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SuperUser schrieb am 21.3. 2006 um 10:22:03 Uhr über

Tochter

Gebete stoppten die Schießerei in den Ghettos

Ein Sozialarbeiter hält an den Idealen seiner College-Zeit fest / Einsatz in New Haven und Chicago

Von Martin Reischke

Chicago / New Haven

Langsam gleitet das Holz die Laderampe hinunter und verschwindet im Bauch des Schiffes. Dort wird die Ladung sorgfältig festgezurrt für die lange Reise. Es folgt die verderbliche Ware: Äpfel, Birnen und Kartoffeln, die von einem Drehkran auf Deck gehievt werden. Dann ist alles verladen, und das Schiff lichtet den Anker. »Da fehlen noch die Kisten mit dem Tee«, ruft William Bromage aufgeregt. Also nimmt seine zwei Jahre alte Tochter Emma das Schiff und schiebt es zurück in den Hafen. Sie greift sich einen Baustein und hebt ihn im Zeitlupentempo in die Luft. Dann lässt sie den Arm langsam wieder sinken und öffnet die Finger ihrer kleinen Hand: Der Baustein plumpst träge auf das Bootsdeck, der Tee ist verladen.

Jeden Freitag bringt der 29 Jahre alte Amerikaner mit den roten Haaren und den Sommersprossen seine Tochter nicht nur in den Kindergarten in New Haven, Connecticut, sondern bleibt auch gleich selbst mit da: baut Häfen aus Bauklötzen und belädt Schiffe, erzählt den Kindern eine Geschichte vor dem Mittagsschlaf und spielt mit ihnen draußen auf dem Spielplatz. »Co-Op-Kindergarten« nennt sich das Projekt, das ohne festangestellte Erzieher auskommt. Dafür verpflichten sich die Eltern der Kinder, jeweils vier Stunden pro Woche auszuhelfen. »So lerne ich nicht nur meine Tochter viel besser kennen, sondern auch ihre Freunde«, sagt Bromage. Soziale oder religiöse Grenzen gibt es hier nicht, Kinder und Eltern kommen aus der ganzen Welt. Studententöchter spielen mit Professorensöhnen, und die Kinder eines jüdischen Ehepaares toben zusammen mit dem Nachwuchs einer Quäkerfamilie über den Hof. Momentan werden hier Kinder aus acht Nationen betreut: Nicht nur amerikanische, israelische, argentinische und chinesische Mütter und Väter, auch Eltern aus Dänemark, Polen, Spanien und Ungarn bringen ihren Nachwuchs hierher.

Durch den Kurs quälen
Selbst wenn es sie offiziell nicht gibt: Die »Geschäftssprache« der Kinder untereinander ist Englisch. Erst am Nachmittag, wenn die Mütter und Väter ihren Nachwuchs auf spanisch, chinesisch oder dänisch begrüßen, bevor sie ihn wieder mit nach Hause nehmen, bricht ein heilloses Sprachengewirr aus. Viele der Kinder wachsen zweisprachig aufwährend sie sich mit ihren Freunden auf englisch unterhalten, wird in der Familie oft die Muttersprache der Eltern gesprochen. Auch Emma wird schon zwei Sprachen sprechen, noch bevor sie überhaupt in die Schule kommt. Bromage ist mit einer Dänin verheiratet, und während er sich durch einen Sprachkurs in Kopenhagen quälen musste, lernt Emma die Sprache ihrer Mutter ganz nebenbei.

Um seine Tochter in den Co-Op-Kindergarten schicken zu können, musste Bromage sogar seine Arbeitszeiten ändern. Jetzt arbeitet er jeden Montag zwölf Stunden, damit er freitags im Kindergarten aushelfen kann. Doch nicht nur die Arbeit wird geteilt. Auch bei den Kosten geht es zu wie in einer richtigen Genossenschaft. Großverdiener zahlen deshalb mehr als Mütter und Väter mit geringem Einkommen. Bromage beteiligt sich jeden Monat mit 270 Dollar an den Kosten der Kinderbetreuung. Das ist zwar nicht wenig, für ein privates Kindermädchen würde er jedoch ein Vielfaches bezahlen. Dass Bromage oder seine Frau Benedicta mit der Tochter zu Hause bleibt, ist auch nicht möglich: Während sie nach der Babypause ihr Studium beenden möchte, arbeitet er tagsüber im »Halfway House« in New Haven.

Als Sozialarbeiter im sogenannten »Extended Living Program« betreut er eine Gruppe von sieben Männern und Frauen mit mentalen Krankheiten. Er hilft ihnen beim Einkaufen, geht mit ihnen zum Arzt und achtet darauf, dass die Rechnungen pünktlich bezahlt werden. »Das sind alles einfache Dinge des täglichen Lebens, die sie jedoch ohne mich nicht machen könnten«, sagt Bromage. »Mein Ziel ist es, den Patienten zu helfen, ein selbständiges Leben zu führen«, fügt er hinzu. Das kann sehr lange dauern, und manche schaffen es vielleicht nie. Einige von ihnen aber, so glaubt Bromage, wird er zur Selbständigkeit begleiten, bis sie einmal in einer eigenen Wohnung leben. Wenn er sie dann besucht, kann er sich mit ihnen unterhalten wie mit normalen Leuten: über das Wetter, die Familie und das letzte Baseball-Spiel. Helfen hingegen muss er dann nur noch selten.

»Natürlich waren wir naiv«
Im »Halfway House« arbeitet Bromage erst seit zwei Monaten. Er ist Job-Hopper im Sozialdienst, die einzige Konstante bei seinen ständig wechselnden Beschäftigungen ist sein soziales Engagement. Angefangen hat alles vor zehn Jahren, als er begann, an einem College in Colorado Springs »Christentum und östliche Religionen« zu studieren. Gemeinsam mit einem Freund richtete er eine Suppenküche für Bedürftige ein. Auch seine Wohnung stand jederzeit den Obdachlosen offen. An langen Abenden diskutierte er mit Freunden über christliche Verantwortung, Nächstenliebe und Martin Luther King. »Natürlich waren wir damals etwas naiv, weil wir nur unsere Ideale kannten«, sagt Bromage. Doch auch wenn er in den vergangenen zehn Jahren vielleicht etwas pragmatischer geworden ist, seine Ideale aus der College-Zeit sind ihm bis heute nicht verlorengegangen.

Nach dem Studium lebte er für ein Jahr an der Westside von Chicago. Hier, wo Tausende Schwarze in Sozialwohnungen wie in einem Ghetto leben und sich das Konfliktpotential von Armut und Hoffnungslosigkeit in beinahe täglichen Schießereien entlädt, arbeitete er in einem Obdachlosenheim des Franziskanerordens. Später begleitete er den »Gang-Minister« Michael Cameron bei seiner täglichen Arbeit. Um den Hals das Kreuz und in der Hand eine Flasche mit Weihwasser, waren »Father Michael« und »Brother Billy« zusammen in Henry Horner und Rockwell Gardens unterwegs, zwei Schwarzen-Ghettos an der Westside von Chicago. Im Namen der katholischen Kirche stellten sie sich mitten in die Schusslinie, wenn der Konflikt zwischen den verfeindeten Gangs eskalierte. Oft konnten sie die Schießerei schon durch einige Gebete stoppen, denn an der katholischen Kirche kamen selbst die skrupellosesten Gang-Kriminellen nicht vorbei. Sie waren die einzigen Weißen im Ghetto und wurden von der Bevölkerung wie Heilige verehrt.

Sechs Monate lang war Bromage zusammen mit Cameron im Ghetto unterwegs, bevor er sich im Frühjahr 1999 endgültig von Chicago verabschiedete. Mit seiner dänischen Freundin Benedicta, die er während der gemeinsamen Arbeit im Obdachlosenheim kennen gelernt hatte, flog er nach Dänemark, wo kurz nach der Heirat Tochter Emma geboren wurde. Arbeit zu finden war nicht einfach, da er ohne ein Wort Dänisch nach Kopenhagen gekommen war. Also besuchte er einen Sprachkurs und machte das, was er ohnehin machen wollte: Er half in einer Suppenküche und arbeitete in einem Tageszentrum für dänische Obdachlose. »Natürlich war das ein riesiger Unterschied zu den Vereinigten Staaten«, sagt Bromage. »Wenn sich unsere Gäste abends verabschiedet haben, dann haben sie sich nicht zum Schlafen unter die Brücke gelegt, sondern sind in ihre staatlich finanzierte Sozialwohnung zurückgekehrt.« Durch sein Engagement begann sich auch die Familie seiner Frau stärker für die sozialen Probleme im eigenen Land zu interessieren. Zwar werde in Dänemark genügend Geld für die Versorgung der sozial Schwachen bereitgestellt. »Allein das Geld reicht jedoch nicht«, meint Bromage, »auch ein Wohlfahrtsstaat braucht Leute, die sich um die Schwachen der Gesellschaft kümmern und ihnen helfen

Trotz der guten Erfahrungen in Dänemark kehrte er im Frühjahr 2000 zusammen mit Frau und Tochter in die Vereinigten Staaten zurück. »Ich hänge eben an dem Land«, sagt Bromage. »Und wenn man Dinge verändern will, dann sollte man damit im eigenen Land beginnenJetzt lebt er mit seiner Familie in New Haven in einer kleinen Wohnung nahe der Innenstadt. Im Wohnzimmer liegt das Babyspielzeug wild verstreut. Unter dem Fenster ein Kinderbett, an der Wand ein paar alte Möbel, eine Stereoanlage. In der Küche stapeln sich drei Kisten: für Plastik, Papier und Restmüll. Und auf dem Herd kocht schon das Abendessen: Naturreis mit vegetarischem Gulasch, die Zutaten aus dem Reformhaus nebenan.

Bromage ist einer jener Menschen, die alles richtig zu machen scheinen und trotzdem hart sind gegen sich selbst. Die ihre Ideale leben und dennoch ein Leben lang Zweifler bleiben. Dass er nun eine eigene Wohnung hat und ein Auto, wenn auch ein altes, ist ihm fast ein wenig peinlich. Auch von der Idee, einmal im Ghetto irgendwo in den Bronx in New York City zu wohnen, hat er sich inzwischen verabschiedet. »Jetzt habe ich eine Familie, darauf muss ich natürlich Rücksicht nehmen«, meint Bromage.

Bis heute hat er nicht vergessen, dass er noch vor zwei Jahren wie die Franziskanermönche in vollständiger Armut leben wollte, auch wenn er sich nicht mehr strikt daran hält. Aber: »Ich verdiene nur so viel, dass ich jeden Monat die Miete zahlen und meine Familie ernähren kann«, meint Bromage. Auch einige Jobs kann und will er heute nicht mehr machen. Die Arbeit im Obdachlosenheim in New Haven hat er schnell wieder aufgegeben, weil er viermal in der Woche nachts nicht zu Hause warzu oft für einen Familienvater. Vor einem halben Jahr, als Gang-Minister Cameron an Krebs starb, war er in Chicago bei dessen Beerdigung. »Ich glaube, er hätte sich gewünscht, dass ich in seine Fußstapfen trete«, sagt Bromage. »Aber ich kann mich doch nicht jeden Tag in die Schusslinie stellen, wenn ich weiß, dass meine kleine Tochter zu Hause sitzt

Aussichtsloser Kampf
Also wird keiner Camerons Arbeit übernehmen, denn einen weiteren Kandidaten gibt es nicht. Wahrscheinlich wird auch die Mordrate in Henry Horner und Rockwell Gardens wieder ansteigen, nachdem sie jahrelang weit unter dem Durchschnitt Chicagos gelegen hat. Es ist ein aussichtsloser Kampf, der nicht zu gewinnen ist. Wer sich nicht auf die tägliche Arbeit konzentriert, sondern Verbesserungen oder gar Lösungen erwartet, ist schnell ausgebrannt. Das weiß auch Bromage. »Für mich ist Sozialarbeit kein Job, sondern eine feste Konstante in meinem Leben«, sagt er. »Ich weiß, dass es das Richtige für mich ist, und ich glaube, dass ich in den vergangenen Jahren besser darin geworden bin

Im Herbst will er zurück an die Uni, um seinen Master in Sozialarbeit zu machen. Was dann kommt, weiß er noch nicht. »Vielleicht werde ich einmal Leiter eines Obdachlosenheimes, oder ich gründe eine soziale Organisation«, sagt Bromage. Die Karriereleiter eines Sozialarbeiters. Jetzt hat er allerdings erst einmal andere Sorgen. Er schiebt das Schiff langsam in den Hafen zurück und legt an der Kaimauer an. »Wir brauchen wieder Äpfel, Birnen und Tee«, ruft Bromage, »Wo bleibt der KranDoch der Kran hat sich anders entschieden. Er steht auf, lässt sich die Gummistiefel anziehen und planscht nun mit Bromage durch die Pfützen auf dem Spielplatz vor dem Haus.


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