Theorien, vor Sonnenaufgang von Markus Pristovsek
Es war früh morgens, als es an der Wohnungstür klingelte. Erst bei vierten oder fünften Mal wurde er wach. Taumelig stapfte er zur Tür. Dort stand eine uniformierte
Frau. «Ein Packet für sie, Eilbote. Unterschreiben sie hier.»
Er unterschrieb und bekam das Paket in die Hand gedrückt. Grußlos verschwand die Botin wieder. Im Wohnzimmer wurde dann das Paket geöffnet. Dort befand
sich nur ein Katalog. Aber wer sollte ihm um zehn vor fünf so dringend einen Katalog schicken? Noch dazu ohne Absender, was die Sache nur noch seltsamer
machte. Er beschloß darüber zu schlafen.
Im Büro, nachdem er nun richtig wach war und etwas Zeit hatte, studierte er ausführlicher den Katalog. Doch die Sachen waren wohl von einem Weltverbesserer,
denn da gab es zum Beispiel: Perpetuum Mobile (temporal) bis 4 MW, Tachyonendetektor für v->+unendlich , einen Satz von Dilatationröhren, einen
Unwahrscheinlichkeitsgenerator und das Meisterstück war der Raumzeitkonverter auf Antikausalitätsbasis (kurz Zeitmaschine). Der Spinoff dieser Produkte als
Ergebnisse der philosophischen Grundlagenforschung wurde ausführlich gewürdigt. Es lag auch eine ausführliche Theorie dabei, die bei oberflächlicher Betrachtung
sogar einem Experimentalphysiker wie er nicht sofort widerlegen konnte, wenn man die Verletzung der Kausalität akzeptierte.
Das einzige, was er nicht erklären konnte, war das Fehlen einer Bestelladresse. Sonst waren derlei Kataloge immer zum Bestellen (wozu sonst), aber hier gab es
keinen Absender, keine Kontonummer, einfach nichts. Und die Zustellung mitten in der Nacht per Boten, wie paßte die in das Bild? Der Katalog wanderte in den
Müllschlucker.
Nach einem längeren, ansonsten ergebnislosen Arbeitstag schloß er gerade die Tür auf, als seine neue Nachbarin heraustrat.
«Hallo, ich bin Kataja, gegenüber eingezogen.»
«Ich weiß, äh, ich bin Janik. Hallo.»
«Gut das ich dich sehe. Ich wollte dich kurz einladen.»
«Gerne, in ein paar Minuten.»
Nachdem er seine Sachen abgelegt hatte, zog er sich noch ein neues Hemd an und ging dann herüber. Die Wohnung war recht kahl und modern eingerichtet, nur
wenige Möbel waren in dem Raum.
«Hast du irgendwelche besonderen Wünsche?»
«Was hast du denn da?»
«Kaffee, Tee, Milch, Schokolade.»
«Tee, bitte.»
Während sie in der Küche werkte, sah er sich vorsichtig um. Doch es waren nur wenige Sachen auf dem Schreibtisch, so daß der Katalog sofort auffiel.
«Du hast auch mitten in der Nacht diesen Katalog bekommen?»
«Ja. Merkwürdig nicht. Kannst du mir erklären, was dies für Dinge sind?»
«Klar, wenn die Physik nicht völlig falsch liegt, sind die Schwachsinn.»
«Und die Theorie dazu?»
«So auf die Schnelle fand ich keine Widersprüche. Allerdings bin ich auch kein Kenner der Supersymmetrischen Theorien, was SU(20) wohl ist. Dazu müßte ich
einen anderen Theoretiker fragen. Aber am meisten stört mich doch der Verzicht auf die Kausalität, wenn ich das und das tue, dann passiert immer das und das. Die
Kausalität ist ein Axiom, das heißt eine Grundvoraussetzung, die man nicht beweisen kann, die man einfach annehmen muß, weil sonst die Forschung (oder
Mathematik oder Philosophie) nicht sinnvoll sein würde.»
«Was gibt es denn alles für Axiome?»
«Z.B. ,,Aus etwas Wahrem kann nie etwas Falsches geschlossen werden." Genau das müßte bei Aufgabe der Kausalität zumindest verändert werden.»
«Und das will man nicht?»
«Natürlich nicht ohne Not. Wenn eine der Maschinen im Katalog gebaut worden wäre, dann ist das natürlich etwas anderes. Aber wenn es sie wirklich gäbe, dann
hätte ich davon schon längst erfahren.»
Sie kam aus der Küche mit einem Tablett. «Hier ist der Tee. Und wenn es sie erst gegeben haben wird?»
«Hä? Ich meine, entweder gibt es die Maschine oder die Bilder sind erfunden. Konjunktiv II ,,Es wird sie gegeben haben." erscheint mir etwas seltsam.»
«Gedankenexperiment: Es gibt z.B. die Zeitmaschine. Dann kann ich doch zurückreisen und die Zukunft durch die Vergangenheit verändern, so daß es eine
Zeitmaschine doch gibt, weil es sie geben wird.»
«Aber die Benutzung der Zeitmaschine verletzt mehrere Prinzipien, darunter das Kausalitätsprinzip. Warum sollte meine Handlung in der Vergangenheit Wirkung auf
meine Gegenwart, also die Zukunft haben? Und noch krasser, es könnte an die Stelle von Kausalität und Wahrscheinlichkeit ein rigider Determinismus treten: Es
passiert, weil es so passieren muß. Vorbei mit der Freiheit des Willens.»
«Und warum kann es dann keine Kausalität geben?»
«Naja, jemand könnte seine eigene Mutter töten. Oder sich selber zeugen.»
«Ich verstehe. Aber jeder dieser Schritte ist doch in sich richtig.»
«Das schon. Ich verstehe, ein eingeschränktes Kausalprinzip. Hmm, wenn es dich freut, dann werde ich das Ganze mal einem Freund geben. Kann ich deinen
Katalog haben?»
«Gerne, nimm ihn dir. Was sollte ich damit?»
«Was machst du eigentlich?»
«Tja, zur Zeit nichts. Eigentlich bin ich eine Art Zeitzeugin, auf freier Basis. Und du bist Forscher?»
«Nette Bezeichnung für eine freie Journalistin. Ich bin Physiker, ja. Aber mit Theorie habe ich fast nichts zu tun, das machen andere besser, als ich es je könnte.»
So redten sie noch eine ganze Weile. Doch schließlich mußte Kataja weg, wohin wollte sie nicht verraten. Sie drückte ihm den Katalog in die Hand, verabschiedete
sich und ging dann aus dem Haus, während er in seine Wohnung ging.
Noch einmal besah er sich den Katalog, diesmal ganz genau. Doch auch jetzt war nicht der geringste Hinweis auf die Herkunft, keine Nummer, kein Verlag, kein
Druckjahr. Den Teil mit der Theorie jagte er durch seinen Scanner und faxte ihn an Kain, der eine Postdoc-Stelle für theoretische Physik hatte.
Dann vergaß er die Sache erst einmal, bis zwei Wochen später im Institut das Telefon klingelte. Es war Kain. «Woher hattest du das? Das ist sensationell! Einstein
hatte doch nicht ganz recht, wenn das alles stimmt. Das wird die Umwälzung.»
«Herzlichen Glückwunsch an euch. Was habt ihr denn entdeckt?»
«Was, nein! Wir haben deine Theorie analysiert. Ein paar Ungereimtheiten gibt es noch, aber das ist bei neuen Theorien doch immer so. Wie bist du nur darauf
gekommen?»
«Ich habe es aus einem Katalog kopiert.»
«Du hast - was? Verarschen kann ich mich selber.»
«Ich kann dir den Katalog schicken. Ich finde ihn noch, dann glaubst du mir?»
«Und sonst gehst du in die Geschichte als größtest Genie seit Isaac Newton ein.»
«Und Einstein?»
«Ach der. War doch alles Mist, hätte er noch etwas weitergedacht, wäre er auch auf das Theorem der Pfadkreuzung gekommen.»
«Welches Theorem?»
«Liest du deine Theorie nicht? Ich werde die unsere Ausarbeitung zurückschicken. Du wirst sie doch hoffentlich veröffentlichen.»
«Einen Katalogausschnitt aus einem Katalog der temporale Perpetuum Mobiles anbietet? Niemals.»
«Sag mal, glaubst du wirklich das, was du da sagt?»
«Ich werde dir Katalog und Zeugin bringen.»
«Ich werde vorbeikommen, heute abend?»
«Gerne, ich habe Zeit.»
«Bis heute abend.»
«Bis dann»
Er legte auf. Es war schon halb vier, also machte er früher Schluß und ging nach Hause. Unterwegs kaufte er noch etwas ein. Es wartete Post auf ihn. Kataja hatte
geschrieben, daß sie in der nächsten Zeit nicht mehr in der Wohnung wäre und er sich doch bitte ein wenig um die Wohnung kümmern sollte. In dem Brief war auch
der Schlüssel. Absender hatte sie wohl vergessen, der Poststempel war unleserlich, ,,...genhof 234..." konnte er entziffern.
Er ging sofort herüber. Doch scheinbar war schon über eine Woche niemand mehr hier, die Blumen waren alle schon gelb. Im Kühlschrank gärte Milch und
schimmelte Käse. Er räumte etwas auf.
Dann ging er wieder zu sich und räumte richtig auf, denn er wollte den Katalog heraussuchen. Doch der war partout nicht zu finden. Also bereitete er das Essen vor,
was sich im wesentlichen auf das Belegen des fertigen Pizzateiges beschränkte.
Bald darauf kam Kain, zusammen mit einem zweiten Gast. Adam hieß er, Janik konnte sich schwach an ihn erinnern.
«Janik, dies hier ist Adam. Adam, hier siehst die den neuen Begründer der Physik.»
«Ich habe nichts damit zu tun, außer dir Seiten aus einem Katalog zu faxen, den ich momentan nicht finden kann.»
«Und der Zeuge?»
«Meine Nachbarin ist mit mysteriösem Ziel verschwunden, ich pflege ihre Wohnung.»
«Du hast dich gut abgesichert, falls die Geschichte nichts geworden wäre. Aber das Theater war gar nicht notwendig, »
«Du weiß, von theoretischer Physik verstehe ich nicht zu viel. Ich weiß gerade, daß SU(20) eine Supersymmetrische Theorie ist, mit zwanzig Dimensionen. Doch
was das heißt, das weiß ich nicht.»
«Das kannst du keinem erzählen. Hier wir haben die Fehler ausgebügelt und alles umformuliert und wollten es veröffentlichen. Das werden 6 Blätter, die die Welt
verändern.»
Kain drückte ihm die besagten Blätter in die Hand. Er besah sich den Titel: ,,Theorie zur lokalen Kausalität und Versuch einer vollständigen Quantenraumzeit."
«Veröffentlicht, was ihr wollt. Aber ich will nicht als Autor dort stehen. Ich verstehe die Theorie nicht einmal.»
«So ganz tut das keiner. Aber wie bist du darauf gekommen, solche Theorien zieht man nicht aus dem Kaugummiautomaten.»
«Nein, die werden einem nach Mitternacht per Eilboten zugestellt.» Und er erzählte die ganze Geschichte.
Die Veröffentlichung wurde ein voller Erfolg. Janik stand nicht auf der Autorenliste, da gehörte er wirklich nicht hin; aber in den Danksagungen stand: ,,und Dr. J.
Proskow, dessen Ideen hiermit veröffentlich sind." Außerdem stand er nochmal in der Literaturliste. Es reichte aus, um ihm eine Anstellung auf Lebenszeit zu
verschaffen.
Doch richtig erfreut war er über eine Postkarte von Kataja, mit Absender. Sie schrieb: ,,Hallo, jetzt kann ich es ja sagen: Meine Aufgabe war es, daß Du diese
Theorie veröffentlichst. Es war zwar nur ein siebzigprozentiger Erfolg, aber die gewünschte Wirkung ist eingetreten. Ich arbeite übrigens bei Weltgeschichte GmbH.
Jeder mit Geld kann dort eine Geschichte nach Maß bestellen, solange keine ethnischen Prinzipien verletzt werden. Übrigens haben wir den Verdacht, daß die
Theorien nie gefunden wurden, sondern immer nur aus der Zukunft in die Vergangenheit gebracht wurden. Du hattest es geahnt? Tschüß, Kataja."
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