Ich muß die Geschichte zu meinem Eintrag als PsychKG irgendwann doch noch loswerden, bevor ich dran platze: 2001 war ich für vier Wochen in der LKA Grafenberg interniert, die Mediziner hatten sich auf eine 'cannabisgenerierte Psychose' geeinigt. Den zweiten Teil nehm ich ihnen ja noch ab, beim ersten habe ich meine Bedenken. Naja, ich war nunmal drin, die ersten zwei Wochen auch reichlich neben mir, hab mir die Cantos und einen Discman reinschicken lassen, und empfand die ganze Geschlossene als einen ziemlich gelungenen Film, mit mir als einer Mischung aus Kameramann und best boy, auf die Idee, daß ich hier auch nur ein Komparse sei, wäre ich damals nie gekommen. Etwas lieben muß der Mensch, und in Anbetracht der vorwiegend weiblichen Mitinsassinnen, etlicher im wahrsten Sinne hirnverbrannter Suchtpatienten und der betonten Heterosexualität des Mitbewohners H*, eines vielzentnerschweren Jungpsychotikers und Zwangsonanisten, verlagerte sich mein Interesse auf einen Endfünfziger mit wunderbaren Kugelaugen, den ich mir abwechselnd als ungarischen Juden oder Sinti dachte; was genau er war, ich habe es nie herausgefunden: zuerst dachte ich, das Rätsel würde sich ohnehin irgendwann via Regieanweisung lösen, und als ich allmählich wieder in der Realität ankam, war es zu spät, ich wurde in den offenen Vollzug verlegt. Er war dort wohl irgendwie vergessen worden, der kleine Herr mit dem immer korrekt gestutzten Schnurrbart, und seine reichlich strömende Rede, die nie an irgend jemand besonderes gerichtet zu sein schien, ähnelte der des von Qualtinger gespielten Mönches im Namen der Rose, ein kaum verständliches Durcheinander verschiedenster slawisch-/deutscher Idiome, es war unmöglich, ihn auf eine Sprachgruppenzugehörigkeit festzulegen. Er saß wie die meisten von uns die überwiegende Zeit im Raucherzimmer (obwohl er Nichtraucher war, aber dort spielte, auch wörtlich, die Musik), wo er meist mit dem Schälen und dem Verzehr von Früchten beschäftigt war, anders als viele dort schien er nicht ohne Zuwendungen von außen zu sein. Es war wirklich unmöglich auch nur einen Satz von ihm zu verstehen, doch hatte er die meiste Zeit etwas sehr Freundliches jenseits aller Sprache, obwohl er Fuchtigkeiten an den Tag legen konnte, die wohl auch die Ursache für seine Verbringung in die Klinik gewesen sein müssen. Paarbildungsstrategien spielen an solchen Orten eine wichtige Rolle, denn wenn alles ins Schwanken geraten ist, brauchst du jemand zum Festhalten. Und obwohl die Medikation und gewisse Vorstellungen über allpräsente Kameras meinen Sexualtrieb gedämpft hielten, entwickelte ich eine scheu–keusche Leidenschaft für diesen isolierten Erratiker. So saßen wir meist nebeneinander im vergilbten Musikzimmer, er gab mir Mandarinenschnitze, ich revanchierte mich mit Fruchtnektar, eine fast schulkindhafte Keuschheit haftete unserer Liebe an, die wohl, wie so oft im Leben, eine einseitige war.
Das einzige Wort nun, was stets allverständlich von diesen Mannes Lippen kam, war 'Vagabondi!». Im Guten wie im Bösen, keinen von uns zwanzig, den er nicht irgendwann so bezeichnet hätte, doch auch ohne Anlaß kam es oft aus seinem Mund, meine Sinti-These schwach untermauernd, wer weiß, ob es ihm nicht einst als Schimpfwort nachgerufen wurde. Im Flur der Station hing eine große Schultafel mitsamt Kreide, sei es für maltherapeutische Zwecke oder für nie erfolgende Ankündigen für alternative Beschäftigungsangebote: diese nutzte ich dafür, jeden Tag eine Tageslosung in den Raum zu stellen, die auch, abgesehen von ein, zwei vielleicht als zu irritant empfundenen Sentenzen auch stets bis zum nächsten Morgen dort stehen blieben; meist waren es Poundzitate und Erinnertes, für eigenes war der Kopf meist zu sehr im Glast: doch eines Morgens fasste mich die Inspiration, und ich schrieb den Satz «The soul is a temple, but my heart is a vagabond» an, der über die des engischen kundigen Mitbewohner wohl auch meiner männlichen Anstaltslesbia (honi soit qui mal y pense) hinterbracht wurde: als ich später in den Raucherraum kam saß er schon auf unserem Stammplatz, sein überwältigendstes Grinsen aufgesetzt, das ihm fast bis über die Schnurrbartspitzen reichte, fasste sich ans Herz und rief: «Vagabondi!" Er sah mich ohne Zweifel für ein wenig bekloppt an, was sich vielleicht auch durch die Örtlichkeit und gewisse im Vergleich zum vor– und nachher in der Tat veränderte Aspekte meiner Persönlichkeit erklären läßt, aber seine Mandarinen hat er auch weiterhin mit mir geteilt.
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