Lieber R.,
nochmal herzlichen Dank für Deinen tröstenden Worte am Telefon. Wie öfter die letzten Jahre habe ich mich gleich daran gesetzt und Dir einen Antwortbrief in allen verbliebenen Wendungen meines Schulamerikanisch geschrieben. Den aber gleich wieder gelöscht. Und den nächsten auch. Und jetzt schreibe ich auf Deutsch, nicht zuletzt in der Hoffnung, daß Du ihn so nie oder nur in erträglich abgemilderter Form zu lesen bekommst.
Als ich Deine Stimme hörte, war sofort die Erinnerung da an die Zeit um 1998, als K., Du und ich Freunde wurden, Du damals noch den gleichfalls zu frühen Tod P.s betrauernd - es waren bei euch auch 18 Jahre, stimmt es nicht? Wieviel anders die Situation des trauernden, einsamen Menschen ist als die eines Gefährtenpaares, wie K. und ich es noch für einige Jahre bleiben würden, das weiß ich jetzt allzu gut. Weißt Du, die ersten drei Wochen nach K.s Tod, der leider, trostlos gesprochen, ein schwerer dazu war, habe ich Reserven mobilisiert, von deren Vorhandensein ich nicht geahnt hätte. Aber die waren in den Stunden vor Deinem Anruf zur Gänze verschwunden. Drei Wochen Schlafentzug und Fehlernährung, schreiben und brüten bei Tag und Klagen in der unbegleiteten Nacht, irgendwann war der Punkt fällig, ab heute werde ich mich wohl auch in ärztliche Behandlung begeben müssen, nein, mach Dir keine Sorgen, ich muß nur langsam wieder mal zu Kräften kommen. Und in dieses tiefe Loch, die Sedisvakanz all meinen Selbstbewußtseins herein, dann Dein Anruf.
Darf ich ehrlich sein, R.? Besser geht es mir seither nicht, im Gegenteil. Das ist ja nicht Deine Schuld und Du magst ahnen, worauf ich hinauswill, wir haben uns um die Jahrtausendwende herum ja oft darüber unterhalten, wobei ich Dir noch einmal für all die wunderbare Behutsamkeit danken möchte, die Du damals in jener für uns alle so schwierigen Situation hast walten lassen. Aber seit damals hat sich für mich nichts geändert: Außer K. bist Du der einzige Mensch auf der Welt, für den ich bislang eine so große Zuneigung empfunden habe, gewisse Aspekte, ich schlage mir gerade selber erschrocken die Hand vor den Mund, haben mich sogar bei aller relativen Kürze unserer Bekanntschaft, fast noch mehr zum irrgartentaumelnden Kavalier werden lassen, niemand, der das besser wissen kann als Du, der mich in dieser Zeit mehr als einmal symbolisch gesprochen von der Fußmatte kratzen musstest. Ich rede da weniger von jenen für mich so intensiven drei Wochen, als K. seine Kur in Baden-Baden angetreten hatte und Du jene Gratwanderung gemeistert hast, mir Trost ohne Hoffnung zu schenken, die liebevolle Diplomatie Deines Verhaltens damals wird mir immer ein Exempel menschlicher, freundschaftlicher Größe und Solidarität bleiben. Nach meinem Zusammenbruch hatte ich mich recht schnell, nach knapp einem Jahr, einigermaßen gut erholt, nicht zuletzt dank K.s Liebe, doch verzeih mir, ich habe mich danach nicht mehr gemeldet, selbst K. nicht unbedingt animiert, den Kontakt wieder zu festigen, dazu fürchtete ich zu sehr die Erinnerung an diese so irrsinnig durchglühte Zeit, ich sage mal, wie ein Alkoholiker den Weinberg. Und jetzt? Und jetzt und jetzt und jetzt? Solche und ähnliche Mantras entringen sich mir die letzten Stunden häufiger. Dazu eine Fahrigkeit des Denkens, immer auf gleichen Spiralen einwärts kreiselnd, eine Art schmerzhaft-lustvoller Ratlosigkeit, die natürlich im Augenblick das letzte ist, daß ich mir erwählt hätte, es hat mich vielmehr angeflogen wie eine Sommergrippe, nein, ist wieder ausgebrochen, ein rezidierender Herzschmerz, Diagnose Liebeskummer dritten Grades. Glaube nicht, daß mir nicht der Kontrast zum meinem gerade erlittenen Verlust mehr als deutlich bewusst ist und es sind auch Gefühle der Scham und Verlegenheit in dieses Portfolio eingebunden. Und natürlich erwarte ich nichts von Dir, der an diesem meinem Zustand nicht schuldig ist ihm eher in fast dreister Weise von mir ausgeliefert wird. Aber R., all das, was ich über Anstand, Subtilität und Disziplin, das 'die Seele gleichsam schonend' gelernt habe, und gerade das letzte halbe Jahr an Konrads Seite hat mir eine Ernsthaftigkeit ins Herz gepflanzt, die zwar noch zur Gänze aufwachsen muß. mich aber vermutlich nie wieder verlassen wird, all das ist mal wieder über den Haufen geworfen für 7 Minuten und 28 Sekunden Telefongespräch. Verdammt, merkst Du was? Keine Sekunde habe ich vergessen. Ich freue mich auf Deinen Besuch, R. Ich freue mich viel zu sehr darauf. Aber es wäre mir fast noch lieber, ich könnte zu Dir kommen und Du würdest mich mit einem Fußtritt wieder vor die Tür setzen. Oder im Gegenteil -
R., ich werde natürlich auch diesen Brief mal wieder nicht absenden, obwohl Du als Lehrer für Creative Writing und Musiktheater natürlich mit allen Abstufungen schwuler Hysterie vertraut sein wirst. Als es damals 'aus' war zwischen uns, ohne, daß es in letzter Konsequenz begonnen hätte, damals habe ich mich verstärkt dem Internet zugewandt. Ich habe da ein Schreibforum gefunden, das auf meine Bedürfnisse zurechtgeschnitten ist, manchmal verbringe ich fast den ganzen Tag an dem Ding. Gefunden habe ich es Weihnachten 2000, jenes Weihnachtsfest, an dem wir unsere Liebe in eine Schmuckschachtel gepackt und in aller Bewußtheit auf dem Speicher der Erinnerung verräumt haben. Jetzt bin ich darüber wieder gestolpert, bitte hilf mir, es wenigstens wieder sicher zu verstauen, trennen könnte ich mich nie davon.
Verzeih die Lawine, wenigstens wirst Du sie nicht lesen müssen.
M.
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