"Die Anmessung des Urteils
Viele jubeln über Erfahrungen. Manche verzichten. Manche würden gern verzichten, aber sie machen trotzdem ihre Erfahrungen. Alle erschrecken. Manche erschrecken mehr als andre, oft vor etwas, das sie im Grunde verzärtelt, sie erschrecken nicht nur vor ihren, sondern vor allen Erfahrungen. Die meisten sehnen sich nach dem, was alle ersehnen, etliche achten das, was andre außer acht lassen. Dieser hier legt sich hin, der dort steht auf. Viele gehen. Sie gehen hinaus und kommen nicht mehr herein zu uns. Sie wollen zwar gern dabeisein und sich, schon ermüdet vor lauter Selbstkontrolle, einmal von andren kontrollieren lassen und nicht nur Reisepaß und Wagenpapiere. Sie wollen sich aus der Hand geben, notfalls in die Hand von anderen, und wenn sie sich hergeben, dann merken sie erst, daß sie je schon in der Hand von anderen waren, die sie nicht benennen können. Sie können ihr Haustier beim Namen benennen, das Denken, das neben ihnen herläuft, egal, wo man seiner Wege geht. Man ruft das Denken beim Namen, und es gehorcht oder nicht. Wo das Äußerste beginnt, in das man sein Denken äußerln führt, bleibt es mit seinen Ausscheidungen nicht in seinem Bereich. Sogar dort will es über sich hinaus, aber es kommt doch immer (weiß der Denker sich in der Umwelt auch nur halbwegs zu orientieren) in einen unbeschrifteten Plastikbeutel und dann in den Müll. Dieses Paket ist weg von der Straße, aber immer noch da. Die anderen, die ganz anders denken, egal wie anders sie sein mögen und wie anders ihr Denken ausfällt, sogar ausfällig wird, werden sich und ihrer Natur immer fremder, und sie werden immer mißtrauischer dort, wo sie aufhören und Nachbarschaft anfängt, die man mit Denken ja stört. Die Natur versucht behutsam, sich mit ihnen anzufreunden, doch diejenigen, die mit Denken stören, bleiben trotzdem in ihrer eigenen Natur stecken. Da kommen sie nicht mehr raus. Sie erkennen nichts. Sie sehen den Mistkübel nicht, in dem sie sich und ihr geäußertes Denken ent-sorgen müßten, folgten sie der festgeschriebenen Vorschrift..."
Elfriede Jelinek: Dankesrede zum Prager Franz-Kafka-Literaturpreis 2004.
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