JEDER sexuell Perverse muß zunächst bezüglich schwerer erblicher Belastung, sowie der sogenannten »Entartungszeichen« untersucht werden. Ist ein mehrfaches Vorkommen von schweren Geisteskrankheiten, von Alkoholismus, Syphilis, Diabetes und anderen zur Entartung führenden Krankheiten in der Familie des Betreffenden nachweisbar, so ist der Verdacht auf eine psychopathische Grundlage der sexuellen Delikte gerechtfertigt. Jedoch muß hervorgehoben werden, daß die erbliche Belastung sich nicht in jedem Falle geltend macht, daher nicht immer als ursächliches Moment für das Auftreten einer geschlechtlichen Perversion verantwortlich gemacht werden kann.
Die sogenannten Entartungszeichen (»Stigmata«) haben nur Bedeutung, wenn sie sehr stark ausgeprägt und mehrfach vorhanden sind. Man unterscheidet körperliche und geistige Stigmata degenerationis. Zu den ersteren gehören Entwicklungsstörungen und Hemmungen, Mißbildungen wie Schädelasymmetrien, Sprachfehler, Tic convulsif, abnorme und krankhafte Zustände der Genitalien und Genitalfunktionen und besonders Mißbildungen des Ohres wie das Morelsche Ohr (gänzliches oder teilweises Fehlen der Helix oder der Antihelix), das Darwinsche Spitzohr usw.
Die geistigen Entartungserscheinungen umfassen alles das, was man als »bizarre oder abnorme« Charaktere, als »Sonderlinge« und »Originale«, als »psychopathische Minderwertigkeiten« (J.L.A. Koch) als »Desequilibrierte« (Eschle), als dégénérés supérieurs» (Magnan) beschrieben hat, eigentümliche Störungen der Harmonie des Seelenlebens, die durch Mangel an Ebenmaß, an Gleichgewicht zwischen Intellekt und Gefühl, sowie durch eine abnorme Reizbarkeit und Reaktionsfähigkeit ausgezeichnet sind. Es kann völliger Mangel des ethischen Empfindens bestehen, sogenannte «moral insanity», von der übrigens E. Kräpelin und seine Schule nachgewiesen haben, daß sie sich erst sekundär in späterer Zeit im Anschluß an bestimmte Geisteskrankheiten entwickeln kann. Auffällig ist bei diesen Desiquilibrierten die Disharmonie der gesamten Lebensführung, die innere Haltlosigkeit, das Sprunghafte, Unstete, Plötzliche ihrer Handlungen, die oft unter dem Eindrucke von Zwangsvorstellungen und abnormen Impulsen erfolgen, das abnorm frühe Auftreten und die außerordentliche Intensität des Geschlechtstriebes, die Neigung zur Grausamkeit (O. Rosenbach). Bei der Beurteilung der Gesamtpersönlichkeit des Degenerierten ist immer der ganze Lebenslauf in Betracht zu ziehen, auf den sich nur allzu oft das Stiftersche Wort anwenden läßt: «Es waren in seinem Leben nur Anfänge ohne Fortsetzung und Fortsetzungen ohne Anfang."
Iwan Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit (1909) S. 726 ff.
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