RobertHarrison über Wohlstandsbürger:
»Nehmen gilt als Menschenrecht, das Geben ist bloß für die Doofen«
War der Mensch einst ein Untertan, so führt er sich heute auf wie ein Kind: Alles dreht sich um das eigene Ego. Der Kulturphilosoph Robert P. Harrison diagnostiziert im wohlhabenden Westen eine neue Infantilisierung – und eine Rückkehr zu Stammesgesellschaften. Wie wird das alles enden?
NZZ:
Herr Harrison, wir verehren die Jugend, und wir führen uns auf wie Kinder. Das ist, stark verkürzt, eine Gegenwartsdiagnose Ihres Buchs »Ewige Jugend«. Das klingt gleich so negativ – deshalb zuerst die Frage: Worin unterscheiden sich denn eigentlich Erwachsene und Kinder?
RobertHarrison:
Kinder staunen – und Erwachsene haben das Staunen oftmals verlernt, weil sie im Hamsterrad gefangen sind. Das wäre die eine klassische Antwort. Aber darauf will ich nicht hinaus.
NZZ:
Sondern?
RobertHarrison:
Das Kind ist eingehüllt in sich selbst. Es wächst in großer Sorglosigkeit auf und bezieht alles auf sich selbst. Das Selbst bildet das Zentrum der kindlichen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Erwachsenwerden hingegen ist ein Prozess, in dem die Grenzen des Selbst geöffnet werden, hin zu einem Bewusstsein, dass das Ich zu einem größeren Kontext gehört, den wir gemeinhin die Welt nennen. Das Kind ist – zusammengefasst – ein weltloses Wesen und darum oftmals sehr glücklich, während der Erwachsene weltlich ist und darum ständig um sein Glück besorgt ist.
NZZ:
Heute befinden wir uns Ihrer Meinung nach in einer Phase der Regression in die Kindheit. Was macht Sie da so sicher?
RobertHarrison:
Die meisten Erwachsenen wünschen sich in den kindlichen Zustand zurück. Es reicht ein Blick in die Straßen unserer Metropolen, den Maschinen des sozialen Wandels. Wir leben im Zeitalter einer breiten kulturellen Neotenie – einer Phase der verlängerten Unreife. Das zeigt sich daran, dass die Jugend vergöttert und das Alter verteufelt werden, während sich alle darin einig sind, auf sich selbst fixiert zu sein. Jeder ist sich sein eigener Maßstab, die Welt hat sich nach ihm zu richten und nicht umgekehrt. Das ist zuweilen komisch und oftmals tragisch.
NZZ:
Der frühkindliche Zustand beruht auf einer Abhängigkeit von Agenten der Wirklichkeit – nämlich den Eltern. Wer ihn wiederherstellen oder bewahren will, hat offensichtlich Mühe damit, den Preis der Unabhängigkeit zu bezahlen.
RobertHarrison:
Ich würde noch weiter gehen: Er lehnt die Verantwortung für die Erhaltung und das Wohlergehen der Welt ab, die ihn trägt. Verantwortliches Leben geht einher mit Leiden, du brauchst breite Schultern, du brauchst einen Plan. Du brauchst Vernunft. Und du brauchst Mitgefühl. Ich beschäftige mich in einem Seminar gerade mit Giambattista Vico, dem großen Philosophen aus Neapel. Da finden sich wunderbare Sätze, die unseren gegenwärtigen kulturellen Zustand beschreiben – sie zeigen, dass wir nicht die ersten sind, die regredieren. Haben Sie etwas dagegen, dass ich aus seiner »Scienza Nuova« vorlese?
NZZ:
Sofern es uns weiterbringt – nein, natürlich nicht. Legen Sie los.
RobertHarrison:
(Steht auf und greift nach dem Buch im Büchergestell.) Vico beschreibt den kindlichen Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung wie folgt, im Jahre 1725: »Da die Menschen wegen ihrer verderbten Natur von der Selbstsucht tyrannisiert werden, vermöge deren sie hauptsächlich nur ihren eigenen Vorteil verfolgen, und da sie daher allen Nutzen für sich und nichts für ihren Nächsten wünschen, so können sie nicht ihren Leidenschaften den Impuls geben, der sie auf die Gerechtigkeit hin ausrichten würde.«
Was hier skizziert wird, ist nichts anderes als das, was SigmundFreud später den primären Narzissmus nennen wird – eine Haltung, wonach das ganze Begehren des erwachsenen Menschen auf sein eigenes Selbst gerichtet ist. Aber der Mensch hat durchaus Entwicklungspotenzial und kann seinen Egozentrismus überwinden . . .
NZZ:
. . . und wie soll das geschehen?
RobertHarrison:
Vico schreibt weiter: »Daher legen wir also fest, dass der Mensch im unreifen Zustand allein seine Wohlfahrt liebt; hat er eine Frau genommen und Kinder gezeugt, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt der Familien; ist er zu politischem Leben gelangt, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt der Städte; hat sich seine Herrschaft über mehrere Stämme ausgedehnt, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt der Völker; sind die Völker durch Kriege, Friedensschlüsse, Bündnisse, Handelsverkehr geeint, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt des ganzen Menschengeschlechts.« Was Vico hier beschreibt, ist der Prozess des Erwachsenwerdens: Wer breite Schultern hat, nimmt Verantwortung für das große Ganze auf sich. Der Mensch weiß, dass er nicht seines Schicksals Meister ist, aber das lässt ihn nicht verzagen. Er nimmt Leiden in Kauf, Erfahrungen des Verlusts und Scheiterns. Der erwachsene Mensch trägt freiwillig diese Bürde, weil es richtig ist, sie zu tragen.
NZZ:
Halten Sie das Erwachsenwerden für einen heroischen Akt?
RobertHarrison:
Erwachsenwerden ist eine Horizonterweiterung. Du musst lernen, jene Welt zu lieben, deren Akteure dein Leben bestimmen, ohne dass du darum gefragt worden wärst. Und zugleich musst du dich selbst weiterhin lieben, denn tust du es nicht, kommst du dir selbst abhanden, löst dich in Luft auf. Das ist die Spannung zwischen Welt- und Selbstlosigkeit, die jeder aushalten können muss.
NZZ:
Die gesellschaftlichen Spannungen in westlichen Gesellschaften scheinen zuzunehmen. Woher kommt die Abkehr vom Globalismus, die Sehnsucht nach dem kleineren Kreis?
RobertHarrison:
Unsere Situation in der entwickelten Welt scheint paradox. Einerseits haben wir Vicos Endstadium erreicht: Wir wissen um die Verbundenheit von Ich, Wir und Welt, wir haben verinnerlicht, dass alles, was auf dem Globus geschieht, auf komplexe Art und Weise miteinander verbunden ist. Was in Indien oder Afrika passiert, betrifft uns hier in den USA. Völlig klar. Wir haben ein Bewusstsein des ganzen Menschengeschlechts. Doch ist diese Identifikation zugleich sehr abstrakt und darum schwach. Wir haben den Bogen überspannt. Nicht mehr jede politische Maßnahme lässt sich im Namen der Globalisierung rechtfertigen, von der angeblich alle profitieren. So bewegen wir uns weg vom Ideal einer universalistischen, aufgeklärten, ökonomisch und kulturell verflochtenen Menschheit hin zu einer Interdependenz neuer Stammesgesellschaften. Die neue Konfiguration bietet eine Menge Konfliktpotenzial.
NZZ:
Die Welt bleibt ja trotz allem stark vernetzt. Nüchtern betrachtet könnte man sagen: Es kommt zu einer Korrektur einer blinden globalen Fortschrittsrhetorik.
RobertHarrison:
Die Liebe für die große weite Welt zieht sich langsam, aber sicher zurück. Was dabei vergessen geht: Die jungen Menschen profitieren heute von der Weltliebe ihrer Vorfahren, sie führen im Durchschnitt ein großartiges Leben in einer Luxuswelt, die sich durch Prinzipien globaler Gerechtigkeit, wachsender Freiheit und zunehmender Gleichheit auszeichnet. Diese Welt neigt sich dem Ende zu, ein neues Zeitalter steht uns bevor. Wir stecken mitten in einem historischen Umbruch, dessen Konsequenzen wir unmöglich übersehen können. Es ist schon viel gewonnen, wenn wir halbwegs präzise zu beschreiben vermögen, was derzeit genau geschieht.
NZZ:
Halten Sie die Absage an die wohlstandsfördernde Globalisierung für naiv?
RobertHarrison:
Schauen Sie: Das Kind profitiert von der Fürsorge seiner Eltern, ohne sich dessen bewusst zu sein. Das Tischlein ist immer gedeckt, für Geborgenheit und Wohlergehen ist stets gesorgt, als würde im Hintergrund ein guter Geist wirken. Die Ansprüche wachsen in den Himmel. Aber diesen Geist gibt es nicht. Es gibt bloß die Hand der Menschen, die arbeiten, leisten und liefern. Irgendwann wacht das Kind auf und begreift, dass die menschliche Ordnung kein Naturzustand ist, sondern das Gegenteil davon – das Ergebnis harter, unaufhörlicher Arbeit. Dieses Erwachen, fürchte ich, steht uns noch bevor.
NZZ:
Hat der Staat im Westen die Rolle des Erwachsenen übernommen? Er muss sich um seine Kinder kümmern, von der Wiege bis zur Bahre. Und die Kinder formulieren, ihrer Rolle gemäß, ständig neue und weitergehende Ansprüche.
RobertHarrison:
Alles soll kostenlos sein – die Musik, die Filme, die Informationen. Und anonyme andere – eben der Staat – sollen für mein Wohlergehen sorgen. Nie war J. F. Kennedys Statement an die jungen Amerikaner – »Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann, fragt, was ihr für euer Land tun könnt« – unzeitgemäßer als heute. Die permanente Anspruchshaltung stellt das Resultat einer tiefgreifenden Infantilisierung dar. Nehmen gilt als Menschenrecht, das Geben ist bloß für die Doofen. Doch wächst der Mensch am Geben. Heidegger hatte recht, als er aus der Sorge das Zentrum seiner Philosophie machte: Der Mensch ist das Wesen, das im Geben und Teilen sein Potenzial wirklich ausschöpft.
NZZ:
Bleiben wir bei Ihrer Metaphorik. Agieren die modernen Staaten denn eher als Väter oder als Mütter?
RobertHarrison:
Es gibt beide Modelle. China ist wohl der Inbegriff des paternalistischen Staates: Er wacht autoritär über seine Kinderlein, die politischen Führer wissen besser, was für die Untergebenen gut ist, als diese selbst. Die Kinder haben nichts zu sagen, sondern bloß zu lernen vom höchsten Leader Xi Jinping. Das Gegenmodell sind die westlichen Demokratien, deren Wohlfahrtsstaaten eher wie Mütter agieren: Sie sind weniger autoritär, dafür leiten sie an, umsorgen, unterstützen, führen sanft, aber nicht weniger konsequent. Der Maternalismus – als Gegenbegriff zu Paternalismus – ist sehr effizient. Die Bürger sind keine Untertanen, sondern eben Kinder, die der Betreuung bedürfen. Der New Green Deal in den USA, freie Bildung für alle, ein kostenloses Gesundheitssystem, ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle – mein Gott, das ist so kindisch, so realitätsfern. Alles ist schon da, man muss es nur einfordern. Die radikalen Linken kultivieren diese Form des Etatismus auf geradezu rührende Art und Weise.
NZZ:
Nun klingen Sie wie ein Libertärer. Sind Sie für die Abschaffung des paternalistischen und des maternalistischen Staats?
RobertHarrison:
Ich bin für das Gespräch, den Kompromiss. Von den Libertären trennen mich Welten. Sie machen sich ebenfalls etwas vor, wenn sie glauben, ohne Regierung friedlich miteinander leben zu können. Das sind auf ihre Weise Utopisten. Die Vereinigten Staaten haben sich seit ihrer Gründung durch ein Balancieren zwischen den Extremen ausgezeichnet. Diese Balance – das ist jedenfalls mein Eindruck – geht gerade verloren.
NZZ:
Sie haben vom Entstehen einer neuen Stammesgesellschaft gesprochen. Was verstehen Sie darunter genau?
RobertHarrison:
Ganz einfach: Die Bindekräfte schwinden, der Mensch identifiziert sich wieder mit dem nahen Kreis, seiner Gruppe, seiner Gemeinschaft, seinem Geschlecht, seiner Partei. In den USA können Sie dies in Echtzeit mitverfolgen: Demokraten und Republikaner erinnern mittlerweile an zwei Religionsgemeinschaften, die sich geradezu feindlich gegenüberstehen. Freundschaften gehen am unterschiedlichen Bekenntnis zugrunde, Familien fallen auseinander.
NZZ:
Wie könnte vor diesem Hintergrund der Polarisierung ein neuer einender Liberalismus für Erwachsene aussehen?
RobertHarrison:
Im Zentrum muss die libertas – die politische Freiheit – stehen. Die Öffentlichkeit ist die Sphäre der Gleichheit unter Freien, Privatheit ist die Sphäre der Freiheit unter Ungleichen in Familie, Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft. Ich bin hier ein großer Verfechter der Philosophie von Hannah Arendt und ImmanuelKant. Heute droht der offene Zugang zur Sphäre der Öffentlichkeit verloren zu gehen. Aus meiner Sicht erleben wir nicht ein Überhandnehmen von Politik, sondern ihr Verschwinden. Es zählt nurmehr der Effekt, die Zuspitzung, die Polarisierung und nicht die Bedachtsamkeit, der Austausch, der echte, interessierte Streit. Aber gerade Letzteres ist für unser Miteinander unabdingbar.
NZZ:
Die Zuspitzung ist ein altes Stilmittel – schon die Sophisten beherrschten es auf ihre Weise meisterhaft. Warum sollte dies gerade heute ein drängendes Problem sein?
RobertHarrison:
Es war immer wieder ein Problem in der Geschichte der modernen Menschheit. Aber heute verdient es unsere besondere Aufmerksamkeit, weil es Menschen dank den neuen Medien umso leichter fällt, sich in eigenen Blasen und Stämmen zu organisieren. Je vielfältiger unsere Lebenswelt ist, desto klarer ist zugleich, dass ein friedliches Zusammenleben nur mithilfe von Kompromissen möglich ist. Das haben weder die radikalen Linken noch die Libertären begriffen. Der Reife schließt Kompromisse, nicht der Schwache. Uns fehlt genau diese Reifheit.
NZZ:
Ein Bürger zu sein, bedeutet, in der Öffentlichkeit zu erscheinen – mit seiner eigenen Stimme, ruhig und besonnen. Müssen wir das wieder lernen?
RobertHarrison:
Ich denke schon. Meine Stimme zählt in der Gemeinschaft, in der ich lebe. Andere sollen mich nicht zum Schweigen bringen können, als wäre ich bloß ein Kind, dessen Stimme kein legitimes Anliegen vertritt. Nein, die anderen sollen mir zuhören wollen. In diesem Moment kommt die Vernunft ins Spiel, die meinige und die der anderen. Wir reden, wir widersprechen einander, wir streiten, aber wir reden die ganze Zeit miteinander, weil wir die Vernunft teilen. Das ist die Essenz des Politischen. Und Politik findet nur da statt, wo Menschen sich als vernünftige Erwachsene begegnen. Tun sie es nicht, bleiben Betreuung, Verwaltung – und Geschrei.
NZZ:
Geschrei? Sie übertreiben.
RobertHarrison:
Keinesfalls. Vico beschreibt ja die Zyklen vom Aufstieg und Fall der Kulturen. Wenn ich seine Terminologie auf unsere Gegenwart anwende, kommt es mir so vor, als würden wir uns am Ende des Zeitalters des Menschen befinden. Vico spricht vom Umschlagen in die Barbarei. Aus Vernunft wird Skeptizismus, aus Skeptizismus wird Zynismus – nach dem Motto: Wahrheit existiert nicht, sondern ist bloß das Ergebnis von Illusionen und Trugschlüssen in einem menschlichen Machtspiel. Vico antizipiert das Zeitalter der FakeNews. Und er gibt uns zu verstehen: Nicht die FakeNews sind das Problem. Das Problem sind die Menschen, die sich um die Wahrheit foutieren. Ich würde gerne nochmals Vico zitieren, seine Analysen sind sehr triftig.
NZZ:
Nur zu – auch wenn Sie sich nun definitiv als Kulturkritiker outen.
RobertHarrison:
Ich gebe gerne zu, dass mir viele der beschriebenen Entwicklungen Sorgen bereiten. Vico bezieht sich also auf den Aufstieg und Fall des Römischen Reichs. Er schreibt in einem seiner berüchtigten langen Sätze: »Als auch die demokratischen Staaten entarteten und also auch die Philosophien (indem diese in den Skeptizismus verfielen, machten die törichten Gelehrten sich daran, die Wahrheit zu verleumden), und als daher eine falsche Beredsamkeit aufkam, die gleichermaßen gerüstet war, in den Prozessen beide entgegengesetzten Parteien zu unterstützen – kam es dahin, dass die Bürger, indem sie die Beredsamkeit missbrauchten (wie die Volkstribunen in der römischen Republik) und sich nicht mehr damit zufrieden gaben, auf den Reichtum die Ordnung zu gründen, darauf Macht gründen wollten.« Und weiter: »Wie wilde Südwinde das Meer aufpeitschen, so entfachten sie Bürgerkriege in ihren Republiken, trieben diese in eine völlige Unordnung und ließen sie so aus einer vollkommenen Freiheit unter eine vollkommene Tyrannei fallen (die schlimmer ist als alle), welche die Anarchie ist, das heißt die zügellos gewordene Freiheit der freien Völker.« Erinnert Sie das nicht an etwas?
NZZ:
Unsere Gegenwart? Nicht unbedingt. Die Welt bleibt ja maximal vernetzt, nur schon aufgrund der Technik – und wir sind ja im realen Leben trotz allem ziemlich zivilisierte Zeitgenossen.
RobertHarrison:
Die Barbarei ist stets näher, als wir denken. Vico ist der Überzeugung, dass Menschen in modernen Verfassungen sich wenn nicht dem Heiligen, so doch dem Wahren hingeben sollten. Diese Suche ist es, die die Menschen verbindet. Ohne eine solche Hingebung können die politischen Institutionen auf die Dauer nicht überleben. Sie korrumpieren sich genauso wie die Menschen, die zu Zynikern geworden sind. Erinnern wir uns an das, was Abraham Lincoln in seiner berühmten »Gettysburg Address« am 19. November 1863 auf dem Schlachtfeld sagte: »Vor 87 Jahren gründeten unsere Väter auf diesem Kontinent eine neue Nation, in Freiheit gezeugt und dem Grundsatz geweiht, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.« Dieser Grundsatz ist ernst gemeint, das ist kein Fake, kein Witz, kein Machtstrategem. Und dann: »Nun stehen wir in einem großen Bürgerkrieg, der eine Probe dafür ist, ob diese oder jede andere so gezeugte und solchen Grundsätzen geweihte Nation dauerhaft Bestand haben kann.«
NZZ:
Historische Parallelen sind illustrativ, aber auch riskant. Wir stehen heute ja nicht vor einem Bürgerkrieg – auch die USA nicht.
RobertHarrison:
Was wir sehen, ist aber ein Kulturkampf. Die Vernunft von immer mehr Menschen steht in seinem Dienst. Es kommt – wiederum in den Worten Vicos – zu einem Barbarismus der Reflexion, die dafürhält, dass alles, was wir sehen, auf Manipulation und Täuschung beruht. Und wenn alle täuschen, darf ich auch selbst täuschen. Wenn ich keine Wahrheit mehr über mir akzeptiere, ist alles erlaubt, und der einzige Maßstab ist mein Ego, der Einfluss meines Ego, die Macht meines Ego. Oder anders gesagt, und damit schließt sich der Kreis: Die Selbstsucht wird zur eigenen Wahrheit. Ist es okay, wenn Vico das Schlusswort hat?
NZZ:
Ich fürchte allerdings, es bleibt dann düster.
RobertHarrison:
Ja, sorry, ich habe keine besseren Nachrichten zurzeit. Vico also schreibt von Völkern, die es sich »in bestialischer Art« zur Gewohnheit gemacht haben, bloß an ihre »besonderen eigenen Vorteile zu denken«, von Menschen, die »sich dem Äußersten der Verwöhntheit oder, besser gesagt, des Eigensinns ergeben haben«, »nach Art wilder Tiere«, die, »wenn sie auch nur von einem Haar angewidert sind, auffahren«. Sie leben in der »tiefsten Einsamkeit des Fühlens und Wollens«, nicht mehr in der Lage, einen Konsens herzustellen.
|