die süße Feige paßt,
67
Man heißt sie dort nach altem Ruf die Blinden,[179]
Voll Geiz, Neid, Hochmuth, faul an Schaal’ und Kern –
Laß rein dich stets von ihren Sitten finden!
70
So großen Ruhm bewahrt dir noch dein Stern,[180]
[87] Daß beide Theile hungrig nach dir ringen,
Doch dieses Kraut bleibt ihrem Schnabel fern.
73
Das Fiesolaner Vieh mag sich verschlingen,
Sich gegenseits, doch nie berühr’s ein Kraut,
– Kann noch sein Mist hervor ein solches bringen –
76
In dem man neu belebt den Samen schaut
Von jenen Römern, welche dort geblieben,
Als man dies Nest der Bosheit auferbaut.
79
„„War einst, was ich gewünscht, des Herrn Belieben““
Entgegnet’ ich, „„gewiß, ihr wäret nicht
Noch aus der menschlichen Natur vertrieben.
82
Das theure, gute Vater-Angesicht,
Noch seh’ ich’s vor betrübtem Geiste schweben,
Noch denk’ ich, wie ihr mich im heitern Licht
85
Gelehrt, wie Menschen ew’gen Ruhm erstreben,
Und wie mir dies noch theuer ist und werth,
Soll kund, so lang’ ich bin, die Zunge geben.
88
Was ihr von meiner Laufbahn mich gelehrt,
Bewahr’ ich wohl. – Werd’ ich die Herrin schauen,
Nebst anderm Text wird mir auch dies erklärt.[181]
91
Dem aber, will ich, sollt ihr fest vertrauen:
Ist’s nur mit dem Gewissen wohl bestellt,[182]
Dann macht kein Schicksal, wie’s auch sei, mir Grauen.
94
Mir ist nicht neu, was eure Red’ enthält,
Doch mag der Bauer seine Hacke schwingen,
Und seinen Kreis das Glück, wie’s ihm gefällt.““
97
Rechts kehrte sich Virgil, indem wir gingen,
Nach mir zurück und sah mich an und sprach:
„Recht hören, die’s behalten und vollbringen.“[183]
100
Ich aber ließ drum nicht im Sprechen nach,
Und wünschte die berühmtesten zu kennen
[88]
Von den Genossen dieser Pein und Schmach
103
Drauf Herr Brunett: „Gut ist es, Ein’ge nennen,
So wie von andern schweigen löblich scheint,
Auch müssen wir zu bald uns wieder trennen.
106
Gelehrte sind und Pfaffen hier vereint
Von großem Ruf, die einst besudelt waren
Mit jenem Fehl, den Jeder nun beweint.
109
Franz von Accorso geht in diesen Schaaren,[184]
Auch Priscian, und war dir’s nicht zu schlecht,[185]
Vorhin so schnöden Aussatz zu gewahren,
112
So sahst du Jenen, den der Knechte Knecht[186]
Zwang, nach Vicenz vom Arno aufzubrechen,
AIIwo der Tod sein toll Gelüst gerächt.
115
Gern sagt’ ich mehr – doch mit dir gehn und sprechen
Darf ich nicht länger, denn schon hebt sich dicht
Ein neuer Rauch auf jenen sand’gen Flächen.
118
Auch naht hier Volk, von dem mich das Gericht
Geschieden hat – Mein Schatz sei dir empfohlen,
Ich leb’ in ihm noch – mehr begehr ich nicht.“
121
Hier wandt’ er sich, die Andern einzuholen,
Wie nach dem Ziel mit grünem Tuch geziert,
Der Veroneser läuft mit flücht’gen Sohlen
124
Und schien, wie wer gewinnt, nicht wer verliert.[187]
_______________
Sechszehnter Gesang.
3. Ring, Forts. Guido Guerra. Rusticucci. Zum 8. Kreis.
1
Von fernher hallte schon des Falles Brausen,[188]
Der mächtig stürzte in das nächste Thal,
[89] Gleich eines Bienenschwarmes dumpfem Sausen.
4
Da rannten Schatten her, drei an der Zahl,
Und trennten sich von einer größern Bande,
Die hinlief durch des Feuerregens Qual,
7
Und schrien: „Halt du, wir sehn es am Gewande
Dir deutlich an, du bist hierher versetzt
Aus unserm eignen schnöden Vaterlande.“
10
Ach, alt’ und neue Wunden, eingeätzt
Von Flammen, sah ich nun in ihrem Fleische,
Und denk’ ich dran, so jammert’s mich noch jetzt.
13
Mein Meister horcht’ auf dieses Schmerzgekreische,
Und sah mich an und sprach: „Hier harren wir!
Bedenke jetzt, was Höflichkeit erheische.
16
Denn wäre nicht der Feuerregen hier,[189]
Nach der Natur des Orts, so sagt’ ich: „Eile
Gezieme jetzo, mehr als ihnen, dir.“
19
Ich stand und hörte neu ihr alt Geheule;
Zu uns gekommen, faßten Alle nun,
Sich an, im Rad sich drehend ohne Weile.
22
Wie nackende gesalbte Kämpfer thun,[190]
Die Griff und Vortheil zu erforschen pflegen,
Indessen noch die Püff’ und Stöße ruhn;
25
So sah ich sie im Kreise sich bewegen,
Mir immerdar das Antlitz zugewandt,
Und Hals und Fuß an Richtung sich entgegen.
[90]
28
Und Einer sprach: „Wenn dieser lockre Sand
Und unsre Noth uns auch verächtlich machte
Und unser Anseh’n, elend und verbrannt,
31
Doch unsres Namens halb’ das Fleh’n beachte;
Sprich, wer du bist? wie lebend hier erscheinst?
Und was dich sicher her zur Hölle brachte?
34
Der, welchem du mich folgen siehst, war einst,
Muß er auch nackt hier und geschunden rennen,
Von höherm Range wohl, als du vermeinst.
37
Wer hörte nicht Gualdradas’ Enkel nennen,[191]
Der guten? – Guidoguerra, dessen Geist
Und Rath wie Schwert wir all’ als tüchtig kennen?
40
Der hinter mir den lockern Sand durchkreist,
Tegghiajo ist’s, deß Rat man noch auf Erden,[192]
Obwohl man ihm nicht folgt’, als heilsam preist.
43
Ich, ihr Genoß in schrecklichen Beschwerden,
Bin Jacob Rusticucci, und mich ließ[193]
Mein böses, wildes Weib so elend werden.“ –
46
Wenn irgend was vor’m Feuer Schutz verhieß,
So stürzt’ ich gern mich unter sie hernieder,
Auch litt, so glaub’ ich, wohl mein Meister dies.
49
[91] Allein verbrannt hätt’ ich auch meine Glieder,
Drum unterdrückte Furcht in mir die Lust,
Die Jammervollen zu umarmen, wieder.
52
„„Nicht der Verachtung bin ich mir bewußt,““
Begann ich, „„nur des Leids für euch Geplagte,
Und schwer verwinden wird es meine Brust.
55
Ich fühlt’ es, als mein Herr mir Worte sagte,
Durch welche mir es deutlich ward und klar,
Daß, wer hier komme, hoch auf Erden ragte.
58
Ich bin aus eurer Stadt, und nimmerdar
Wird eures Thuns ruhmvoll Gedächtniß schwinden,
Das immer mir auch lieb und theuer war.
61
Ich ließ[WS 7] die Gall’, um süße Frucht zu finden,[194]
Die mein wahrhafter Führer prophezeit,
Doch muß ich erst zum Mittelpunkt mich winden.““[195]
64
„Soll lang noch deine Seele das Geleit
Der Glieder sein,“ so sprach nun Er dagegen,
„Soll leuchten noch dein Ruf nach deiner Zeit,
67
So sage mir, bewohnen, wie sie pflegen,
Wohl unsre Stadt noch Kraft und Edelmuth?
Sind sie verbannt und völlig unterlegen?
70
Denn Borsiere, welcher diese Glut[196]
Seit Kurzem theilt, und dort mit Andern schreitet,
Erzählt’ uns Manches, was uns wehe thut! –“
73
„„Neu Volk und schleuniger Gewinn verleitet[197]
[92]
Zu Unmaß dich und Stolz, der dich bethört,
Florenz, und dir viel Leiden schon bereitet!““
76
Ich rief’s, das Aug’ emporgewandt, verstört.
Starr sahn die Drei sich an bei meinen Reden,
Wie man sich anstarrt, wenn man Wahrheit hört.
79
„Wenn dir’s gelingt, daß du so, wie uns, Jeden[198]
Befried’gen kannst,“ war Aller Gegenwort,
„Dann bist du glücklich, also frei zu reden.
82
Entkommst du einst aus diesem dunklen Ort,
Und siehst den Sternenglanz, den schönen, süßen,
Und sagst dann froh und heiter: Ich war dort,
85
Vergiß dann nicht, die Welt von uns zu grüßen!“ –
Hier aber brachen sie den Kreis und flohn
Voll Eil’ und wie mit Flügeln an den Füßen.
88
Eh’ man ein Amen ausspricht, waren schon
Sie alle drei aus meinem Blick verschwunden,
Drum ging sogleich mein Meister auch davon.
91
Ich folgt’ ihm nach, um weitres zu erkunden,
Worauf uns bald des Stroms Gebraus erklang,
So nah, daß wir uns sprechend kaum verstunden.
94
Gleich jenem Flusse mit dem eignen Gang,[199]
Deß Fluten ostwärts vom Berg Veso toben
Entströmt dem linken Apenninenhang,
97
– Das stille Wasser heißt er erst dort oben,
Dann senkt er sich und wird bei Forli bald
Des ersten Namens wiederum enthoben –
100
Deß Sturz dort ob Sanct Benedict erschallt,
Wo seine Wellen in den Abhang brausen,
[93] Der groß für Tausend ist zum Aufenthalt:[200]
103
So brach von einem Felsenhang voll Grausen[201]
Der dunkelfarb’ge Fluß sich brüllend Bahn,
Und kaum ertrug das Ohr sein wildes Sausen.
106
Mit einem Stricke war ich umgethan,[202]
Und manches Mal mit diesem Gurte dachte
Ich das gefleckte Panthertier zu fahn.
109
Nachdem ich los von mir den Gürtel machte,
Wie ich vom Führer mir geboten fand,
Macht’ ich ein Knäuel draus, das ich ihm brachte.
112
Er aber kehrte dann sich rechter Hand
Und schleuderte zum tiefen Felsenschlunde
Das Knäul hinunter ziemlich weit vom Rand.
115
„„Entsprechend““ dacht’ ich, „„muß die neue Kunde
Dem neuen Wink und diesem Blicke sein,
Womit mein Meister schaut zum tiefen Grunde.““
118
O wie behutsam sollten wir doch sein[203]
Mit solchen, die des Herzens Sinn erspähen,
Und nicht sich halten an die That allein.
121
Er sprach: „Bald werden wir auftauchen sehen,
Was ich erwart’; und das, was du gedacht,
Wird deutlich bald vor deinen Blicken stehen.“
124
Bei Wahrheit, die der Lüge gleicht, habt Acht,
So viel ihr könnt, euch nimmer auszusprechen,
[94]
Sonst werdet ihr ohn’ eure Schuld verlacht.
127
Doch kann ich mich zu reden nicht entbrechen,
Und schwör’, o Leser, dir, bei dem Gedicht,
Dem nimmer möge Huld und Gunst gebrechen:
130
Ich sah durch jene Lüfte schwarz und dicht
Ein Bild nach oben schwimmend, sich erheben,
Dem Kühnsten wohl ein wunderbar Gesicht,
133
Wie Jemand kehrt, der sich hinab begeben,[204]
Den Anker, der im Felsenrisse steckt,
Zu lösen, wenn er sich beim Aufwärtsstreben
136
Von unten einzieht und nach oben streckt.
_______________
Siebzehnter Gesang.
Geryon. Letzte des 3. Rings: Wucherer. Abfahrt.
1
„Sieh hier das Unthier mit dem spitzen Schwanze,[205]
Der Berge spaltet, Mauer bricht und Thor!
[95] Sieh, was mit Stank erfüllt das große Ganze!“
4
So hob mein Führer seine Stimm’ empor,
Und rief mit seinem Wink das Thier zum Rande,
Bis nah zu unserm Marmorpfade vor.[206]
7
Da kam des Truges Gräuelbild zum Lande,
Und schob den Kopf und dann den Rumpf heran,
Doch zog es nicht den scharfen Schweif zum Strande.
10
Von Antlitz glich es einem Biedermann,
Und ließ von außen Mild und Huld gewahren,
Doch dann fing die Gestalt des Drachen an,
13
Mit zweien Tatzen, die bedeckt mit Haaren,
Und Rücken, Brust und Seiten, die bemalt
Mit Knoten und mit kleinen Schnörkeln waren;
16
Vielfarbig, wie kein Werk Arachne’s strahlt,
Wie, was auch Türk’ und Tatar je gewoben,
So bunt doch nichts an Grund und Muster prahlt.
19
Wie man den Kahn, im Wasser bald, bald oben,
Am Lande sieht an unsrer Flüsse Strand,
Und wie, zum Kampf den Vorderleib erhoben,
22
Der Biber in der deutschen Fresser Land;[207]
So sah ich jetzt das Ungeheuer, ragend
Und vorgestreckt auf unsers Dammes Rand,
25
Wild zappelnd, mit dem Schweif durch’s Leere schlagend,
Und, mit der Scorpionen Wehr versehn,
Die Gabel windend, und sie aufwärts tragend.
28
Mein Führer sprach: „Jetzt müssen wir uns drehn,
Und auf gewundnem Pfad zum Ungeheuer,
Dorthin, wo’s jetzo liegt, hinuntergehn.“
31
Nun führte rechter Hand mich mein Getreuer[208]
[96]
Nur wenig Schritt hinab am Rande fort,
Den heißen Sand vermeidend und das Feuer.
34
Und unten angelangt, erkannt’ ich dort
Noch etwas vorwärts auf dem Sande Leute,
Nah sitzend an des Abgrunds dunklem Bord.
37
Mein Meister sprach: „Erkennen sollst du heute
Den ganzen Binnenkreis mit seiner Pein,
Drum geh’ und sieh, was jenes Volk bedeute.
40
Doch kurz nur dürfen deine Worte sein.
Ich will indeß mich mit dem Thier vernehmen,
Den starken Rücken uns zur Fahrt zu leihn.“
43
So mußt’ ich einsam mich zu gehn bequemen
Am Rand des siebenten der Kreis’ und nahm
Den Weg zum Sitze der betrübten Schemen.
46
Aus jedem Auge starrte Schmerz und Gram,
Indeß die Hand, jetzt vor dem heißen Grunde,
Jetzt vor dem Dunst dem Leib zu Hülfe kam.
49
So scharren sich zur Sommerzeit die Hunde,
Wenn Floh’ sie oder Flieg’ und Wespe sticht,
Jetzt mit dem einen Fuß, jetzt mit dem Munde.
52
Die Augen wandt’ ich Manchem in’s Gesicht,
Der dort im Feuer saß und heißer Asche;
Und Keinen kannt’ ich, doch entging mir nicht,
55
Vom Halse hänge Jedem eine Tasche,
Bezeichnet und bemalt, und wie voll Gier
Nach diesem Anblick noch ihr Auge hasche.
58
Ich sah, wie ich genaht, ein blaues Thier
Auf gelbem Beutel, wie auf einem Schilde,
Das schien ein Leu an Kopf und Haltung mir.
61
[87] Dann blickt’ ich weiter durch dies Qualgefilde,
Und sieh, ein andrer Beutel, blutig roth,
Zeigt’ eine butterweiße Gans im Bilde.
64
Ein blaues Schwein auf weißem Sacke bot
Sich dann dem Blick, und seine Stimm’ erheben
Hört’ ich den Träger: „Du hier vor dem Tod?
67
Fort! fort! doch wisse, weil du noch am Leben,
Bald findet mir mein Nachbar Vitalian,[209]
Zur Linken seinen Sitz, hier gleich daneben.
70
Oft schrein mich diese Florentiner an,
Mich Paduaner, mir zum größten Schrecken:
Möcht aller Ritter Ausbund endlich nahn!
73
Wo mag doch die Drei-Schnabel-Tasche stecken?“ –
Hier zerrt’ er’s Maul schief und die Zunge zog
Er vor, gleich Ochsen, so die Nase lecken.
76
Schon fürchtet ich, da ich so lang verzog,
Den Zorn des Meisters, der auf Eil’ gedrungen,
Daher ich schnell mich wieder rückwärts bog.
79
Auch fand ich, daß er schon sich aufgeschwungen
Und auf das Kreuz des Ungethüms gesetzt.
Er sprach: „Stark sei dein Muth und unbezwungen!
82
Hinunter geht’s auf solchen Leitern jetzt.
Steig’ vorn nur auf, ich wills inmitten fassen,
Daß dich des Schwanzes Stachel nicht verletzt.“
85
Wie Einer, dem die Nägel schon erblassen[210]
Beim Wechselfieber-Anfall – der nicht wagt,
Ob zitternd schon, den Schatten zu verlassen;
[98]
88
So war ich jetzt bei dem, was er gesagt,
Doch machte mich die Scham, gleich einem Knechte,
Wenn ihm ein güt’ger Herr droht, unverzagt.
91
Drum setzt’ ich auf dem Unthier mich zurechte.
Und bitten wollt’ ich (doch erstarb der Ton),
Daß er mich fest mit seinem Arm umflechte.
94
Doch Er, der oft bei der Dämonen Drohn
Mich unterstützt und der Gefahr entzogen,
Umfaßte mich mit seinen Armen schon.
97
Und sprach: „Geryon, auf! Nun fortgeflogen!
Allein bedenke, wen dein Rücken trägt,[211]
Drum steige sanft hinab in weiten Bogen.“
100
Wie rückwärts sich vom Strand der Kahn bewegt,[212]
Schob sich’s vom Damm, doch, kaum hinabgeklommen,
Ward dann im freien Spielraum umgelegt.
103
Als, wo die Brust war, nun der Schweif gekommen,
Ward dieser, wie ein Aalschweif ausgestreckt,
Und mit dem Tatzenpaar die Luft durchschwommen.
106
So, glaub’ ich, war nicht Phaëton erschreckt,
Als einst die Zügel seiner Hand entgingen,
Beim Himmelsbrand, deß Spur man noch entdeckt;[213]
109
Noch Icarus, als von erwärmten Schwingen
Das Wachs herniedertropft’, bei Dädal’s Schrei’n:
„Dein Weg ist schlecht, dein Flug wird nicht gelingen;“ –
112
[99] Wie ich, nichts sehend, als das Thier allein,
Und rings umher von öder Luft umfangen,
Wo nie entglomm des Lichtes heitrer Schein.
115
Daß wir uns langsam, langsam niederschwangen,
Im Bogenflug, bemerkt’ ich nur beim Wehn
Der Luft von unten her an Stirn und Wangen.
118
Rechts hört’ ich schon das Wirbeln und das Drehn
Des Wasserfalls und sein entsetzlich Brausen,
Und bog mich vorwärts, um hinabzusehn.
121
Doch schüchtern wieder bei des Abgrunds Sausen,
Bei Klag’ und Glut, die ich vernahm und sah,
Duckt’ ich mich hin und zitterte vor Grausen.
124
Was ich erst nicht gesehn, das sah ich da:
Wie wir im weiten Kreis hinunterstiegen,
Und sah mich überall den Qualen nah.
127
Gleichwie ein Falk, wenn er nach langem Wiegen
In hoher Luft nicht Raub noch Lockbild sieht,
Und ihn der Falkner ruft, herabzufliegen,
130
So schnell er stieg, so langsam niederzieht,
Dann, zürnend seinem Herrn, auf luft’gen Pfaden
Im Bogenflug zum fernsten Baume flieht;
133
So setzt’ uns an den steilen Felsgestaden
Geryon ab und flog in großer Eil’,
Sobald er nur sich unsrer Last entladen,
136
Hinweg, gleich einem abgeschnellten Pfeil.
_______________
Achtzehnter Gesang.
VIII. Kreis. 1. u. 2. Bulge. Kuppler und Schmeichler.
1
Ein Ort der Hölle, namens Uebelsäcken,[214]
Ist eisenfarbig, ganz erbaut von Stein,
[100]
So auch die Dämme, die ringsum ihn decken.
4
Grad in der Mitte dieses Lands der Pein
Gähnt hohl ein Brunnen, weit, mit tiefem Schlunde,
Von dem wird seines Orts die Rede sein.
7
Und zwischen Höhl’ und Felswand gehn im Runde
Rings so die Dämme, daß der Thäler zehn
Abschnitte bilden in dem tiefen Grunde.
10
Wie um ein Schloß mehrfache Gräben gehn,
Dahinter wohlverwahrt die Mauern ragen,
Und sicherer den Feinden widerstehn:
13
So war umgürtet dieser Ort der Plagen;
Und wie man Brücken pflegt zum andern Strand
Aus solcher festen Schlösser Thor zu schlagen,
16
So sprangen Zacken aus der Felsenwand,
Durchschnitten Wäll’ und Gräben erst und gingen
Wie Räderspeichen bis zum Brunnenrand.
19
Kaum konnten wir vom Kreuz Geryons springen,[215]
So ging links hin mein Meister, und befahl
Auch mir, auf seinen Spuren vorzudringen.
22
Und ganz erfüllt sah ich das erste Thal
Rechts, wohin Klagen meine Blicke riefen,
Von neuen Peinigern und neuer Qual.
25
Es waren nackte Sünder in den Tiefen,[216]
[101] Getheilt, denn hier zog gegen uns die Schaar,
Und dort mit uns, nur daß sie schneller liefen:
28
Gleichwie man jüngst in Rom beim Jubeljahr
Zum Uebergang die Brücke herzurichten
Gewußt, ob großen Andrangs, also zwar,
31
Daß hier gewendet sind mit den Gesichten,
Die zu Sanct Peter wallen, nach dem Schloß –
Die Andern dort sich nach dem Berge richten.
34
Auf schwarzem Stein sprang hier und dort ein Troß
Von Teufeln nach, von schrecklichen, gehörnten,
Die schlugen wild auf sie von hinten los.
37
Wie sie beim ersten Schlage laufen lernten!
Wie sie, nicht wartend auf den zweiten Hieb,
Mit jähen langen Sprüngen sich entfernten!
40
So fiel auf Einen, den die Geißel trieb,
Mein Auge jetzt hinab, bei dem ich dachte,
Daß er nicht fremd mir auf der Erde blieb.
43
Scharf blickt’ ich hin, damit ich ihn betrachte,
Auch hielt mein Führer an, der’s zugestand,
Daß ich zurück erst ein’ge Schritte machte.
46
Zwar sucht’ er, bodenwärts den Blick gewandt,
Mir mit Gestalt und Angesicht zu geizen,
Doch rief ich, da ich dennoch ihn erkannt:
49
„„Wenn deine Züge nicht zum Irrthum reizen,
So mein’ ich, daß Venedigo du seist;[217]
Doch weshalb steckst du so in scharfen Beizen?““
[102]
52
„Nur ungern sag’ ich’s,“ sprach er drauf, „doch reißt
Die helle Stimm’ mich hin, die mich bezwungen,
Und alte Zeit zurückführt meinem Geist.
55
Ich bin’s, der in Ghisolen so gedrungen,
Daß sie nach des Markgrafen Willen that,
Wie ganz entstellt auch das Gerücht erklungen.
58
Und aus Bologna ist auf gleichem Pfad
An diesen Qualort so viel Volk gekommen,
Als jetzo diese Stadt kaum Bürger hat.[218]
61
Und sollte dir hierbei ein Zweifel kommen,
So denk’, um sicher auf mein Wort zu bau’n,
Wie Habsucht uns die Herzen eingenommen.“
64
Sprach’s, und ein Teufel kam, um einzuhau’n,
Mit hochgeschwungner Geißel her und sagte:
„Fort, Kuppler, fort, hier giebt’s nicht feile Frau’n.“
67
Zum Führer ging ich, da ich bebt’ und zagte,
Und bald gelangten wir an einen Ort,
Wo aus der Wand ein Felsen vorwärts ragte.
70
Und dieser Zacken dient’ als Brücke dort.
Leicht klommen beide wir hinauf und zogen
Rechtshin aus jenen ew’gen Kreisen fort.
73
Bald dort, wo unter uns der Fels als Bogen
Sich höhlt’ und Durchgang der Gepeitschten war,[219]
Sprach Er: „In gleicher Richtung fortgezogen,[220]
76
Sind wir bis jetzt mit jener zweiten Schaar,
Drum konnten wir sie nicht von vorne sehen,
[103] Jetzt aber nimm die Angesichter wahr.“
79
Wir blieben nun am Rand der Brücke stehen
Und sahn den Schwarm, der uns entgegen sprang,
Denn eilig hieß die Geißel Alle gehen.
82
Da sprach mein Hort: „Sieh, noch mit Stolz im Gang,[221]
Den Großen, der sich keine Klag’ erlaubte,
Dem aller Schmerz noch keine Thrän’ entrang,
85
So königlich noch an Gestalt und Haupte!
Der Jason ist’s, der durch Verstand und Muth
Das Widdervließ dem Volk von Kolchis raubte.
88
Nach Lemnos kam er, als in ihrer Wuth
Die Frau’n, die glühend Eifersucht durchzückte,
Vergossen hatten aller Männer Blut;
91
Wo er durch Worte täuschend ausgeschmückte,
Berückt HypsipyIen das junge Herz,
Die alle Frau’n von Lemnos erst berückte.
94
Dort ließ er schwanger sie in ihrem Schmerz.
Dies bracht’ ihn her; und gleiche Straf’ erheischen
Medea’s Leiden, einst ihm Spiel und Scherz.
97
Auch gehn mit ihm, die gleicher Weise täuschen.
Allein dies sei vom ersten Thal genug,
Und denen, so die Geißeln drin zerfleischen.“[222]
100
Im Kreuz den zweiten Damm durchschneidend, trug
[104]
Der Felspfad uns, der, auf den Widerlagen
Der Dämme hier den andern Bogen schlug.
103
Dort, aus dem zweiten Sack, klang dumpfes Klagen,[223]
Und Leute sahn wir tief im Grunde sich
Laut schnaufend mit den flachen Händen schlagen.
106
Der Dämme Seiten waren schimmelig
Vom untern Dunste, der wie Teig dort klebte,
Für Aug’ und Nase feindlich widerlich;
109
Doch vor dem Blick, so sehr ich forschte, schwebte
Noch dunkle Nacht, weil tief der Abgrund ist,
Bis ich des Felsenbogens Höh’ erstrebte.
112
Von hier, wo erst der Blick die Tiefe mißt,
Sah ich viel Leut’ im tiefen Kothe stecken,
Wie in dem Abort er zu finden ist.
115
Ich forscht’ und sah ein Haupt sich vorwärts strecken,
Doch ganz beschmutzt mit Koth, drum konnt’ ich nicht,
Ob’s Lai’, ob Pfaffe sei, genau entdecken.
118
Da schrie er her: „Was bist du so erpicht,
Mich mehr, als andre Schmutz’ge, zu gewahren?“
Und ich: „„Weil, ist mir recht, ich dein Gesicht
121
Bereits gesehn, allein mit trocknen Haaren.
Alex Interminei heißest du,[224]
Drum seh ich mehr auf dich, als jene Schaaren.““
124
Und er, die Stirn sich schlagend, rief mir zu:
„Mich stürzte Schmeichelei herab zur Hölle,
Die meine Zunge übte sonder Ruh.“
127
Da sprach zu mir mein guter Meister: „Stelle
Dich etwas vor, und in die Augen fällt
Dir eine schmutz’ge Dirn’ an jener Stelle.
130
Sieh die Zerzauste, die sich kratzt und krellt
Mit koth’gen Nägeln, jetzt aufs Neue greulich
[105] Im Mist versinkt und jetzt sich aufrecht stellt.
133
Die Hure Thais ist’s, jetzt so abscheulich.[225]
Fragt’ einst ihr Buhl: „Steh ich in Gunst bei dir?“
Versetzte sie: „Ei, ganz erstaunlich! Freilich!“
136
Doch sei gesättigt unsre Schaulust hier.“
_______________
Neunzehnter Gesang.
VIII. Kreis. 3. Bulge. Simonisten. Nikolos III. und andere Päpste.
1
O Simon Magus, ihr, o Arme, Blöde,[226]
Die, was der Tugend ihr vermählen sollt,
[106]
Die Gaben Gottes räuberisch und schnöde,
4
Ihr hingabt schnöd’ um Silber und um Gold,
Von euch soll jetzo die Posaun’ erschallen;
Euch zahlt der dritte Sack der Sünden Sold. –
7
Erstiegen hatten wir die Felsenhallen
Des Stegs, von welchem mitten in den Schooß
Des nächsten Schlunds die Blicke senkrecht fallen.
10
Allweisheit, wie ist deine Kunst so groß,
Im Himmel, auf der Erd’, im Höllenschlunde.
Und wie gerecht vertheilst du jedes Loos:
13
Ich sah dort an den Seiten und im Grunde
Viel Löcher im schwarzbläulichen Gestein,
Gleich weit und sämmtlich ausgehöhlt zum Runde.
16
Sie mochten so, wie jene, wo hinein[227]
Beim Taufstein Sanct Johanns die Täufer treten,
Und enger nicht, doch auch nicht weiter sein.
19
Eins dieser sprengt’ ich einst, weil ich in Nöthen
Ein halbersticktes Kindlein drin entdeckt:
So sei’s besiegelt, so will ich’s vertreten!
22
Ich sah, daß sich aus jedem Loch gestreckt,
Zwei Füß’ und Beine bis zum Dicken fanden,
Der andre Leib blieb innerhalb versteckt;
25
Sah wie die Sohlen beid’ in Flammen standen,
Und sah die Knorren zappeln und sich drehn,
So stark, daß sie wohl sprengten Kett und Banden;
28
Wie wir’s an ölgetränkten Dingen sehn,
Wo obenhin die Flammen flackernd rennen,
So von der Ferse dort bis zu den Zeh’n.
31
[107] „„Gern, Meister,““ sprach ich, „„möcht’ ich diesen kennen,
Der wilder zuckt, als die, so ihm gesellt,
Und dessen beide Sohlen röther brennen.““
34
Und Er: „Ich trage dich, wenn dir’s gefällt,
Am schiefen Hang hinab – Er wird dir zeigen,
Wer einst er war, und was im Loch ihn hält.“
37
Drauf Ich: „„Du bist der Herr, und mein Bezeigen
Folgt dem gern, was mir als dein Wille kund,
Und du verstehst mich auch bei meinem Schweigen.““
40
Drauf ging’s zum vierten Damm, und links zum Schlund[228]
Trug mich mein Herr hinab zu neuen Leiden
In den durchlöcherten und engen Grund.
43
Er ließ mich nicht von seiner Hüfte scheiden,[229]
Auf die er mich gesetzt, bis bei dem Ort
Deß, der da weinte mit den Füßen beiden.
46
„„Du, mit dem Obern unten,““ sprach ich dort,
„„Hier eingerammt gleich einem Pfahl, verkünde:
Wer bist du? sprich, ist dir vergönnt dies Wort.““
49
Ich stand, dem Pfaffen gleich, dem seine Sünde[230]
Der Mörder beichtet, welcher, schon im Loch,
Ihn rückruft, daß der Tod noch Aufschub finde.
52
Da schrie er: „Bonifaz, so kommst du doch,[231]
[108]
So kommst du doch schon jetzt, mich fortzusenden?
Und man versprach dir manche Jahre noch?
55
Schon satt des Guts, ob deß mit frechen Händen
Du trügerisch die schöne Frau geraubt,
Um ungescheut und frevelnd sie zu schänden?“
58
Ich stand verlegen, mit gesenktem Haupt,[232]
Wie wer nicht recht versteht, was er vernommen,[233]
Und sich, beschämt kein Gegenwort erlaubt.
61
Da sprach Virgil: „Was stehst du so beklommen?
Sag’ ihm geschwind, daß du nicht jener seist,
Den er gemeint!“ – Ich eilt’, ihm nachzukommen.
64
Die Füße nun verdrehte wild der Geist,
Und sprach mit Seufzern und mit dumpfen Klagen:
„Was also ist’s, das so dich fragen heißt?
67
Doch standest du nicht an, dich herzuwagen,
Um mich zu kennen, wohl, so sag’ ich dir,
Daß ich den hehren Mantel einst getragen.
70
Der Bärin wahrer Sohn war ich, voll Gier
Für’s Wohl der Bärlein, und für diese steckte
Ich in den Sack dort Gold, mich selber hier.
73
Auch unter meinem Haupt gibt’s viel Versteckte,
Fest eingerammt hier in dem Felsenspalt,
Sie, die vor mir die Simonie befleckte.
76
Und dort hinab versink’ auch ich, sobald
Der kommt, für welchen ich dich angesehen,
Und der mir folgt in diesem Aufenthalt.
79
[109] Doch wird er nicht so lang, als mir geschehen,
Die Füße brennend, köpflings eingesteckt,
Fest eingepfählt in diesem Loche stehen.
82
Denn nach ihm kommt, mit schlechterm Thun befleckt,[234]
Ein Hirt von Westen, ein gesetzlos Wesen,
Der mich und ihn hinab zur Tiefe schreckt.
85
Ein neuer Jason ist’s, von dem zu lesen[235]
Im Maccabäer-Buch, dem Philipp wird,
Was diesem einst Antiochus gewesen.“
88
Ich weiß nicht, ob ich nicht zu sehr geirrt,[236]
Auf solche Red’ ihm dieses zu versetzen:
„„Sprich, was verlangt einst unser Herr und Hirt,
91
Zuerst von Petrus wohl an Gold und Schätzen,
Um ihm das Amt der Schlüssel zu verleihn?
„Komm, sprach er, um mein Werk nun fortzusetzen!“
94
Was trug’s dem Petrus und den Andern ein,[237]
Als man durch Loos einst den Matthias kürte,
Statt dessen, der ein Raub ward ew’ger Pein?
97
Nichts ward dir hier, als das, was sich gebührte!
Und hüte wohl das schlecht erworbne Geld,
[110]
Das gegen Karln zur Kühnheit dich verführte.[238]
100
Und nur, weil Ehrfurcht meine Zunge hält
Für jene Schlüssel, die du einst getragen,
Da du gewandelt in der heitern Welt,
103
Enthalt’ ich mich, dir Schlimmeres zu sagen:
Daß schlecht die Welt durch eure Habsucht ist,
Die Guten sinken, und die Schlechten ragen.
106
Euch Hirten meinte der Evangelist,[239]
Bei Ihr, die sitzend auf den Wasserwogen
Mit Königen zu buhlen sich vermißt.
109
Sie, mit den sieben Häuptern auferzogen,
Sie hatt’ in zehen Hörnern Kraft und Macht,
So lang’ der Tugend ihr Gemahl gewogen.
112
Eu’r Gott ist Gold und Silber, Glanz und Pracht,
Wohl besser sind die, so an Götzen hangen,
Die einen haben, wo ihr hundert macht.
115
Welch Unheil, Constantin, ist aufgegangen –[240]
Nicht, weil du dich bekehrt, nein, weil das Gut
Der erste reiche Papst von dir empfangen.““
118
Indeß ich also sprach mit keckem Muth,
Da, sei’s, daß Zorn ihn, daß ihn Reue nagte,
Verdreht’ er beide Bein’ in großer Wuth.
121
Doch schien’s, daß es dem Führer wohlbehagte;
So stand er dort, zufrieden, aufmerksam,
Als ich so nachdrucksvoll die Wahrheit sagte;
124
Worauf er mich mit beiden Armen nahm,
Und als er mich an seine Brust gewunden
Den Weg zurückestieg, auf dem er kam.
127
Er trug, nie matt, wie fest er mich umwunden,
Mich auf des Bogens Höhe sonder Rast,
[111] Durch den der viert’ und fünfte Damm verbunden.
130
Dort setzt er sanft zu Boden meine Last.
Sanft, ob der Fels auch, steil emporgeschossen,[241]
Zum Wege kaum für eine Ziege paßt;
133
Da ward ein andres Thal mir aufgeschlossen.
_______________
Zwanzigster Gesang.
VIII. Kreis. 4. Bulge. Zauberer. Tiresias, Manto etc.
1
Die neue Qual, zu der ich jetzt gewandelt,[242]
Sie gibt dem zwanzigsten Gesange Stoff
Des ersten Lieds, das von Verdammten handelt.
4
Ich stand auf jenem Felsen rauh und schroff,
Und spähte scharf hinab zum offnen Schlunde,
Der ganz von angsterpreßten Zähren troff.
7
Viel Leute gingen langsam in der Runde,
So, wie ein Wallfahrtszug die Schritte lenkt,
Stillschweigend, weinend in dem tiefen Grunde.
10
Als tiefer ich den Blick auf sie gesenkt,[243]
[112]
Sah ich – ein Wunder scheint es und erdichtet –
Vom Kinn sie bis zum Achselbein verrenkt,
13
Das Angesicht zum Rücken hingerichtet;
Drum mußten sie gezwungen rückwärts gehn,
Und ihnen war das Vorwärts-Schau’n vernichtet.
16
So soll ein Schlagfluß wohl das Haupt verdrehn,
Wie man erzählt in wunderlichen Sagen,
Doch glaub’ ich’s nicht, da ich es nie gesehn.
19
Läßt Gott dein Lesen, Leser, Früchte tragen,[244]
So frage selber dich, wie mir geschah,
Ob ich nicht weinen mußt und ganz verzagen,
22
Als ich des Menschen Ebenbild so nah
Verrenkt, verdreht, und von der Augen Thränen
Genetzt den Spalt der Hinterbacken sah?
25
Wahr ist’s, auf eine von den Felsenlehnen
Stand ich gestützt, und weinte ganz verzagt;
Da sprach mein Herr: „Willst du, gleich Thoren, wähnen?
28
Fromm ist nur, wer das Mitleid hier versagt.[245]
Wer ist verruchter wohl, als wer zu schmähen
Durch sein Bedauern Gottes Urtheil wagt?
31
Empor das Haupt, empor! Den wirst du sehen,[246]
Den einst vor Thebens Blick der Grund verschlang;“
[113] Drob alle schrie’n: Wohin, was ist geschehen?
34
Amphiaraus, wird der Kampf zu lang? –
Doch stürzt’ er fort und fort im tiefen Schachte,
Bis Minos ihn, gleich anderm Volk, bezwang.
37
Schau, wie er ihm die Brust zum Rücken machte!
Schau, wie er rückwärts schreitet, rückwärts sieht,
Weil er zu weit voraus zu sehen dachte.
40
Tiresias sieh, der uns entgegenzieht.[247]
Er, erst ein Mann, ward durch des Zaubers Gabe
Verwandelt in ein Weib an jedem Glied.
43
Dann aber schlug er mit dem Zauberstabe
Zuvor auf zwei verwundne Schlangen ein,
Damit er wieder Mannsgestaltung habe.
46
Den Rücken ihm am Bauch, kommt hinterdrein,
Nah angedrängt an ihn, des Aruns Schatte,[248]
Der lebend einst in Luni’s Felsenreihn
49
Als Haus die weiße Marmorhöhle hatte,
Wohl ausgesucht, daß sie zum Meeresstrand
Und zu den Sternen freien Blick gestatte. –
52
Die mit den wilden Haaren ohne Band
Die Brüste deckt, die sich nach hinten kehren,
Was sonst am Leib ist, hinterwärts gewandt,
55
War Manto, die in Ländern und auf Meeren[249]
Umirrte bis zum Ort, der mich gebar.
Von dieser will ich näher dich belehren.
58
Nachdem der Welt entrückt ihr Vater war,
Und Bacchus Stadt verfiel in Sclavenbande,
Durchstreifte sie die Welt so manches Jahr.
[114]
61
Ein See liegt an des schönen Welschlands Rande,
Am Fuß des Alpgebirgs, das Deutschland schließt,
Benaco heißend, beim Tyroler Lande.[250]
64
Zwischen Camonica und Gard’ ergießt,
Und Apennin, sich Flut in tausend Bächen,
Die in besagtem See zusammenfließt.
67
Inmitten aber liegen ebne Flächen,
Und drei verschied’ne Hirten könnten dort[251]
Auf einem Gränzpunkt ihren Segen sprechen,
70
Hier liegt Peschiera dann, ein starker Ort,
Um Bergamo von Brescia abzuschneiden,
Und rings geht flacher dann die Gegend fort.
73
Hier muß sich von dem See das Wasser scheiden,
Das nicht mehr Raum in seinem Schooß gewinnt,
Und strömt als Fluß herab durch grüne Weiden.
76
Das Wasser, das hier seinen Lauf beginnt,
Heißt Mincio nun, und seine Wellen gleiten
Bis nach Governo, wo’s im Po verrinnt.
79
Nicht weit gelaufen, trifft es ebne Weiten,
Wo es sich ausdehnt und zum Sumpfe staut,
Der bösen Dunst verhaucht zu Sommerszeiten.
82
Als dort das rauhe Weib ein Land erschaut,
Das jenes Sumpfes Wogen rings umgaben,
Entblößt von Leuten und unangebaut,
85
Da blieb, um nichts von Menschen nah zu haben,
Sie mit den Dienern da, trieb Zauberei,
Und lebt’ und ward in diesem Land begraben.
88
Bald kamen Menschen, rings zerstreut, herbei,
Die, weil sie sich auf diesen Ort verließen,
Und sahn, daß durch das Moor kein Zugang sei,
91
Sich auf dem Grabe Manto’s niederließen,
Und dann nach ihr, die erst den Ort erwählt,
[115] Die Stadt, ohn’ andres Zeichen, Mantua hießen.
94
Sie hat vordem des Volkes mehr gezählt,
Eh’ Pinamont, den Thoren zu betrügen,[252]
Dem Cassalodi seinen Trug verhehlt.
97
Drum merke wohl, und sollt’ es je sich fügen,
Daß Mantua’s Ursprung man nicht so erklärt,
So laß der Wahrheit nichts entziehn durch Lügen.“
100
Und ich: „„Mein Meister, was dein Wort mich lehrt,
Ist mir gewiß und dient zu meinem Frommen,
All’ Andres ist nur todte Kohl’ an Werth.
103
Doch sprich, von diesen, die uns näher kommen,
Ist irgend wer bemerkenswerther Art?
Denn dies nur hat den Geist mir eingenommen.““
106
Und Er: „Des Augurs Trug hat der, deß Bart[253]
Die braunen Schultern deckt, zur Zeit getrieben,
Als Griechenland so leer an Männern ward,
109
Daß Knaben kaum noch für die Wiegen blieben.
In Aulis sagt’ er da mit Kalchas wahr,
Zeit wär’s, daß sie das erste Tau zerhieben.
112
Kund thut mein tragisch Lied dir, wer er war.[254]
Du wirst dich des Eurypylus entsinnen,
Denn mein Gedicht ja kennst du ganz und gar.
115
Sieh Michael Scotto auch, den magern, dünnen,[255]
Der jeden Trug des Zaubers klug gelenkt,
Und solches Spiel verstanden zu gewinnen.
118
Bonatti sieh – Asdent, den’s jetzo kränkt,
Allein zu spät, daß er in eitlem Trachten
[116]
Doch nicht auf seinen Leisten sich beschränkt.
121
Sieh Vetteln, die statt Spill’ und Rad zu achten
Und Weberschiff, wie’s einem Weib gebührt,
Mit Kraut und Bildern Hexereien machten.
124
Jetzt komm! Indeß ich dich hierher geführt,[256]
Hat an der Gränze beider Hemisphären
Der Mond im Westen schon die Flut berührt.
127
Du sahst ihn gestern sich zum Rund verklären,
Und sahst ihn dir im dichtverwachsnen Wald[257]
Verschiedne Mal willkommnes Licht gewähren.“
130
Er sprach’s, doch gingen wir ohn’ Aufenthalt.
Dante Alighieri / Die Komödie, oder auch die Göttliche Komödie
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