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Voyager schrieb am 23.4. 2003 um 17:49:29 Uhr über

Verfolgungsbetreuung

ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 472 / 18.04.2003

Kreatives Schröpfen

»Verfolgungsbetreuung auf den Arbeitsämtern«

Florian Gerster ist Sozialdemokrat, ehemaliger Sozialminister in Rheinland-Pfalz und seit gut zwei Jahren Chef der Bundesanstalt für Arbeit (BA). »Der neue Kriegsherr in Nürnberg« wird er wenig schmeichelhaft von den MitarbeiterInnen der Arbeitsämter genannt - auf Grund seiner drakonischen Vorgehensweise gegen Erwerbslose. Seine Ankündigung, auf den Bundeszuschuss für die BA zu verzichten, bedeutet gleichzeitig, dass die Arbeitsämter in diesem Jahr fast drei Milliarden Euro zusätzlich einsparen sollen - vor allem beim Arbeitslosengeld (Alg). Wie das geschieht, beschreibt folgender Beitrag, den wir leicht gekürzt aus der April-Ausgabe der Arbeitslosenzeitung quer übernehmen

Besonders Erwerbslose mit Arbeitslosengeld (Alg) sollen systhematisch um größere oder kleinere Teile ihrer Lohnersatzleistung gebracht werden. Da Ausgaben beim Alg meist nicht durch die Vermittlung Erwerbsloser in Arbeit zu verhindern sind, wurde in der BA ein ganzes Maßnahmenbündel geschnürt, um Pflichtverletzungen Erwerbsloser zu provozieren und als darauf folgende Strafen Leistungsstreichungen zu ermöglichen.

Provozieren von Säumniszeiten
Generell sollen binnen weniger Monate alle Alg-BezieherInnen mit Rechtsfolgenbelehrung zu (Gruppen-)Informationen geladen werden. Bei Nichterscheinen soll die erste Säumniszeit ausgesprochen und erneut eingeladen werden. Wer ohne einen »wichtigen Grund« (der stringent ausgelegt werden soll) erneut nicht erscheint, erhält keine Leistung bis zur nächsten persönlichen Meldung, mindestens jedoch für vier Wochen. Für das Einhalten der angesetzten Meldetermine soll nur ein »ganz schmales Fenster« geöffnet werden; die Arbeitsamtsbediensteten erhalten dazu präzise Vorgaben. Konkret: Wer wenige Minuten zu spät kommt, erhält die Säumnisstrafe.

Vorsicht an verlängerten Wochenenden!

Besonders die Tage rund um Ostern oder andere Feiertage und »Brückentage« wie Freitag, der 2. Mai, haben die ArbeitsamtsstrategInnen für Massenmeldetermine oder -veranstaltungen ausgesucht - in der Annahme, LeistungsbezieherInnen würden da vermehrt nicht erscheinen.

Verdoppelung der Sperrzeiten nach Arbeitsangebot;

hatten die ArbeitsamtsmitarbeiterInnen bislang quasi die Wahl zu entscheiden, wie viel Mühe sie aufbrachten, die Arbeitgeberantworten (bei nicht zu Stande gekommenen Arbeitsvermittlungen) nach Sperrzeitanfangsverdachtsmomenten zu durchforsten und zu verfolgen, ist jetzt die strikte Suche nach solchen Verdachtsmomenten angeordnet. Sie haben unverzüglich die »Sperrzeitrelevanz« aller Arbeitgeberrückmeldungen auszuwerten, »verdächtigen« Erwerbslosen eine vierzehntägige Anhörungsfrist einzuräumen, die Zahlung sofort vorläufig einzustellen, nach Rückäußerung oder ungenutztem Ablauf der Anhörungsfrist sofort über die Sperre zu entscheiden und »vermittlungsrelevante Erkenntnisse« aus den Anhörungsverfahren den ArbeitsvermittlerInnen mitzuteilen. Die auf diesem Weg amtsintern erwartete Verdoppelung der Sperrzeitenquote soll zumindest Mehrkosten vermeiden helfen, die durch die Verkürzung der Dauer der ersten und zweiten Sperrzeit auf drei bzw. sechs Wochen entstehen könnten.

Sperrzeit wegen Arbeitslosigkeit ohne wichtigen Grund;

um ein Drittel soll die Zahl der Sperrzeiten steigen, die wegen des »Herbeiführens der Arbeitslosigkeit ohne wichtigen Grund« gegen Erwerbslose ausgesprochen werden. Dazu sollen a) die Sperrzeitsachverhalte aus der Sphäre des Arbeitslosen lückenlos aufgeklärt, b) falls erforderlich die Angaben des/r Arbeitslosen beim Arbeitgeber geprüft, c) bei Zweifeln, ob ein Sperrzeitgrund vorliegt, nicht automatisch zu Gunsten des Erwerbslosen entschieden werden
Zugang Arbeitsloser zu Leistungen behindern; bei der Arbeitslosmeldung soll das Erstgespräch zwischen Arbeitslosen und VermittlerIn sofort stattfinden, das BewerberInnenangebot geprüft, Vermittlungsangebote unterbreitet, über Rechte und Pflichten informiert und eine Einladung zum voraussichtlichen Termin des Eintritts der Arbeitslosigkeit genannt werden. Bei einigen Prozent der Erwerbslosen soll das zum sofortigen »Abgang« aus der Leistung, durch die hohe Zahl der Arbeitslosmeldungen zu Einsparungen von Millionenbeträgen beim jeweiligen Arbeitsamt führen.

Für Geld tun sie alles

Sofortige Aufforderung zum Nachweis der Eigenbemühungen;

zur Arbeitslosmeldung wird ein »Pflichtenheft« ausgehändigt; binnen weniger Wochen sind Eigenbemühungen der Erwerbslosen zu einem bestimmten Meldetermin nachzuweisen. Hunderte Abgänge aus dem Leistungsbezug werden erwartet wegen Nichtbefolgen der Meldetermine und fehlender Nachweise über Eigenbemühungen. Fehlende Nachweise für einen bestimmten Nachweiszeitraum führen dazu, dass für diesen Zeitraum die »Arbeitslosigkeit« verneint, mithin die gezahlte Leistung zurückgefordert wird.

Aus Familienphase in »rotierende Trainingsmaßnahme«;

wer mit Anspruch auf Arbeitslosengeld nur für eine Teilzeitarbeit in Frage kommt oder aus der Familienphase auf den Arbeitsmarkt zurückkehren will, soll sofort einer rotierenden Trainingsmaßnahme mit wöchentlichem Zugang für zwei bis vier Wochen zugewiesen werden. »Bewerberinnen« nach der Familienphase mit einem Alg-Restanspruch werden ebenfalls einer Trainingsmaßnahme zugewiesen, wobei diese »erfahrungsgemäß der Verfügbarkeit entgegensteht« (keinerlei Rücksichtnahme etwa auf Personen, die Kinder zu betreuen haben) - mithin der Leistungsanspruch entfällt.

ABM und berufliche Bildung für Alg-Beziehende;

zur Senkung der Alg-Ausgaben soll auch die Anhebung des Anteils vormaliger Alg-BezieherInnen in Maßnahmen der beruflichen Bildung und zur Arbeitsbeschaffung beitragen (im Bereich Bildung von ca. 40% auf 90%, bei ABM von unter 20% auf 70 und mehr Prozent). Die Kürzung der Zuweisungsdauer in ABM auf sechs oder neun Monate soll finanzielle Einsparungen beim Alg bewirken, die allerdings noch nicht oder erst für das kommende Jahr bezifferbar seien.

Die Ergebnisse dieser Maßnahmen werden monatlich je Arbeitsamtsteam ausgewertet. Z.B. wird geprüft, ob durch die Zahl der realisierten Säumniszeiten die vorgegebene Einsparsumme erbracht, ob die angestrebte Zunahme der Sperrzeiten erreicht, ob die je Maßnahme erwartete Zahl der »Abgänge« aus dem Leistungsbezug geschafft wurde usw.
Die ArbeitsamtsmitarbeiterInnen werden bei diesem »zielzahlenorientierten Verwaltungshandeln« vermehrt unter Druck gesetzt. U.a. wurde in Nordrhein-Westfalen, wo seit Jahren drastische personelle Unterbesetzung besteht, zwar durch neue Planstellen eine gewisse Entlastung geschaffen, aber nur wenn das einzelne Arbeitsamt versprach, in seinem Bereich die durchschnittliche Alg-Bezugsdauer um eine Woche zu senken. Bei Nichterreichen dieser Zielsetzung sollen die neuen Planstellen wieder abgezogen werden.

Anleitung zur Schikane

Um einen ausgeglichenen Haushalt der BA zu erreichen, sollen im Jahr 2003 beim Alg 2,83 Mrd. EUR eingespart werden. Der Druck wuchs ab Februar 2003 weiter, als in Folge rapide steigender Arbeitslosenzahlen allein für Niedersachsen/Bremen Mehrausgaben in Höhe von 38 Mio. EUR verzeichnet wurden. Aus dieser Zeit stammt ein Rundschreiben der BA zur »Steuerung des Haushaltsbudgets ohne Bundeszuschuss«, wonach alle Aktivitäten zuallererst auf Alg-Beziehende ausgerichtet und »bei den Überlegungen zur Integration von Arbeitslosen die individuelle Höhe der Arbeitslosengeldzahlung (Wie teuer ist der Arbeitslose?) beachtet werden« soll. Hier findet sich der Grund, warum vielen die 2002 noch in Aussicht gestellten Maßnahmen, z.B. berufliche Bildung oder ABM, 2003 mit lapidarem Hinweis auf »geänderte geschäftspolitische Ziele der Bundesanstalt« verweigert wurden und werden.

Um das Ausmaß dieses Angriffs auf Erwerbslose klarzumachen, halte man sich vor Augen, dass Gersters Vorgaben zu Einsparungen beim Arbeitslosengeld erreicht würden, wenn jedem Arbeitslosen sieben Wochen seine Leistung gesperrt würde (So errechnete es ein Arbeitsamtsmitarbeiter.)

Als Aktivitäten zur Haushaltssteuerung nennt das Rundschreiben:

- die Einschaltung von Dritten in die Vermittlung,

- den »Quickcheck« auf Sofortvermittelbarkeit und das Starten von Bewerbungsbemühungen umgehend nach Arbeitslosmeldung, auch um »evtl. sogar gewünschte ,Atempausen` gar nicht erst entstehen zu lassen«

- die Bewerberzielgruppe für die PSA soll »so strukturiert werden, dass bei einer Einmündung die Einspareffekte beim Arbeitslosengeld möglichst hoch sind«

- umgehendes »Einmünden« derjenigen in Maßnahmen, für die dies laut Profiling erforderlich ist,

- »bevorzugte Bearbeitung von Alg-Empfängern bei der Abklärung medizinischer Fragestellungen« durch den Ärztlichen Dienst.

- Langzeitarbeitslose sollen hingegen verstärkt durch Dritte betreut werden, um dadurch entstehende »Freikapazitäten für eine intensivere Betreuung von Personen mit kürzerer Arbeitslosigkeit« nutzen zu können.

Im Februar wurden Vorwürfe laut, im Arbeitsamt bestehe eine »Zweiklassengesellschaft«, da BezieherInnen von Arbeitslosenhilfe gegenüber solchen mit Arbeitslosengeld benachteiligt würden. Dem wurde BA-seitig nicht wirklich widersprochen. Heinrich Alt, für das operative Geschäft zuständiges BA-Vorstandsmitglied, erklärte im Presseinfo Nr. 13/03 der BA: »Jeder Arbeitslose erhält das Angebot, das er braucht, um in den Arbeitsmarkt vermittelt zu werden«. Danach sei bei kurzer Arbeitslosigkeit berufliche Fortbildung besonders erfolgreich. (Kein Wunder, denn bei kurzzeitig Erwerbslosen ist - statistisch gesehen - die Arbeitssuche auch ohne Maßnahmen des Arbeitsamtes am Erfolg versprechendsten).

»Bei Langzeitarbeitslosen hätten sich dagegen betriebliche Trainingsmaßnahmen als besonders wirksam erwiesen« (BA-Presse-Information, 3.3.03). »Wirksam« heißt dabei wohlweislich nicht »Vermittlung in Arbeit«. Trainingsmaßnahmen sind ein Instrument, die Zahl der »Abgänge« aus Arbeitslosigkeit in Nichterwerbsarbeit zu steigern. Nach Zahlenangaben der BA vom Januar 2003 wurde für das Jahr 2002 eine um ca. 283.000 gestiegene Zahl solcher »Abgänge« errechnet. 233.000 Personen mehr als im Vorjahr verschwanden durch Nichterneuerung der Meldung bzw. fehlender Mitwirkung (zumindest vorläufig) aus der Statistik. Insgesamt wurden damit ca. 1,25 Mio. Personen um Leistungen der Ämter gebracht - ein wahrlich beeindruckendes Ergebnis der sogenannten »aktivierenden Arbeitsmarktpolitik«.
gg, quer-Redaktion

Der Originalbeitrag ist unter dem Titel »Vorsicht Fallenin der quer, April 2003 erschienen.

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