Ein roter Strich
Ein volles Heft in meinen Händen liegt,
Mein Blick die Seiten prüfend überfliegt:
Ein Rechnungsheft - bald mehr, bald weniger schön
Ist Zahl an Zahl auf jedem Blatt zu sehn,
Und da und dort zieht durch die Rechnung sich
Von Lehrers Hand ein dicker, roter Strich,
Kein Wort braucht's sonst, ein Federzug der spricht:
Falsch! Du hast dich verrechnet, es stimmt nicht!
Indes das Heft in meinen Händen liegt,
Indes mein Blick die Seiten überfliegt,
Seh ich im Geist ein ander Heft vor mir. -
Wie seltsam ähnlich gleicht es diesem hier!
Als »Rechnungsheft« ich's auch bezeichnen will,
Zwar stehn darin der Zahlen nicht so viel,
Rechnungen, Pläne hab ich drein gemacht,
Hab künftge Tage schön mir ausgedacht,
Manch kühnen Wunsch hab ich ihm anvertraut,
Manch stolzes Luftschloß darin aufgebaut,
Ach ja, schon viele Seiten schrieb ich wohl
Im Rechnungshefte meines Lebens voll!
Und durch gar manche Rechnung ziehet sich
Von Gottes Hand - ein dicker, roter Strich!
Ein Strich, der klar und unerbittlich spricht:
Kind, du hast dich verrechnet, so geht's nicht!
Ach, und auf manch durchkreuzter Rechnung hier
Zeigt heut' noch eine Tränenspur sich mir.
Und manch durchquerter Wunsch, manch lieber Plan
Gab erst nach heißen Kämpfen ich daran.
Und manch ein Strich tut heut' noch bitter weh,
Und manch ein Strich ich heut' noch nicht versteh!
Doch eines weiß ich - glaube ich:
Aus meines Vaters Hand kommt jeder Strich!
Er kennt den Zweck, Er weiß warum Er's tut,
Durchkreuzt Er Plan um Plan, Er meint's doch gut,
Und einmal werd'ich es verstehn
Und was mir dunkel war, im Lichte sehn.
Dann werd' ich vor dem Vater beugen mich
Und danken ihm für manchen roten Strich.
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