Spittler: Ludwig Timotheus Freiherr v. S., Geschichtschreiber und Staatsmann. Er war geboren am 11. November 1752, als der Sohn eines Geistlichen zu Stuttgart und wurde von Haus aus gleichfalls für die theologische Laufbahn bestimmt. Entscheidend für seine Zukunft war der Besuch des Gymnasiums seiner Vaterstadt, dessen Rector, Johann Christian Volz, in geschichtlichen Dingen ein hohes Ansehen genoß und diesen seinen Schüler zu nachwirkenden ernsthaften historischen Quellenstudien anzuregen verstand. Von nicht geringerem Einfluß auf die Erweckung von Spittler’s später so kräftig entwickelten politischen Sinn war, daß er noch als Gymnasiast die Kämpfe in nächster Nähe erlebte, die damals die württembergischen Landstände mit dem jungen Herzog Karl und seinen durchbrechenden despotischen Neigungen zu bestehen hatten. Im J. 1771 siedelte er in das Tübinger Stift über und betrieb hier zunächst philosophische und dann theologische Studien, die ihn bald tief in das Gebiet der Kirchen- und Dogmengeschichte hineinführten. Semler und Lessing waren die Muster, an die er sich dabei mit unverkennbarer Vorliebe anlehnte. Die Neigung zu schriftstellerischen Versuchen erwachte in ihm früh und äußerte sich, seiner vorwiegend kritischen Anlage gemäß, zuerst in Recensionen, die er in Meusel’s Erfurter gelehrter Zeitung niederlegte. Im J. 1775 schloß er seine theologischen Studien in Tübingen ab und benutzte den Sommer 1776 zu einer Reise, die ihn nach Weimar, Göttingen, Wolfenbüttel, Berlin und Halle führte. Am interessantesten ist sein Besuch bei Lessing, der ihn freundlich aufnahm und dessen Persönlichkeit einen unauslöschlichen Eindruck auf den jungen geistesverwandten Gelehrten gemacht hat. In die Heimath zurückgekehrt, trat S. (1777) als Repetent in das Tübinger Stift ein und ließ in dieser Zeit u. a. eine Schrift über die „Geschichte des canonischen Rechts bis auf die Zeiten des falschen Isidor“ erscheinen. Die Vorrede zu dem Buche ist auffallend irenisch gehalten, die Darstellung und Untersuchung selbst bezeugt nicht bloß eine festgegründete Gelehrsamkeit, sondern zugleich eine ausgeprägte Selbständigkeit des Geistes und eine entschlossene Kraft der forschenden Kritik. Diese Schrift hat seinen gelehrten Namen begründet: bereits im J. 1778 erhielt er den Ruf als ordentlicher Professor nach Göttingen in die philosophische Facultät, jedoch mit der sicheren Aussicht, später in die theologische vorzurücken und auch jetzt schon sollte er ausschließlich theologische Vorlesungen über Kirchen- und Dogmengeschichte halten. Ein Ergebniß dieser Vorträge war sein berühmter „Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche“, dessen erste Ausgabe im J. 1782 erfolgte, in demselben Jahre, in welchem er seine Ehe, die das Glück seines Lebens begründete, geschlossen hat. Der Erfolg des Buches war ein außerordentlicher. Ein charakteristisches Darin ist zunächst die knappe, allen gelehrten Apparates entkleidete Form, die jedoch überall die tiefe und feste Fundirung verräth. Die sichere Beherrschung des umfangreichen Stoffes macht noch heute einen bestechenden und fesselnden Eindruck. Der Geist der Darstellung ist ein entschieden protestantischer und der Aufklärung, aber doch nicht der trivialen gedankenlosen Aufklärung. S. will zeigen, auf welchem Wege das Christenthum an dem Punkt angelangt, an welchem es sich zu seiner Zeit befindet. Zuletzt schließt er mit der beruhigenden Perspective, welche, wie er meinte. der Sturz der Jesuiten und die Josephinischen Reformen für die katholische Kirche eröffneten, und mit der Zuversicht, daß die Zukunft der protestantischen Kirche den Schülern Herder’s und Spalding’s angehören werde, [213] Hoffnungen, die sich freilich weder nach rechts noch nach links dauernd erfüllt haben. Die historische Methode Spittler’s ist die sogenannte pragmatische, aber nicht jene lehrhafte Joh. von Müller’s, sondern diejenige, welche die Ereignisse in erster Linie auf die handelnden Personen, ihre besonderen Eigenschaften und Leidenschaften, Beziehungen und Gegensätze zurückführt, wie sie bekanntlich sein Freund und Landsmann Planck in virtuoser Weise durchgeführt hat. Indessen treibt S. diesen Pragmatismus doch nicht so weit, daß er darüber den über den Menschen waltenden objectiven Geist und die allgemeinen Bedürfnisse und Anlagen der menschlichen Natur geradezu übersähe.
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