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Rufus schrieb am 14.11. 2003 um 08:26:04 Uhr über

Tätervolk

Aus dem Spiegel.

Lieber Täter als Opfer

Der Fall Martin Hohmann und das vergebliche Bemühen, Antisemitismus durch Aufklärung bekämpfen zu wollen.
Von Henryk M. Broder

Anfang der zwanziger Jahre erschien im Berliner Philo-Verlag ein kleines Buch als Loseblattsammlung in einem kartonierten Schuber: Der »Anti-Anti; Tatsachen zur Judenfrage«, herausgegeben vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens e. V.
In 78 alphabetisch angeordneten Kapiteln wurden die damals populärsten Ansichten über die Juden erörtert und als Vorurteile entlarvt. Das erste beschäftigte sich mit dem »Antisemitismus« (»Der Jude als Sündenbock«), das letzte mit der Kampfparole »Zersetzendes Judentum«.
Dazwischen ging es um Fragen wie »Bolschewismus - Juden und Sowjetrußland«, »Kapital - schaffendes und raffendes« und »Nietzsche und die Juden«. Erfüllt von dem Glauben, man könne antisemitische Propaganda faktisch widerlegen, erörterten die Herausgeber des »Anti-Anti« sogar die absurdesten antisemitischen Wahnvorstellungen wie die Ritualmordlegende: »Das Unsinnige dieser Beschuldigung liegt darin, dass gerade den Juden von alters her durch ihre Religionsgesetze jeglicher Blutgenuss, selbst der des Tierblutes, auf das Allerstrengste verboten ist
Der »Anti-Anti« erlebte sieben Auflagen, die letzte erschien 1933. Rückblickend weiß man, wie erfolgreich das Bemühen war, antisemitische Ansichten durch Argumente aus der Welt zu schaffen. Ähnlich effektiv ist nur noch der Versuch, Raucher von der Schädlichkeit des Tabakkonsums zu überzeugen.
Kürzlich ist das neue Buch von Paul Spiegel erschienen: »Was ist koscher? Jüdischer Glaube - jüdisches Leben«.
Über 70 Jahre nach dem »Anti-Anti« unternimmt nun auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland den Versuch, Nichtjuden das Judentum zu erklären. Spiegel, ein lieber und gemütlicher Rheinländer, der stolz darauf ist, dass sein Vater Schützenkönig im heimischen Warendorf war, hat in einem Interview mit »Bild« gesagt, dass »die meisten nichtjüdischen Menschen ... wenig darüber wissen, was die Bräuche« der Juden bedeuten. Deshalb gebe es »so viele Vorurteile gegenüber Juden«.
Auch Spiegel ist also der Meinung, Vorurteile seien eine Folge unzureichenden Wissens, man müsse diesem Mangel nur fleißig abhelfen, um Vorurteile zu beseitigen. Er hat den »Anti-Anti« vermutlich nie in der Hand gehabt. Wahrscheinlich weiß er nicht einmal, dass es ihn gab, sonst hätte er sein Buch nicht geschrieben.
Er kennt wohl auch nicht die vielen Bücher, die im Laufe der letzten 50 Jahre geschrieben wurden, in denen sich Juden an Nichtjuden wenden, um ihnen zu erklären, wie das Judentum funktioniert und wie die Juden sind. Dass es nicht nur kleine Juden mit dunklen Augen und krummen Nasen gibt (Spiegel in »Bild«: »So werden wir seit Jahrhunderten von Antisemiten dargestellt«), sondern auch blonde und große. Spiegels Buch ist ordentlich geschrieben, und es steht nichts Falsches drin. Es ist nur vollkommen überflüssig - wie alle Bücher, die mit Vorurteilen aufräumen wollen.
Es ist nämlich ein Vorurteil, anzunehmen, dass Vorurteile mit Informationen bekämpft werden können. Wäre es so, dürfte es keine Vorurteile mehr geben - nicht in der Informationsgesellschaft, in der jeder Mann und jede Frau jederzeit jede Information abrufen kann.
Was den Antisemitismus angeht, verhält es sich sogar umgekehrt. Viele Antisemiten wissen über Juden Bescheid, sie können mühelos die lange Reihe jüdischer »Asphaltliteraten« und Nobelpreisträger aufsagen, sie wissen, wer Halb- und wer Vierteljude war, wer einen Juden oder eine Jüdin geheiratet hat und wer zum Christentum konvertiert ist, um dem Judentum und dem Judenhass zugleich zu entkommen.
Ruft man den Namen »Einstein« in die Menge, denkt ein normaler Mensch an die Relativitätstheorie oder das gleichnamige Caféhaus in Berlin, nur der Antisemit assoziiert sofort »JudeSagt man »Jaffa«, fällt ihm nicht der Orangensaft, sondern die »zionistische Besatzung Palästinas« ein - und wenn der Antisemit »Hollywood« hört, dann muss er gleich kotzen, weil im Filmgeschäft (es stimmt ja wirklich) Juden eine große Rolle spielen.
Nur in einem Punkt liegt der Antisemit mit seinem »Wissen« vollkommen daneben: Er ist überzeugt, dass Juden besonders intelligent sind, intelligenter als Nichtjuden. Sie sind es nicht. Wären sie es, hätten sie längst damit aufgehört, sich den Nichtjuden gegenüber zu erklären und zu rechtfertigen.
Vieles spricht sogar dafür, dass Juden als Kollektiv dümmer sind als Nichtjuden, weil sie nicht begreifen können oder wollen, dass sie mit ihren didaktischen Nettigkeiten gegen den Furor der Antisemiten nichts auszurichten vermögen. Im Gegenteil, sie reizen die Antisemiten umso stärker, je mehr sie sich Mühe geben, sie zu besänftigen. Dazu gehört auch, dass Juden sich gern als Opfer darstellen. Was historisch richtig ist, aber in der Gegenwart zu völlig absurden Verrenkungen führt.
Kommt ein israelischer Minister zu Besuch nach Deutschland, um über den Verkauf von israelischer Software und den Ankauf deutscher Waffen zu verhandeln, eilt er als Erstes nach Dachau, Sachsenhausen oder Buchenwald, um dort einen Kranz niederzulegen und ins Gästebuch »Nie wieder Holocaustzu schreiben. Fährt ein deutscher Minister nach Israel, wird er, kaum dass er gelandet ist, nach Jad Waschem geschleppt, um das Bekenntnis abzugeben, dass sich der Holocaust nicht wiederholen darf.
Es sind peinliche, geschmacklose und sinnfreie Rituale, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben.
Wer sich als Opfer präsentiert, lädt die Täter geradezu ein, es noch einmal zu versuchen. Das gilt nicht nur für Juden und Antisemiten. Es ist kein Zufall, dass rechte Schläger ihre Wut an Obdachlosen, Alten und Schwachen auslassen. Hat man je von einem Fall gehört, dass eine Skin-Bande einen gut durchtrainierten Sportler malträtiert hätte, der allein durch seine körperliche Verfassung signalisiert: Wer sich mit mir anlegt, der landet in der Notaufnahme?
Ein Opfer zu sein ist gefährlich; darauf zu bestehen, dass man ein Opfer bleiben will, noch gefährlicher.
Immer wieder um Hilfe zu bitten und an das Verständnis der Mitmenschen zu appellieren führt nur dazu, dass die Adressaten solcher Appelle irgendwann genervt reagieren. Als Opfer steht man nicht nur dumm da, man riskiert auch sein Leben. Als Täter dagegen hat man nicht nur mehr Spaß, sondern auch eine bessere Lebenserwartung.
Mahatma Gandhi und Martin Luther King, zwei Apostel der Gewaltlosigkeit, wurden ermordet. Idi Amin, Pol Pot und Ajatollah Chomeini starben eines natürlichen Todes im fortgeschrittenen Alter. Leni Riefenstahl ebenso. Während die meisten der Zigeuner, die sie sich für einen ihrer Filme »ausgeliehen« hatte, das Kriegsende nicht erlebten.
Womit wir bei dem hessischen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann wären, der mit seiner Bemerkung, die Juden seien ein »Tätervolk«, für den größten Skandal seit Jürgen W. Möllemanns NRW-Flyer gesorgt hat.
Hohmann ist ein Schnellmerker. Nur 86 Jahre nach der russischen Revolution ist ihm aufgefallen, dass Juden unter den Bolschewiken überrepräsentiert waren. Er hat ein obskures Buch gelesen, aus dem er ausgiebig Namen und Zahlen zitiert. Mehr hat er nicht anzubieten.
Wenn er im selben Tempo weitermacht, wird er in 40 bis 50 Jahren entdecken, dass Juden auch in anderen Disziplinen verhältnismäßig oft vorkommen - bei den Revolutionären und den Reaktionären, bei den Kapitalisten, den Kommunisten und den Komponisten; sogar unter den Armen in Osteuropa nahmen sie vor 1939 eine führende Stellung ein.
Hohmann kämpft seit langem um einen Platz an der Sonne, aber erst jetzt hat er die Bekanntheit erreicht, um die er sich so lange vergeblich bemühte. Er ist eben kein Opfer, er ist ein Täter, wenn auch kein besonders intelligenter. Nie käme er auf den Gedanken, die Georgier als ein »Tätervolk« zu bezeichnen, obwohl Stalin ein Georgier war und viele Freunde und Verwandte in wichtige Positionen brachte.
Dass die Isländer derzeit in der Literatur, in der Musik, im Fischfang und auch im Bankengeschäft viel stärker vertreten sind, als es ihrem minimalen Anteil an der europäischen Bevölkerung entspricht - auch das stört ihn nicht. Nur ein paar jüdische Bolschewiken machen aus den Juden ein »Tätervolk«. Es ist eine »Tatsache«, die er »nicht als Vorwurf, sondern nur als Feststellung« verstanden wissen möchte.
So paraphrasiert er einen Tatbestand, der noch simpler ist als sein Gemütszustand: Je unschuldiger die Deutschen im Laufe ihrer Geschichte werden, desto schuldiger werden die Juden - vorgestern als Bolschewiken in Russland, heute als Zionisten in Palästina. Es findet ein historischer Lastenausgleich statt, bei dem die Deutschen nur gewinnen, die Juden nur verlieren können.
Hohmanns Gerede vom »Tätervolk« gehört zu jenen Konstruktionen, die so falsch sind, dass nicht einmal das Gegenteil wahr ist. Man schämt sich, die Binsenweisheit auszusprechen, dass es kein »Tätervolk« gibt. Aber: Es gibt Opferkollektive, die Juden, die Zigeuner, die Armenier, die Palästinenser. Und es gibt den Wunsch der Juden, nicht mehr Opfer sein zu wollen. 2000 Jahre lang Prügelknabe zu sein ist mehr als genug.
Sollen sie also beschließen: »Wir sind von jetzt an die Täter, und wir sind es gern. Wer sich mit uns anlegt, der wird seiner Tage nicht mehr froh«? Sollen sie sich aufführen wie die Koreaner, die mit ihrem Atompotenzial drohen, um ernst genommen zu werden? Schon möglich, dass ein solcher Beschluss viele Antisemiten beeindrucken und Leute wie Hohmann sprachlos machen würde. Aber das wichtigste Problem, der Konflikt mit den Palästinensern, wäre damit nicht gelöst. Denn auch die Palästinenser sind ihre Opferrolle leid und wollen als Täter anerkannt werden, egal um welchen Preis.
Die Juden in der Diaspora haben noch weniger Möglichkeiten, aus der historischen Rolle der Opfer herauszutreten. Für den Anfang wäre schon viel erreicht, wenn sie aufhören würden, sich zu erklären und zu entschuldigen, den »Anti-Anti« fortzuschreiben, nur um die Antisemiten zu besänftigen. Der Zentralrat könnte zum Beispiel, statt die Justiz wie im Falle Hohmann anzurufen, die Beziehungen zur CDU einfrieren, solange die Partei ihren Abgeordneten nicht ausschließt.
Ein wenig Aggression statt höflicher Regression wäre das richtige Mittel. Keine Ideallösung, aber besser und überzeugender als jede Antwort auf die Frage: »Was ist koscher




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