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! schrieb am 30.10. 2001 um 19:01:01 Uhr über

Trauma


Das zweite, womit wir die Patientinnen unterstützen, um aus dissoziativen Zuständen heraus
zu kommen, ist, daß wir mit den Patientinnen die Bildschirmrücklauftechnik eintrainieren.
Wenn eine Patientin vor mir steht, den Kopf gegen die Wand schlägt und nicht sagen kann,
was Sache ist, sondern ich den Eindruck habe, daß sie im falschen Film ist, dann würde ich
versuchen, sie anzusprechen und zu sagen: "Ich habe den Eindruck, bei Ihnen läuft ein Film
abMeistens kommt dann irgendein Signal, daß das stimmt. «Lassen Sie diesen Film bitte
hier auf meiner Handfläche ablaufen, hier ist die Leinwand, schauen Sie! Kopf hoch, nicht
nach unten schauen, hier ist die Leinwand, lassen Sie den Film ablaufen! Sie haben eine
Fernbedienung in der Hand und Sie drücken auf die Stoptaste, jetzt! Der Film hält an, bitte
Film anhalten, auf Standbild. Jetzt schauen Sie sich das Standbild erst mal an. Machen Sie
das Bild größer, machen Sie es kleiner, verändern Sie das Bild! Sie können auf das Bild
Einfluß nehmen. Nicht weiterlaufen lassen, nicht nach unten schauen, ja nicht dieser
Tunnelblick, Kopf hoch! Und jetzt schalten Sie, wenn das Bild so ist, daß Sie es ertragen
können, auf den Rückwärtslaufknopf und lassen den Film zurücklaufen und schauen dabei
den Film ganz genau an. Drücken Sie auf Rückwärtslauf jetzt - und den Film zurücklaufen
lassen, Kopf oben lassen, ganz genau hinschauen, der Film bekommt dabei so etwas
Abgehacktes. Schauen Sie sich die Szene ganz genau an, lassen Sie sie zurücklaufen, weiter
zurücklaufen, bis zum Anfang, ganz zurücklaufen, nicht irgendwo zwischendurch aufhören
und noch weiter bis zum Anfang und abschalten - jetzt! Jetzt packen Sie dieses Video bitte
in einen inneren Tresor beiseite" und dann kommt ein Ortswechsel, Lagewechsel,
Themenwechsel: "Was meinen Sie, sollen wir nicht mal aus dem Zimmer rausgehen, ein
bißchen an die frische Luft?», die klassische Intervention der Nachtschwester: «Wollen wir
mal eine rauchen?" Also Ortswechsel, Themenwechsel, Lagewechsel, andere Umgebung!
Nicht über den Inhalt sprechen, höchstens noch sagen: "Ich habe den Eindruck, da ist
irgendetwas abgelaufen, worüber noch mal gesprochen werden sollte, aber nicht heute
Nacht um 02.00 Uhr. Das wäre unfunktional und schlecht, das will auch vorbereitet sein,
dem werden wir uns noch widmen. Bitte packen Sie das jetzt mal weg."

Die Schwestern bei uns haben eine Liste der Themen, auf die die Patienten ansprechen. Eine
Patientin z.B. war Borussia-Dortmund-Fan. In der Zeit, in der sie bei uns in Behandlung
war, wußten die Schwestern immer alle sehr gut über den aktuellen Tabellenstand, über die
Form von Andi Möller, über den Einsatz von Möller in der Nationalmannschaft und so was
Bescheid. Wenn man die Patientin aus der Dissoziation herausgeholt hatte und dann mit ihr
über Borussia sprach, dann war die erst mal eine ¼ bis ½ Stunde beschäftigt. Dabei konnte
man dann einen Tee trinken, eine Zigarette rauchen, konnte sich unterhalten, konnte dann
fragen, wie ist es, "Wollen sie wieder auf Ihr Zimmer gehen, meinen Sie, Sie können jetzt
noch mal versuchen zu schlafen, oder wollen Sie einfach sich ein Bett auf dem Flur machen,
damit ich Sie so etwas im Blick habe?» «Ja, ich glaube, ich mache mir mal ein Flurbett, dann
haben Sie mich mehr im Blick und dann ist das besser so."

Es gibt noch eine weitere Technik, wieder aus der Hypnotherapie, die man anwenden kann,
wenn jemand sehr in seiner Welt drin ist: Man versucht erst mal mit Pacing und Leading die
oft stereotype Bewegung der Patientin aufzunehmen. Ich knalle natürlich nicht mit dem Kopf
gegen die Wand, das mache ich nicht, aber ich nehme oft die Bewegung auf. Das ist extrem
irritierend, wenn ich dopple. Wenn ich mich dann »eingepacet« habe, praktisch
eingeschwungen in diese stereotype Bewegung, dann verordne ich die Bewegung, indem ich
sage: "Nein, bleiben Sie bitte bei Ihrer Bewegung, das ist sehr beruhigend, bleiben Sie
dabei, das ist sehr gut. Menschen, die sich beruhigen wollen, schaukeln häufig so - und ganz
bewußt schaukeln und dabei tief Luft holen! Ja, ich merke wie Sie ganz schnell und ganz tief
atmen, und atmen Sie ganz bewußt ganz schnell und ganz tief!" Die Patientin atmet natürlich
ganz schnell und ganz oberflächlich, aber ich sage: "Sie atmen ganz schnell und ganz tief und
immer schneller und tiefer atmen", besonders tiefer atmen, das geht natürlich nicht. Und dann
komme ich langsam in Beziehung und in Kontakt und hole sie raus.

Herausholen können wir mit diesen Dissoziationsstopptechniken diejenigen, die das wollen.
Wenn eine Patientin damit einen Machtkampf macht, dann gewinnt die den immer, dann
können Sie nur noch zusehen, daß sie nicht die anderen zu sehr triggert.

Auf der Station waren anfangs 11 Frauen, jetzt sind es 18 Frauen, die selbstverletzendes
Verhalten zeigen, alle mit komplexen chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörungen,
nicht alle mit Zustand nach Mißbrauch. Wir haben auch eine Patientin mit
Kiefer-Gaumen-Spalte gehabt, die als Kind viele Schmerzen hatte, acht OPs mitmachte und
dadurch ein ganz gestörtes Körperempfinden entwickelt hat. Die Gleichung
»Selbstverletzung gleich Mißbrauch«, diese Gleichung ist zu einfach; natürlich spielt
Mißbrauch oft (ca.2/3) eine Rolle, aber immer muß diese Gleichung nicht stimmen.

Teil 1 der Behandlung ist eine jeweils 14tägige Stabilisierungsphase, in der diese
Stabilisierungsübungen schon mal mitgegeben werden, und in der wir überprüfen, ob die
Patientin überhaupt eine dissoziative Störung hat. Es gibt ja auch selbstverletzende
Verhaltensweisen bei schweren Depressionen oder bei schwerer Entwicklungspathologie,
und da ist das Vorgehen nicht gut. Das trifft etwa bei einem Viertel der Patientinnen zu,
denen wir dann sagen, daß es keinen Zweck hat. Oder suchtmittelabhängigen Patientinnen
sagen wir: "Wissen Sie, Ihre Suchtproblematik ist so sehr im Vordergrund, daß wir damit
nicht gut arbeiten können."

Im norddeutschen Raum verweisen wir dann in eine Suchteinrichtung nur für Frauen bei uns
in der Nähe, hier habe ich im Prospekt gelesen, daß es reine Frauengruppen gibt und das ist
hilfreich. Warum nur Frauen? Einfach deshalb, weil dann ein Großteil der Trigger wegfällt:
nämlich Männer. Als Oberarzt bin ich präsent, wir haben auch einen Pfleger, das ist von
denen auch so akzeptiert, aber ansonsten ist das bei uns eine ziemlich männerfreie Zone, und
das ist auch zu merken: Wenn ich durch die Station gehe, dann verändern viele Frauen
spontan ihre Körperhaltung. Das merken die selber wahrscheinlich gar nicht. Wenn kein
Mann da ist, dann verhalten sie sich anders.


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