Entropie. Die Entropietheorie läuft faktisch darauf hinaus, daß eine abschüssige Entwicklungslinie der Naturprozesse konzipiert wird. Das Erscheinen des Menschen in der Natur, so heißt es, ist der absolut unwahrscheinliche Fall. Er wird sich nicht lange halten können. Der unwahrscheinliche Zustand wird wieder in den wahrscheinlichen überge-hen, von der Strukturiertheit wieder zur Entstrukturierung, von der Differenz zum Indifferenten, von der geprägten Form zum Materiegestöber, von den Tönen zum Grundrauschen. Kurz: es wird darauf hinauslaufen, daß der Mensch und seine hochkomplizierten Lebensaggregate, die Kultur, wieder verschwinden. In einem Weltraum ohne Sinn gibt es die winzige, befristete Sinnwelt des Menschen wie eine Insel im Ozean, doch auch sie wird von der Entropie lang-sam aufgefressen. Eine frühe Ahnung dieser Kultur-Entropie findet sich bekanntlich in der Geschichte vom Turmbau zu Babel. Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. (1,11) Wie wir wissen, trägt das Werk, das hier errichtet wird, um dem Verfall zu trotzen, gerade zu diesem beschleunigend bei. Die babylonische Sprachverwirrung zersetzt den sozialen Körper. Er zerstreut sich. In der Sprache der Entropie: er dissipiert. Zwischen den dissipierten Elementen wird es dann Mord und Totschlag geben.
(Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit, pdf)
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