Es geschah alles an einem dieser typischen Abend. Man sitzt in seinem Zimmer, starrt an die Wand, steht auf, um sinnlos auf und ab zu gehen. Der Blick auf die Uhr, als würde man auf etwas warten. Tatsächlich könnte es so sein. Die Unruhe quält einen, und man wartet, wartet auf etwas, von dem man selbst nicht weiß, was es ist. Warten auf eine Person? Auf ein Ereignis? Auf die Situation, die das ungute Gefühl im Körper erklärt oder vielleicht sogar verschwinden lässt? Man schaltet sich etwas Musik ein, um sich abzulenken, bemerkt aber schnell, dass diese nur den Soundtrack zur Situation liefert. Unfähig, die Musik wieder auszustellen gerät man nun immer tiefer in den Strudel der Unausgeglichenheit. So würde, wie es aussah, auch mein Abend enden. Ich öffnete das Fenster, atmete die angenehm klare Abendluft und sah zum Nachthimmel hinauf. Etwas traurig musste ich an den Sternenhimmel über meinem Heimatdorf denken. Ich bedauerte, dass hier in der Stadt niemals richtig die Sterne zu sehen waren. Der Himmel ist in der Nacht stets erleuchtet. Ein orangefarbener Nebel, verursacht durch jede Straßenlaterne, verhindert die absolut ungetrübte Sicht hinauf ins All. Ich schloss das Fenster wieder, zog die Vorhänge zu und blieb in Gedanken an einen schöneren Sternenhimmel noch einige Zeit ruhig stehen. Plötzlich riss mich das Klingeln des Telefons aus meinen Träumereien. Ich wartete etwas, ließ es noch 4 Mal klingeln, bevor ich mich entschloss, abzuheben. War es dieser Anruf, auf den ich wartete? Ich meldete mich wie üblich mit einem schlichten „Hallo!“, um Fremden nicht zu viel über mich preiszugeben. Am anderen Ende der Leitung antwortete eine sanfte, mir unbekannte Frauenstimme mit einem ebenfalls schlichten „Hallo!“. Ich fragte, was ich für sie tun könne, doch sie schwieg. Ich wiederholte die Frage. Die Stimme im Telefon machte keinerlei Anstalten zu antworten. Sie war jedoch noch in der Leitung, das konnte ich am Atemgeräusch erkennen. Verwundert legte ich auf. Sie musste sich wohl verwählt haben! Meine Gedanken wollten zurück zum Sternenhimmel, da unterbrach der Ruf des Telefons alle Ansätze. Wieder ließ ich es 4 Mal klingeln. Dann hob ich ab. Diesmal schwieg ich, genau wie meine unbekannte Anruferin. „Was wollen Sie?“ fragte ich irgendwann etwas genervt. „Bleib bei mir!“ Die Stimme ließ sich ganz klar als die einer jungen Frau identifizieren. „Leg bitte nicht wieder auf!“, wimmerte sie halb flüsternd. „Ich will nicht alleine sterben!“ Ich erschrak, doch aus mir noch heute nicht nachvollziehbaren Gründen legte ich nicht auf. „Was haben sie?“, fragte ich. Ihre Antwort ließ mich vor Schreck erstarren. „Ich sehe dem Blut zu, wie es sich mit dem Wasser vermischt.“ „Wo befinden sie sich? Ich werde jemanden rufen, der Ihnen hilft.“ „Nein!“, beruhigte mich die Stimme. „Lass nur! Ich will keine Hilfe. Ich möchte nur nicht alleine gehen. Ich will, dass sich wenigstens einer an mich erinnert, wenn ich fort bin.“ „Bitte sagen Sie mir…“ „Nenn mich Lisa!“, unterbrach sie. Ihr Tonfall offenbarte eine eigenartige Zufriedenheit. „Sag mir wo Du bist, Lisa!“ Sie seufzte. „Dafür wäre es zu spät! Steh mir bei, statt mich aufhalten zu wollen. Ich bitte Dich!“ Völlig hilflos kam ich mir vor. Was sollte ich tun? Wie konnte ich ihr helfen? Eines war leider klar. Sollte sie sich etwas angetan haben, würde kein Krankenwagen oder Notarzt rechtzeitig bei ihr sein. „Gut, wie kann ich Dir dann helfen?“ „Es ist schön, zu wissen, dass alles bald vorbei ist. Aber ich fürchte mich ein Bisschen vor dem Tod. Sag, glaubst Du, dass danach etwas Besseres kommt?“ Darüber hatte ich mir nie richtig Gedanken gemacht. Es war mir immer gelungen, dieses Thema zu meiden. Trotzdem antwortete ich: „Ja, ganz sicher!“ Lisa lachte erleichtert. Ich hörte, wie ihr Atmen allmählich schwächer wurde. „Erzähl von Dir!“, hauchte sie. „Hast Du Kinder? Ich wollte immer Kinder haben.“ „Ja, eine Tochter. Sie ist jetzt 9.“ Ich musste daran denken, wie die kleine ruhig schlafend in ihrem Zimmer lag. Sie bemerkte nichts von diesem Telefonat, und sollte auch nie etwas davon erfahren. Im warmen Bett eingekuschelt träumte sie sicher von irgendwelchen Tieren, um die sie sich liebevoll kümmerte. „Sie möchte mal Tierärztin werden.“, fügte ich noch hinzu. Lisas Stimme wurde nun unheimlich kraftlos. Es schien, als konnte man spüren, wie das Leben langsam ihren Körper verließ. „Das ist schön…das ist…Hilf ihr, … ihre Träume wahr zu machen! Sie darf ihren Traum nicht verlieren! … niemals aufgeben! … den Traum….“ Plötzlich war alles still. Ein platschendes Geräusch hatte sie unterbrochen. Ich vermute, das Telefon fiel ihr aus der Hand. War es vorbei? War sie schon tot? Darauf sollte es nie eine Antwort geben. Möglicherweise verließ sie nur ihre Kraft. Sicher ist aber, dass sie in dem Fall auch nur wenige Minuten später eingeschlafen und dem Leben entronnen wäre. Nun zerschnitt die automatische Telefonansagestimme die Stille. „Ihre Verbindung wurde unterbrochen…“ Ich sackte zusammen, und begann erst da zu realisieren und zu verarbeiten. Als ich wirklich begriff, brach ich in Tränen aus. Den Rest der Nacht saß ich zusammengekauert an der Heizung und weinte. Vielleicht hätte ich mich ja für Lisa freuen sollen, vielleicht hätte mir das auch egal sein können. Immerhin wusste ich ja nicht mit Gewissheit, dass sich Lisa an diesem Abend das Leben nahm. Ich hätte schließlich auch Opfer eines morbiden Telefonstreiches sein können. Fakt ist jedoch, dass ich nur noch weinen konnte… Tränen aus Mitleid, Tränen der Trauer, Tränen der Hilflosigkeit. 2 Tage später las ich in der Zeitung von Lisa, die mit aufgeschnittenen Pulsadern in ihrer Badewanne starb. Es hieß, niemand habe es vorhergesehen, und nichts habe auf ihren wahren mentalen Zustand hingewiesen. Angehörige beschrieben sie als rund um glücklich. Sie ist nur 24 Jahre alt geworden! Ich rief in dieser Nacht weder Notarzt noch Polizei. Ich habe es auch sonst niemals jemandem erzählt, bis heute! In Erinnerung an Lisa!
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