Die Wollust (Todsünde) Lange Zeit haben die Kirchen geglaubt, dass die Hauptsünden im Bett stattfinden. Und so haben sie der Unkeuschheit besonders intensiv nachgespürt. Es gibt eine lust-feindliche Tradition innerhalb des Christentums, der die Sexualität immer schon verdächtig war. Die falsche Auslegung des Keuschheitsgebots hat große Ängste erzeugt. Die hergebrachte christliche Skepsis habe ich vor kurzem auf komische Weise in meinem Briefkasten gefunden: Eine Werbeschrift für keusches Leben einer offensichtlich christlichen Sekte, in der das Wort Erotik immer mit zwei rr geschrieben war, also Erotik wie Error oder Terror! Aber die Erotik ist kein großer Irrtum oder Terror, sie ist eine der köstlichen Gaben Gottes. Die Verdächtigung der Sexualität ist in unserer Gesellschaft nicht mehr das Hauptproblem. Die Störung der Sexualität und ihre Herabwürdigung findet an anderer Stelle statt. Es ist die Allgegenwart, die Billigkeit und die vollkommene Trivialisierung des Sexuellen. Noch nie konnte man Sexualität so billig sehen, hören, haben wie heute. Die Allgegenwärtigkeit und die ständige Öffentlichkeit von Sexualität im Film, im Fernsehen, in der Werbung entwertet sie, macht sie gewöhnlich und unerheblich. Die Jugendlichen, die sich in den idiotischen Talkshows weitschweifig über ihre Partnerprobleme auslassen, wirken ja eher wie ihre eigenen gestressten Großmütter und Großväter. Von einer Kultur der Erotik kann keine Rede sein.
Könnte es sein, dass wir die alten Worte Keuschheit und Schamhaftigkeit neu bedenken müssen? Mit Keuschheit muss sich nicht der alte Missmut der Sexualität gegenüber verbinden. Es gibt eine Keuschheit, die die Sinnlichkeit fördert, wie es eine sexuelle Grobheit gibt, die sie zerstört. Sinn und Sinnlichkeit hängen nicht nur im Wortstamm zusammen. Ohne eine Kultur der Sinne keine Sinnlichkeit! Ohne Sinnlichkeit keinen Sinn!
Keuschheit heißt aber auch mit sich selbst und anderen Menschen ehrfürchtig und feinfühlig um zu gehen auch im Sinne von: etwas Anvertrautes, ein Geheimnis zu bewahren, sich selbst zurück zu nehmen, dem anderen den Platz zu gewähren, dem ihm gebührt. Nicht weil ich ihm dies gnädig zugestehe, sondern weil er Gottes Ebenbild ist, so wie ich.
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