Tal der Todesschatten
Katja Seefeldt 04.03.2003
Todesstrafe und katastrophale Haftbedingungen - Vom "kriminellen Straflager,
das Russland heißt"
Die russische Justizia ist bekanntlich nicht zimperlich. Auch die Todesstrafe ist nur de
facto abgeschafft, im Strafgesetzbuch existiert sie noch immer und im Volk hat sie mehr
Anhänger als Gegner. Als Vorsitzender der Begnadigungskommission war der
Schriftsteller Anatolij Pristawkin lange Jahre Herr über Leben und Tod. In einem Buch
über seine Tätigkeit hat er mit dem unbarmherzigen russischen Justizsystem
abgerechnet.
Am 4. Juni 1999 hatte der damalige russische Präsident Boris Jelzin alle anhängigen
Todesurteile in Haftstrafen umgewandelt und ein Moratorium zur Vollstreckung der
Todesstrafe erlassen. Mit diesem Dekret wollte er das Parlament dazu bringen, die
Höchststrafe abzuschaffen. Ein entsprechender Gesetzesentwurf lag der Staatsduma vor, seit
Russland im Januar 1996 dem Europarat beigetreten war und sich zur Abschaffung der
Todesstrafe verpflichtet hatte.
Auch das russische Verfassungsgericht erklärte die Verhängung der Todesstrafe wenig später
für verfassungswidrig. Nach Artikel 20 der Verfassung der Russischen Föderation ist die
Todesstrafe im Prinzip zwar zulässig, sie darf allerdings nur von einem Geschworenengericht
ausgesprochen werden und die gab es 1999 landesweit nur in 9 der insgesamt 86 russischen
Verwaltungseinheiten.
Die letzte Hinrichtung wurde in Russland am 2. September 1996 vollzogen, aus den
Todeskandidaten wurden 1999 die Ewigen, aus der Todesstrafe ein lebenslänglich - was auf
Russisch 25 lange Jahre bedeutet. Doch mit der endgültigen Streichung der Höchststrafe aus
dem Strafgesetzbuch tut sich das Land schwer. Erst im vergangenen Dezember hat der
Europarat Russland erneut gemahnt. Und auch Präsident Wladimir Putin hat sich mehrfach und
in schönen Worten gegen alle Initiativen zur Wiedereinführung der Todesstrafe
ausgesprochen, doch der Prozess kommt nicht voran. Bislang scheiterten alle Vorstöße am
Parlament und an der öffentlichen Meinung. Regelmäßig fordern Duma-Abgeordnete die
Wiedereinführung der Höchststrafe und wenigstens in dieser Sache haben sie das Volk auf
ihrer Seite: Bei Umfragen plädieren im Schnitt rund 80 Prozent der Befragten für die
Beibehaltung der Todesstrafe, 40 Prozent würden sogar öffentliche Hinrichtungen begrüßen.
Am lautesten melden sich die Befürworter nach spektakulären Mordfällen oder Ereignissen in
die faktisch oder auch nur mutmaßlich Tschetschenen verwickelt sind. Jüngstes Beispiel war
die Geiselnahme in dem Moskauer Musik-Theater Ost-West. Eine sachlichere Diskussion zum
Thema gibt es nicht. Angesichts der gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Probleme, die
das Leben in Russland beherrschen, sperrt sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen jede
differenziertere Betrachtung.
Aber vielleicht ist die Todesstrafe noch nicht einmal das Schlimmste, betrachtet man die
katastrophalen Verhältnisse in den russischen Gefängnissen. Fast eine Million Häftlinge sitzen
derzeit ein, mehr als die Hälfte aller europäischen Häftlinge zusammen. Die Erklärung findet
sich beim Hinsehen: Bereits 14-Jährige werden für Nichtigkeiten eingesperrt. Um drei, vier
Jahre hinter Gittern zu landen - der Durchschnitt in Russland - reicht schon der Diebstahl
eines Fernsehers. Für die Begnadigten bedeutet ihre lebenslängliche Strafe ein sicheres und
qualvolles Sterben auf Raten, denn die grausamen Haftbedingungen überlebt fast keiner.
Einer kennt die Abgründe des russischen Gefängnis- und Justizsystems wie kein anderer:
Anatolij Pristawkin, 71, der von 1992 bis 2001 Vorsitzender der russischen
Begnadigungskommission war und heute Putins Berater für Begnadigungen ist. Er hat die
Gerichtsakten und Briefe Verurteilter studiert, eine Arbeit, die ihn »fast um den Verstand«
brachte, wie er in seinem vor kurzem auf deutsch erschienenen Buch Ich flehe um Hinrichtung
(russ. Titel: Dolina Smertnoj Teni, Tal des Todesschattens) berichtet. Durch jährlich 6.000
bis 7.000 Fälle musste die Kommission sich quälen, darunter auch die gelben Kartonmappen
mit dem großen roten Buchstaben E darauf - E für Erschießung.
Antatolij Pristawkin
Pristawkin und seine Kommission wurden mit entsetzlichen Straftaten konfrontiert - mit
unvorstellbar grausamen Handlungen, in denen sich sinnlos rasende Gewalt manifestiert. Er
spricht von 30.000 Morden, die sich jährlich in Russland ereignen und deren Ursachen:
»epidemischer Suff« und Arbeitslosigkeit. Katastrophal beengte Wohnverhältnisse tun ein
Übriges. Das typische Muster russischer »Alltagskriminalität« passt in drei kurze Sätze:
Zwei tranken ... Der Mann äußerte sich unzufrieden über das von ihr bereitete
Essen. Sie nahm ein Küchenmesser und tötete ihn.
Es sind Taten verübt von Menschen, die keine Perspektive besitzen.
Meine persönliche Statistik, die ich für mich führe, um mein Volk besser zu
verstehen, besagt, dass mehr als die Hälfte der arbeitsfähigen russischen
Bevölkerung noch nie gearbeitet hat. Das sind Angaben der Miliz, genauere gibt es
nicht. Und etwa die Hälfte arbeitet auch nur gelegentlich: als Hilfskraft, Lastträger,
Wächter im Kindergarten. Die Arbeitenden sind hauptsächlich Frauen. Nach meinen
Berechnungen beträgt die Gesamtzahl derer, die mehr oder weniger regelmäßig
arbeiten, höchstens 20 Prozent.
Eine schier unendliche Spirale der Gewalt tut sich auf, wo Hass, Intoleranz und Feindschaft
zur »nationalen Mentalität« geworden sind. Ein trister Alltag produziert grausame
Gewalttaten, denen ebenso grausame Strafe folgt. Pristawkin spricht vom "kriminellen
Straflager, das Russland heißt".
Wir leben in einem Land, in dem Gefängnishaft eine wesentliche Daseinsform ist.
Laut Statistik, die bei uns gern heruntergespielt wird, sind 15-20 Prozent der
Bevölkerung Russlands durch die Gefängnisse gegangen. Jeder fünfte! In einer
Familie von fünf Personen hat demnach schon einer gesessen.
Der Umgang mit Kriminalität spiegelt nach Pristawkin den derzeitigen Zustand des Landes
und er sucht eine Erklärung dafür, warum in Russland so erbarmungslos gestraft und
weggesperrt wird, und man am liebsten sofort hinrichten würde. Er prangert
faschistisch-stalinistische Verhörmethoden an, mit denen die Polizei willkürliche Fälle
produziert und die Verwahrung im Gefängnis, die Erniedrigung und Zerstörung der
Individualität bedeutet. Immer wieder taucht da die Frage auf, ob die Todesstrafe nicht
eigentlich »humaner« ist, denn in vielen Briefen flehen Inhaftierte um ihren Tod.
Die tiefere Ursache für den Zustand der russischen Gesellschaft sieht er im "grausigen
Menschheitsirrtum von Lenin und Stalin" und in der jahrhundertelangen Unterdrückung davor.
Im Bolschewismus wurden allen humanitären Tugenden für hinfällig erklärt und durch die
bedingungslose Treue zum Sowjetsystem ersetzt. Werte wie Mitgefühl und Barmherzigkeit
waren darin nicht vorgesehen.
Der Kampf der Gnadenkommission war nicht nur ein Kampf gegen die Todesstrafe und die
Willkür der Justiz, sondern auch das harte Ringen um eine eigene Definition von Gut und
Böse, um den Verurteilten zumindest eine Spur von Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. In
seinem Buch geht Pristawkin hart mit Russland ins Gericht und doch offenbart sich gerade
darin ein leidenschaftliches Bekenntnis zu seinem Volk.
Das Strafen geht weiter und das Thema Todesstrafe ist nicht aus der Welt. Die Etablierung
von Geschworenengerichten dürfte spätestens im Frühjahr abgeschlossen sein, womit der
verfassungsgemäße Rahmen für den Vollzug der Todesstrafe hergestellt wäre. Obendrein
befindet sich Russland am Beginn einer Zeit der Wahlkämpfe: Im Dezember wird die Duma
gewählt, im kommenden März der Präsident. Da macht sich Milde mit Straftätern überhaupt
nicht gut.
Buch: Anatoli Pristawkin, Ich flehe um Hinrichtung, Luchterhand Literaturverlag, 384
Seiten, 24 Euro
Kommentare:
danke für den Artikel (Deine Grosse Schwester, 4.3.2003 1:53)
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last modified: 28.02.2003
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