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Michel und Bruno und ein Schatten von Batemann schrieb am 23.12. 2008 um 03:53:23 Uhr über

Ygramul-die-Viele

Der Augenblick war gekommen, wo Atreju wiklich nicht mehr weiterkonnte. Vor ihm gähnte der Tiefe Abgrund. Die großartige Schauerlichkeit des Anblicks läßt sich mit Worten nicht beschreiben. Quer durch das Land der Toten Berge klaffte die Erde in einem Riß, der etwa eine halbe Meile breit sein mochte. Seine Tiefe war nicht zu erkennen.

[...]
Als er gerade in einer engen Höhle steckte, die wie eine gewundene Röhre durch das Felsenmassiv führte, hörte er plötzlich ein Getöse, das er sich nicht erklären konnte, denn er hatte keine Ähnlichkeit mit irgendeinem anderen Lärm, den er je vernommen hatte. Es war ein Brausen und Brüllen und Klirren, und zugleich fühlte Atreju, wie der ganze Felsen, in dem er steckte, bebte, und er vernahm das Krachen von Steinblöcken, die draußen polternd von den Bergwänden stürzten. Eine Weile wartete er, ob das Erdbeben - oder was immer es sein mochte - nachlassen würde, als es jedoch anhielt, kroch er weiter, erreichte schließlich den Ausgang und streckte vorsichtig den Kopf hinaus.
Und nun sah er: Über der Finsternis des Tiefen Abgrundes, von einem Rand zum anderen gespannt, hing ein ungeheures Spinnennetz. Und in den klebrigen Fäden dieses Netztes, die dick wie Seile waren, wand sich ein großer weißer Glücksdrache, schug mit dem Schwanz und Klauen um sich und verstrickte sich doch nur immer rettungsloser.

[...]
Das herrliche Tier blutete aus vielen Wunden, denn da war noch etwas anderes, etwas Riesiges, das sich immer von neuem blitzschnell über den weißen Drachenleib stürzte wie eine dunkle Wolke, die ununterbrochen ihre Gestalt änderte. Bald glich sie einer Riesenspinne mit langen Beinen, vielen glühenden Augen und einem dicken Körper, der mit einem schwarzen, verfilzten Haargestrüpp bedeckt war, dann wurde sie zu einer einzigen großen Hand mit langen Klauen, die den Glücksdrachen zu zerquetschen suchte, und im nächsten Augenblick verwandelte sie sich in einen schwarzen Riesenskorpion, der mit seinem Giftstachel nach seinem unglücklichen Opfer schlug.

[...] Einmal gelang es dem Glücksdrachen sogar, seinem Gegner eines seiner langen Beine abzubeißen. Doch das abgetrennte Glied fiel nicht etwa in die Tiefe des Abgrundes, sondern bewegte sich einen Augenblick allein in der Luft und kehrte dann an seinen vorigen Platz zurück und vereinigte sich wieder mit dem dunklen Wolkenkörper. Und so geschah es immer wieder, der Drache schien ins Leere zu beißen, sobald er eines der Glieder mit seinen Zähnen fassen konnte.
Nun erst bemerkte Atreju, was ihm bisher entgangen war: Dieses ganze grausige Geschöpf bestand garnicht aus einem einzigen, festen Körper, sondern aus unzähligen kleinen stahlblauen Insekten, die wie zornige Hornissen summten und im dichten Schwarm immer neue Gestalten bildeten.
Es war Ygramul, und nun wußte Atreju auch, warum sie >die Viele< genannt wurde.

[...]
Ygramul fühlte plötzlich, daß sich ihr etwas näherte. Sie fuhr blitzschnell herum, und ihr Anblick war entsetzlich: Sie war jetzt nur noch ein riesenhaftes stahlblaues Gesicht mit einem einzigen Auge über der Nasenwurzel, das mit einer senkrechten Pupille voll unvorstellbarer Bosheit auf Atreju starrte.

[...]
Und nun hörte Atreju auch Ygramuls Stimme. Es war eine sehr hohe und etwas heisere Stimme, die ganz und gar nicht zu ihrem Riesengesicht passen wollte. Auch bewegte sie den Mund nicht beim Sprechen. Es war das Surren eines riesigen Hornissenschwarms, das sich zu Worten formte: >Ein Zweibein!< hörte Atreju, >nach so langer, langer Zeit des Hungerns gleich zwei Leckerbissen! Was für ein Glückstag für Ygramul!< Atreju mußte alle Kraft zusammennehmen. Er hielt den »Glanz« vor das einzige Auge des Ungeheuers und fragte:
>Kennt ihr dieses Zeichen?<
>Komm näher, Zweibein!< surrte der vielstimmige Chor. >Ygramul sieht nicht gut.<
Atreju trat einen Schritt weiter auf das Gesicht zu. Es öffnete jetzt den Mund. Anstelle der Zunge hatte es zahllose flimmernde Fühler, Zangen und Greifer.
>Noch näher!< summte der Schwarm.
Noch einmal tat er einen Schritt und stand nun so nahe vor dem Gesicht, daß er deutlich die zahllosen stahlblauen Einzelwesen sehen konnte, die wie wild durcheinander wirbelten. Und doch blieb das schreckliche Gesicht im ganzen reglos.

[Atreju fordert den Glücksdrachen von Ygramul]
Aus dem wirbelnden Schwarm, der das Gesicht bildete, war etwas zu hören, was ein vielstimmiges Kichern sein konnte.

[...]
>Außerdem<, fuhr das Gesicht fort, ohne sich zu regen, >ist Ygramuls Gift im Körper des Drachen. Ihm bleibt höchstens noch ein Stündchen zu leben.<
>Dann<, murmelte Atreju, >gibt es keine Hoffnung mehr, nicht für ihn, nicht für mich und auch nicht für Euch, Ygramul.<
>Nun<, summte die Stimme, >Ygramul würde zumindest noch einmal gut gespeist haben. Aber noch ist nicht gesagt, daß es wirklich Ygramuls letzte Mahlzeit ist. Sie wüßte noch ein Mittel, dich im Handumdrehen zum südlichen Orakel zu befördern. Nur, ob es dir gefällt, Atreju Zweibein, das ist die Frage.<
>Wovon sprecht ihr?<
>Es ist Ygramuls Geheimnis. Auch Geschöpfe des Abgrundes haben ihre Geheimnisse, Atreju Zweibein. Ygramul hat es niemals bisher preisgegeben. Und auch du mußt schwören, daß du es niemals verraten wirst. Denn es wäre zu Ygramuls Schaden, oh, sehr zu Ygramuls Schaden, wenn es bekannt würde.<
>Ich schwöre es. Redet!<
Das stahlblaue Riesengesicht neigte sich ein wenig vor und summte kaum hörbar:
>Du mußt dich von Ygramul beißen lassen.<
Atreju fuhr entsetzt zurück.
>Ygramuls Gift<, fuhr die Stimme fort, >tötet innerhalb einer Stunde, aber es verleiht dem, der es in sich trägt, zugleich die Macht, sich an jeden Ort Phantasiens zu versetzten, den er wünscht. Denk dir nur, wenn das bekannt würde! Alle Opfer würden Ygramul entwischen!<
>Eine Stunde?< rief Atreju, >aber was kann ich denn in einer einzigen Stunde ausrichten?<
>Nun -< summte der Schwarm, >es ist immerhin mehr als alle Stunden, die dir hier noch verbleiben. Entscheide du!<
Atreju kämpfte mit sich.
[...]
Es richtete sich auf und sagte: >Tu, was du vorgeschlagen hast!<
Blitzschnell fiel die stahlblaue Wolke über ihn her und umhüllte ihn von allen Seiten. Er fühlte einen rasenden Schmerz in der linken Schulter und dachte nur noch: Zum Südlichen Orakel! Dann wurde ihm schwarz vor Augen.




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