Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 3
2. Biografie 3
3. Totalkunstkonzept 3
3.1. Die Fakten – festhalten, was festzuhalten ist 5
3.2. „Konkrete Poesie“ und Sprache 6
3.3. Die Aktionen 7
4. Stein- und Blitzperformance 9
5. Verwirklichung des Totalkunstkonzeptes und Resümee 12
6. Literaturverzeichnis 16
1. Einleitung
In der folgenden Arbeit möchte ich Timm Ulrichs und sein Totalkunstkonzept vorstel-len. Ich versuche seinen Kunstansatz – bei dem im Mittelpunkt die These steht: „Kunst ist Leben – Leben ist Kunst“ – zu erläutern und diesem Arbeiten gegenüberzu-stellen. Dafür habe ich zwei körperbetonte Arbeiten ausgewählt, in denen es um eine besondere Interaktion mit der Natur bzw. Naturgewalten geht.
Im letzten Abschnitt wird es darum gehen festzustellen, inwiefern Ulrichs’ Ansatz in den Arbeiten zum Tragen kommt bzw. eingelöst ist.
2. Biografie
Timm Ulrichs wurde 1940 in Berlin geboren. Von 1959-66 studierte er Architektur an der Technischen Hochschule in Hannover. Bereits 1959 gründete er in Hannover die „Werbezentrale für Totalkunst & Banalismus“.
Dies fand in der „Zimmergalerie“ statt, was nichts anderes als Timm Ulrichs’ Woh-nung war.
Er wird von der Hochschule exmatrikuliert, nachdem er in der Aktion „Zettel ankle-ben verboten!“ die Wände der Universität mit Blättern, auf denen eben dieser Text steht füllt.
Er investiert alle zeitlichen und finanziellen Ressourcen in die Produktion seiner Kunst. Denn er hat für sich die Gleichung aufgestellt: „Kunst ist Leben, Leben ist Kunst“. Somit ist die Konsequenz in diesem Totalkunstkonzept ein vollständiges Auf-gehen des Menschen beziehungsweise Künstlers in der Kunst.
1972 bekommt Ulrichs eine Professur an dem Institut für Kunsterzieher Münster der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf (jetzt Kunstakademie Münster).
3. Totalkunstkonzept
Wie schon kurz in der Biografie erwähnt, setzt Ulrichs das Leben und die Kunst gleich und geht somit eine Verschmelzung von Kunst und Künstler ein.
Eine frühe Konsequenz ist die Erklärung zum „ersten lebenden Kunstwerk“(1966).
Er macht sich zum Objekt, indem er sich in einen Glaskasten setzt und in einer Galerie ausstellen lässt. „In dieser Selbstausstellung ist die Differenz von Produzent und Pro-dukt aufgehoben. Der Produzent und sein Produkt sind identisch.“ Mit dieser Be-trachtung wäre Ulrichs bereits am Ziel seiner Vereinigung von Kunst und Leben, doch damit steht er erst am Anfang seines künstlerischen Schaffens.
In der Folge setzt er in weiteren Aktionen beziehungsweise Handlungen seine Absicht fort, sein „Ego“ (siehe beispielsweise: „Ego-zentrischer Steinkreis: Steine in Wurfwei-te“ (1977)) in den Mittelpunkt zu stellen. Jürgen Raap nennt es im Kunstforum „Ich-Forschung“ .
Es geht aber nicht um reine Egozentrik, sondern eher um ein Hinterfragen dieses „Ichs“. Holeczek schreibt: „(...) ein Hauptthema des Künstlers: die Identitätsproble-matik.“ Timm Ulrichs verdeutlicht das mit der ihm eigenen Ironie in seinem „2. Ego-zentrisches Manifest“(1966): „Ich als Kunstfigur oder: was das ganze Theater soll“ lautet die Überschrift. Darin erklärt er seine gesamten Körperäußerungen – Geräusche, Bewegung, Worte, etc. – zu Kunst und stellt fest: „kunst ist mein leben: alles theater/ das reinste theater/ nichts als theater“ .
Die Kunstfigur scheint dabei sehr wichtig zu sein. „(...) das Bild, das ich von mir ent-werfe, ist ja nicht naturgegeben; vielmehr arbeite ich an mir unter dem Aspekt der „Kunst-Figur“ . Dabei entsteht aber keine rein fiktive Kunstfigur, sondern sein Leben wird zu Kunst. Wenn er bei der Selbstausstellung Material mit ausstellt, das mit seiner Biografie zusammenhängt, wird es zu Kunst und gleichzeitig wird sein Leben damit überhöht und ebenfalls zu Kunst.
Außerdem muss Ulrichs Arbeit immer auf dem Hintergrund der Konzeptkunst gedacht werden. Auch wenn es in den später erwähnten Performances zu einer massiven Kör-perlichkeit kommt, ist immer die Idee bzw. die gedankliche Durchdringung, die vor-her stattgefunden hat, das Grundlegende seiner Arbeit.
3.1. Die Fakten – festhalten, was festzuhalten ist
Er lässt seine Signatur notariell beglaubigen, vermisst den Körper – Hautoberfläche, Volumen – und erklärt sich zum Maßstab (er korrigierte den Ur-Meter von Paris auf seine Körpergröße). Ulrichs reduziert den Menschen auf seine „Faktizität“ .
An anderer Stelle heißt es bei Holeczek: „Nur das Faktische, das exakt Messbare fin-det in seiner Ich-Kunst Raum.“ Damit distanziert sich Ulrichs von einem Kunstschaf-fen, das den Rezipienten in andere Wirklichkeiten führen will. Ulrichs entkleidet die Wirklichkeit von ihrem Schein und zeigt die nackten Tatsachen. Doch damit verwirrt er genauso sehr, wie es beispielsweise surrealistische Bilder tun können. Denn die Fakten, die er in den Fokus stellt, sind Dinge, denen keine Beachtung geschenkt wird.
Bei alldem darf aber nicht vergessen werden, dass Ulrichs hier ein Spiel mit der Selbstüberhöhung und den Begriffen treibt.
Sein Ursprung ist die DADA – Bewegung oder auch die Arbeiten Marcel Duchamps, deren Intention er konsequent fortführt. Er meint dazu, dass es nicht reicht nur Fla-schentrockner (Duchamp) auszustellen, sondern man müsste es bis zur letzten Konse-quenz führen und sich selber ausstellen.
Bei ihm schlägt sich die Verschriftlichung dessen in einem „egozentrischen Mani-fest“(1966) nieder. Wodurch wiederum eine Parallele zum dadaistischen Manifest hergestellt wird.
Kurt Schwitters, der mit seinem Merzgesamtkunstwerk die Gattungsgrenzen der Kunst überschritt, erweist Ulrichs seine Ehrerbietung, indem er seine Trauung mit Schwitters’ Anna Blume in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung bekannt gibt (1967).
Bernhard Holeczek schreibt: „Der ‚totale’ Kunstbegriff oder der Anspruch auf ‚totale’ Kunst hat seine Wurzeln in den Tendenzen zum Gesamtkunstwerk. (...) Einer Verei-nigung aller Künste zu einem Gesamtgebilde sollte die Vereinigung von Kunst und Leben folgen.“
Er schreibt weiter, dass sich der Wegfall der Kunstdisziplinen bei Ulrichs aber nur daraus resultiert, da er sich einem „umfassenderen Kunstbegriff verpflichtet fühlt.“
3.2. „Konkrete Poesie“ und Sprache
Durch die Erwähnung Anna Blumes kommt man zu einem weiteren wichtigen Punkt in dem Schaffen Ulrichs’. Texte oder eben die „konkrete Poesie“, die er in einer Ar-beit auch skulptural manifestierte. Im Englischen heißt ‚concrete’ sowohl konkret als auch Beton. Timm Ulrichs nahm sich den Beton und goss daraus den Begriff „concre-te poetry“.
Dieses Wörtlichnehmen ist bei den Textarbeiten Ulrichs’ oft der Ausgangspunkt. Er treibt sein Spiel mit den Bedeutungen, die in der Sprache beziehungsweise in dem einzelnen Wort stecken. Er fördert in Anagrammen Bedeutungen zutage, die verwir-ren und scheinbar Verstecktes enthüllen. So entdeckt er beispielsweise, dass im Ab-bild (griechisch IKON) bereits das KINO enthalten ist. So wählt er für die Darstellung dieser Entdeckung auch das Kino und lässt aus dem Wort IKON das Wort KINO in einem kleinen Film entstehen.
Ein anderes Betätigungsfeld sind die Palindrome (wie auch ANNA), Wörter bzw. Sät-ze, die vorwärts und rückwärts gelesen einen Sinn ergeben, dazu Holeczek:
„Sein treffendstes Palindrom fand er 1979, und es könnte als Motto oder Kennzeich-nung über seiner Person und seinem gesamten Werk stehen: ‚Timm Ulrichs: EIN EGO-GENIE’.“
Er fördert aber nicht nur neue Bedeutungen zutage, sondern benennt wie in seiner Ak-tion „Zettel ankleben verboten!“ auch weiterhin Dinge und Zustände.
Ob er die sechs Seiten eines Würfels mit den Buchstaben W Ü R F E L beschriftet o-der an einer unbekannten Stelle das Schild „Globus, Maßstab 1:1 (Hinweisschild für die Erdkugel)“ (1968) aufstellt, immer ist das Benannte ein Objekt, das auf eine Be-nennung verzichten könnte. Timm Ulrichs wandert aber durch die Welt der Dinge und bezeichnet sie, als würde er sagen wollen: Hier bin ich auch schon gewesen.
Man kann es andererseits auf seine Bestrebung beziehen, alles Messbare zu messen und die Fakten festzuhalten. Nur wird hier eben alles Benennbare benannt.
„Es scheint Ulrichs primär um Sprachanalyse und nur sekundär um Spracherweiterung zu gehen. (...) Er will ja bereits vorhandene Widersprüche aufdecken und nicht weitere Widersprüche als reinen Selbstzweck provozieren, ohne dass der damit verbundenen Irritation das Moment der Klärung inhärent wäre.“
„Ich kann keine Kunst mehr sehen!“(1975), schreibt sich Ulrichs auf ein Schild und hängt es sich um. Er trägt einen Blindenstock, eine dunkle Brille und eine Armbinde. Welche Bedeutung steht jetzt im Vordergrund? Der Rezipient, der mit soviel Bildern gefüllt ist, dass er keine Kunst mehr sehen möchte oder der Blinde, der keine Kunst mehr sehen kann?
Es ist eine Pointe, ein Witz, aber dahinter öffnet sich eine weitere Ebene, die andere Interpretationen zulässt. Diese Doppelbödigkeit ist ein beliebtes Stilmittel Ulrichs’. „Hinter vordergründigem Humor (bei Timm Ulrichs darf immer gelacht werden!) ver-stecken sich viele Bedeutungsebenen.“
3.3. Die Aktionen
„Ego-zentrischer Steinkreis: Steine in Wurfweite“ (1977). Ulrichs stellt sich auf ein freies Feld und wirft unterschiedlich große Steine soweit er kann. Es ergibt sich ein Kreisgebilde, das am Rand ausfranst. Das Ergebnis erinnert an Werke von Land-Art Künstlern wie Richard Long, nur ist beides aus vollkommen unterschiedlichen Inten-tionen entstanden. „Diese meine Arbeit – Produkt einer meine Grenzen sichtbar werden lassenden Kraft-Probe – ist also wesentlich bestimmt von persönlicher Reich- und Tragweite und Kondition (...).“ Wieder ist Ulrichs selber Mittelpunkt und schafft sich einen Ort, der fast an eine Kultstätte erinnert.
Weiter heißt es, nachdem er Vergleiche mit zen-buddhistischen Steingärten herange-zogen hat: „Ähnlich komplex- auratisch soll der ‚Bedeutungshof’ meines eigenen ‚philosophischen Gartens’ anmuten, zugleich aber einfach sein in Material und der ihn bewirkenden Gestik: eben ‚lapidar’.“ Er zeigt eine „bedeutungsschwere“ Intention auf, um sie jedoch gleich im nächsten Moment zu widerlegen und zu einer Reduktion auf das Wesentliche zurückzukehren. Er beschränkt sich auf ein Material und eine Handlung.
Auch Holeczek sieht in der Aktion eine Art „Kraftprobe“ , wie es Timm Ulrichs sel-ber geschrieben hat. Somit schon eine Tendenz zur Body-Art beziehungsweise zu ei-ner körperbetonten Performance. Dazu später mehr.
Eine andere „Kraftprobe“ hat Ulrichs bei den Olympischen Spielen in München 1972 vollzogen. Er stieg jeden Tag in ein Laufrad und drehte seine Runden. „Ich absolviere täglich einen Marathonlauf – ‚auf der Stelle tretend’“ . Somit kommt es zu einem vollständigen Gegensatz zu den Athleten, die sich jeden Tag bemühen, eine bestimmte Strecke in der schnellsten Zeit zurückzulegen. Mit einer gewagten Interpretation könnte man die Aktion deuten, dass Ulrichs damit den Athleten beziehungsweise den Zuschauern zeigen will, ihre Bemühungen und Anstrengungen wären so sinnlos wie die Bewegung in einem Laufrad. Wahrscheinlicher ist aber die Möglichkeit einer Re-aktion auf das Massenphänomen des Sports, dem Ulrichs etwas Kleines und Leises entgegensetzt.
Der größte Teil seiner Aktionen sind jedoch eher konzeptuelle Arbeiten. In ihnen geht es mehr um skulpturale Ausprägungen denn um körperliche Aktivität bzw. eine zeit- und raumbezogene Handlung. Man könnte hierfür zum Beispiel die Arbeit: „Timm Ulrichs: auf der Unterseite der Erdoberfläche (Kopfstehendes Hohlkörper-Denkmal II)“(1972/80/90) nennen, bei der er einen lebensgroßen Abguss seines Körpers in die Erde versenkt, so dass nur noch eine Platte mit den Negativabdrücken der Fußsohlen zu erkennen ist.
Doch diese Arbeiten sind keine Performances, sondern eher Aktionen, in denen es um die Verbildlichung von Konzepten geht.
4. Stein- und Blitzperformance
Ich möchte auf zwei Performances näher eingehen und an ihnen zeigen, mit welcher Konsequenz sich Timm Ulrichs einer Situation aussetzt.
„Timm Ulrichs, den Blitz aus sich lenkend (Menschlicher Blitzableiter)“ 1977/79.
In dieser Aktion schnallt sich Ulrichs eine 5m lange Kupferstange an den Körper und geht bei einem Gewitter nackt über ein freies Feld. Die Aktion endet, wenn er von ei-nem Blitz getroffen wird oder das Gewitter vorübergezogen ist.
Er geht hier ganz bewusst eine Gefahr ein, die bis zum Tode führen könnte.
„Er hält sich auch an diesem Punkt an seine Nüchternheit, veranstaltet keine wilden aggressiven Aktionen, unternimmt keine Verstümmelungen, (...) die Attacken sind immer nur mögliche, nicht vorexerzierte Selbstverletzungen, die die Vergänglichkeit des Materials Körper, das Leben, auf Zeit beschleunigen, bzw. abkürzen können.“
Auch Raap grenzt Ulrichs Arbeiten von der Body-Art ab, denn es „geht dieses physi-sche ‚Sich - Einbringen’ über den körperlichen Aspekt bei der klassischen (...) Body-Art hinaus (...), während Ulrichs mit seinem ‚Totalkunst’ - Begriff das menschliche Da- Sein in seiner Permanenz inszeniert.“
Aktionen anderer Künstler sind als „reine Kunst“ gemeint, schreibt Raap weiter, bei Ulrichs würde es aber zu einer Deckung von Kunst und Leben kommen.
Das ist genau der Aspekt den Timm Ulrichs anstrebt. Sich vollkommen einer Situation ausliefern mit allen Konsequenzen, die es in der Wirklichkeit gibt.
„(...)dem Tode geweiht zu sein, ihn ständig vor Augen haben und (...) aus Leibeskräf-ten (mit dem) Leben spielen. Mehr als das Leben selbst ist dabei schließlich nicht zu verlieren“ , schreibt Ulrichs. An der Äußerung zeigt sich, dass das „Spiel“ Ulrichs’, der Totalkunst-Gedanke keine Grenzen hat. Der Tod als letztendlicher Fixpunkt im Leben wird in die Aktion miteinbezogen und nicht ausgeschlossen.
Wenn man in dem Text „Skylla und Charybdis“ von Timm Ulrichs über die „Blitz-aktion“ liest, wird deutlich wie intensiv er sich mit einem Thema auseinandersetzt und es mit literarischen und mythologischen Ausführungen stützt.
Er schnallt sich nicht eine Kupferstange um und wandert nackt über ein Feld, um da-mit ein Effekt zu erzielen. Allem was er macht, scheint eine hohe gedankliche Durch-dringung vorauszugehen. In einem weiteren Text von Timm Ulrichs „Der Blitz – ein Zeichen Gottes?“ vertieft er die Betrachtungen über den Blitz und beleuchtet ihn von mythischer, spiritueller, skurriler und literarischer Seite.
So schreibt er nach allen angeführten Verweisen bezogen auf seine Performance: „Der mittels einer Stahlrüstung tragbare Blitzableiter war Fühler und Sensor, Antenne und Empfänger zwischen Himmel und Erde, und ich, als vermittelndes Verbindungsstück und Kontaktmann eingepasst, war all dies auch (...).“ Auf dem Hintergrund seiner vorangegangenen Ausführungen bekommt seine Aktion auch eine mythische Dimen-sion, ein In-Kontakt-treten mit einem göttlichen Prinzip.
Diese Bedeutung einer rituellen Handlung schwingt als Möglichkeit mit, wird aber von Ulrichs selbst nur durch den hier erwähnten Text unterstützt. Seine Äußerungen zu der Aktion gehen sonst eher in eine andere Richtung.
In der Beschreibung (hier sind seine Äußerungen aus dem oben erwähnten Text „Skylla und Charybdis“ gemeint) macht Ulrichs klar, dass es um Erfahrungen an der Grenze geht und das Überleben ein Geschenk ist. Oder er dreht es in dem ihm eigenen Spiel mit der Sprache um und spricht davon, sich noch einmal das Leben „genommen – nicht weg-genommen, sondern (an mich) genommen“ zu haben. Hier wird in der sprachlichen Formulierung deutlich, dass es keineswegs ein passiver Akt ist, eine Auslieferung an das Phänomen des Blitzes, sondern ein gleichwertiges ihm Gegenü-berstehen und mit dem Leben davonzukommen. Das Leben nicht preisgeben, sondern bei sich behalten.
„(...) unter Einsatz des ganzen Körpers und gar des Lebens, (kann man sich) dem Le-ben widmen.“ Auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod wird die Intensität des Lebens gesteigert. Er will dem Tode nahe sein, um Leben zu können.
Für die Aktion „Der Findling“(1980) lässt sich Timm Ulrichs einen durchgeschnitte-nen Stein mit seiner negativen Körperform anfertigen. Er legt sich in einer fast emb-ryonalen Stellung in den Stein und anschließend wird die zweite Hälfte daraufgesetzt. Es bleibt nur soviel Platz, dass er genügend Luft zum Atmen hat. Zehn Stunden ver-harrt er im Innern des Steines. Angelegt war die Aktion für 24 Stunden, er hatte es aber aufgrund von Schmerzen und Kälte nicht länger ausgehalten.
Durch die Körperhaltung und den Zustand des Eingeschlossen-Seins drängt sich der Vergleich mit dem pränatalen Zustand in der Gebärmutter auf. Ulrichs begibt sich auf eine Reise zurück zu den Wurzeln oder sogar einem Urzustand. Bei dieser Performan-ce ist er nur leicht bekleidet, wodurch nur wenig an die Welt außerhalb des Steines er-innert. Außer den Erinnerungen.
Es ist eine Aktion mit einem kraftvollen Bild, doch der größte Anteil spielt sich wahr-scheinlich im Kopf des Akteurs ab. Wie bei anderen Performances kann der Rezipient auch hier nicht direkt teilnehmen, sondern ist auf seine Phantasie angewiesen oder auf das, was ihm Ulrichs anschließend erzählt.
Das Ende der Performance ähnelt der „Blitzaktion“, denn auch hier kommt es zu einer Art „Zurück – zum – Leben“, einer Wiedergeburt. Denn es wäre möglich gewesen, dass Ulrichs in dem Stein bleibt. Er ist keinem aktiven Gegenüber ausgesetzt, wie es der Blitz ist, doch ist auch hier der Körper, von der physischen Ausgangsposition un-terlegen.
Die Nordhorner Zeitung (GN) berichtete am nächsten Tag von „Zehn bange Stunden im ausgehöhlten Findling.“ Nach der Aktion sagte Ulrichs, sein größter Wunsch wäre jetzt „ ‚nicht mehr in einen solchen Stein steigen zu müssen.’“
Als kleiner Exkurs kann erwähnt werden, dass der Findling noch immer vor dem Konzert- und Theatersaal in Nordhorn(in Zusammenarbeit mit der Städtischen Gale-rie) liegt und gerade im letzten Jahr unter Ulrichs Aufsicht saniert wurde.
Im Gegensatz zu anderen Performances bleibt hier etwas zurück. Es kann auch ohne die Aktion als ein kraftvolles Bild, eine Skulptur für sich stehen.
5. Verwirklichung des Totalkunstkonzeptes und Resümee
Es ist keine Kunst mehr, die in den Aktionen zum Tragen kommt, sondern das Leben beziehungsweise ein Zustand des Körpers. Ulrichs agiert nicht als Künstler, der in ei-ne Rolle schlüpft. Er scheint ganz bei sich selbst zu sein.
So könnte man bei der „Blitzperformance“ den Vorwurf machen, Ulrichs übertreibe und sei nun dem Wahnsinn nahe. Doch es ist bei ihm Teil des bis in die letzte Konse-quenz fortgesetzten Konzeptes.
Es ist auch ein Spiel mit der Natur, vielleicht eine Art Konfrontation des winzigen Menschen mit unbeherrschbaren Naturkräften.
Bereits einige Jahre zuvor hat sich Timm Ulrichs der Natur als Konkurrent gegenüber gestellt und forderte die „Aufhebung der Schwerkraft“ . Außerdem proklamierte er: „Am 2. September veranstaltet Timm Ulrichs eine totale Sonnenfinsternis“(1968) .
Diese Arbeiten gehören eher zur Konzeptkunst, sollen aber deutlich machen, dass Ul-richs in ein Verhältnis mit der Natur tritt oder sich zumindest natürliche Erscheinun-gen zunutze macht.
Reduziert man das Totalkunstkonzept auf die bereits genannte Gleichung „Kunst ist Leben und Leben ist Kunst“, dann wird es in den angeführten Aktionen verwirklicht. Denn was zum Einsatz kommt, ist nichts anderes als das Leben an sich.
Und wie das Leben ist auch der Tod Teil des Lebens bzw. des Konzeptes.
In verschiedenen Arbeiten - ein Leichenschauschein, ein Schild mit dem wahrschein-lichen Todesjahr (2012) und schließlich einem Grabstein („Denken Sie immer daran, mich zu vergessen! Timm Ulrichs“(1969)) – wird seine Beschäftigung mit dem Tod deutlich. Er kann sein Spiel mit dem Tod treiben, denn er hat ihn akzeptiert und setzt ihn in den verschiedensten Arbeiten um.
Doch betrachtet man die „Kunst ist Leben“ – Gleichung näher und hört weitere Kommentare Ulrichs’ zu diesem Thema, musst die Kunst anders gesehen werden.
„Ich kann keine Kunst mehr sehen!“(1975), diese bereits oben erwähnte Aktion war eine Reaktion auf das Beladen der Welt mit Kunst. Ulrichs nennt es: „Umweltver-schmutzung durch Kunst.“
So kann man unter diesem Aspekt auch die beiden beschriebenen Performances ein-ordnen. Denn Ulrichs hinterlässt nur den Findling, der jedoch aus der Natur stammt und quasi nur ausgeliehen war.
Und bei der oben beschriebenen Erdplastik bleibt nur ein kleines Quadrat mit den Fußsohlen zurück. Es ist also eine potentielle Plastik. Wieder ein Beispiel dafür, dass sie die Kunst Ulrichs’ vor allem im Kopf entfaltet.
Ihn als ökologischen Künstler zu bezeichnen wäre zu weit gegangen, aber in den un-terschiedlichsten Arbeiten wird seine Beschäftigung mit der Natur deutlich. Eine Ar-beit könnte als explizit ökologisch bezeichnet werden, obwohl sie damit sicherlich in Ulrichs’ Augen auf einen minimalen Ausdruck reduziert wird. Ulrichs fertigt eine Hand – mit umfassender Geste – aus Ton an und setzt diese um ein frisch eingepflanz-tes Bäumchen. Das bedeutet, wenn der Baum wächst, wird die Handplastik gesprengt. Der Baum hat sich sozusagen aus den Fängen des Menschen befreit. Aber diese Inter-pretation alleine wäre sicherlich zu kurz gegriffen.
Er selber, als besonders aktiver und viel Kunst hinterlassender Künstler, amüsiert sich darüber, dass selbst seine „Anti-Kunstwerke“ in den Kunstmarkt eingehen. „So ist denn noch meine ‚Asche verbrannter Kunstwerke’, reste-verwertend in ‚Kunst-Urnen’ abgefüllt, widerstandslos in die Kunst eingegangen.“
Er testet sozusagen den Kunstmarkt und die Rezipienten wie weit er gehen kann. Wie weit kann eine ent-ästhetisierte Kunst gehen, um immer noch als Werk akzeptiert zu werden?
Damit rückt er in die Nähe seiner Vorreiter bzw. Vorbilder wie Duchamp, der seine Kunst unter anderem mit seiner Signatur schuf (siehe „Fontäne“ (1917/1964)).
Weiter spricht er von seiner „Kunst ist Leben – Gleichung“ als eine „utopistische Formel“ , da Kunst und Leben ein Gegensatzpaar bleiben. Denn würde das Leben vollständig aufgehen, würde es zum Allgemeingut.
Und nichts anderes scheint Ulrichs mit sich selber exemplarisch durchzuspielen. Denn er stellt sich aus und macht damit sein Leben zur Öffentlichkeit.
Totalkunst bewegt sich gegen den Kunstbetrieb und versucht die Formen zu sprengen.
Ulrichs bezeichnet die Museen immer wieder mit Friedhöfen, wobei er sich dabei auf eine Äußerung Marinettis beruft, der dies bereits im „Futuristischen Manifest“ (1909) festgehalten hat. So könnte man seinen Grabstein „Denken Sie immer daran mich zu vergessen! Timm Ulrichs“(1969) auch als Reaktion auf diese Feststellung deuten. Er bringt seine Kunst an einen Ort, an dem er sie schon längst gesehen hat: dem Friedhof.
Eine andere Definition der Totalkunst ergibt sich aus seiner Aktion „Kunst – Dieb-stahl als Totalkunst – Demonstration“ (1969/1970). In einem Begleittext schreibt er: „(...) spezielle IDEENKUNST untersucht (...) die bedingungen von kunst selbst, das gesamte (künstliche) ‚kunst’-system, seine prämissen, seine identität, seine (gesell-schaftlichen) wirkungen (...)“ .
Es ist eine Form künstlerischer Kunstkritik, mit der er die Kunst selber wieder mehr in den Mittelpunkt stellen will. Das System Kunst wird vorgeführt und zu einer konzep-tionellen Kunst gemacht.
Es geht ihm darum über dieses System hinauszugehen und wenn möglich eine Verän-derung herbeiführen. Dabei soll nicht nur die Kunst, sondern die Welt verändert wer-den. Fraglich bei diesem Text ist, wie weit Timm Ulrichs ein Spiel mit den großen Begriffen treibt. Mit einem Auftauen des statischen musealen Raumes ist es ihm sehr ernst (was durch die Arbeit mit dem Medium Performance explizit betrieben wird), aber die Veränderung der Welt ist sicherlich als ironische Rhetorik zu sehen.
Und immer wieder prangert er die Kommerzialisierung an, einen Kunstmarkt, der „je-de kunst – äußerung (...) zur ware“ macht.
Ich habe öfter den Begriff Spiel für die Arbeit Ulrichs gebraucht. S. J. Schmidt sagt dazu: „dass ulrichs spielt, ist klar; aber wenn zum richtigen spiel witz, konzentration, ideenreichtum und voller einsatz gehören, dann darf man vom spieler ulrichs sagen: „er ist ein hochleistungsspieler.“
Es soll deswegen hier noch einmal erwähnt werden, weil Spiel, im Sinne von die Wirklichkeit neu zu beleuchten und Verstecktes durch Witz und Ironie
heraufzubeschwören, ein sehr wichtiger Bestandteil der Totalkunst ist.
Ein anderer Text, der die Totalkunst in besonderem Maße verdeutlicht ist „der welt-raum als kunstraum“.
Er beschreibt Projekte aus den Jahren 1961/69 und fordert unter anderem: „geografi-sche bezeichnungen werden beim wort genommen: das gelbe, rote und das schwarze meer werden gelb, rot bzw. schwarz eingefärbt, feuerland wird in brand gesetzt, der stille ozean stillgelegt etc.“
In der Form ist es wieder das Wörtlichnehmen, der Maßstab, der hier betrieben wird, ist jedoch ein totaler, ein alles umfassender. Denn in dem Text gibt Ulrichs auch die Möglichkeit, die Erde abzutragen und an anderer Stelle wieder aufzubauen.
Diese Arbeit zeigt noch einmal den globalen Ansatz der Kunst von Timm Ulrichs.
In seinen Werken kann alles passieren, auch wenn es oft nur in Worten sichtbar wird.
An den beiden erwähnten Performances wird aber deutlich, dass er sich selber keine Grenzen setzt.
Timm Ulrichs bewegt sich auf einem sehr schmalen Grenzstreifen, wobei immer die Möglichkeit des Scheiterns besteht.
Und mit seinen Tod wird die letzte Arbeit abgeschlossen sein:
„The End“, Augenlid – Tätowierung, 1970/16.5.1981
6. Literaturverzeichnis
- „Timm Ulrichs – Retrospektive 1960 – 1975“, Katalog, Kunstverein Braun-schweig, 1975
- APEX – Interview Nr. 10, A. R. Schreiber im Gespräch mit Timm Ulrichs,
Hannover/Göttingen 1974, weitere Quellenangaben nicht vorhanden
- „Timm Ulrichs: Totalkunst“, Städtische Galerie Lüdenscheid 1980
- „ ‚Der Findling’ und andere Arbeiten“, Katalog Städtische Galerie Nordhorn, 1981
- Bernhard Holeczek: „Timm Ulrichs“, Braunschweig 1982
- Timm Ulrichs, „Der Blitz – ein Zeichen Gottes?“, weitere Quellenangaben nicht vorhanden
- „Timm Ulrichs – Kunst & Leben“, Katalog Städtische Galerie Iserlohn, 1993
- „Timm Ulrichs: Dem Betrachter den Rücken zukehrend“, Katalog Sieger-landmuseum im Oberen Schloss, Siegen, 1994
- Kunstforum, „Timm Ulrichs“ – Monographie, Band 126, 1994, Seite 294ff
- Helgard Haug: „Totalkunst“, Diplomarbeit Giessen, 1995
- Kunstforum, „Timm Ulrichs macht mobil“, Band 143, 1999, S. 402
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