Am Rand des Parks entdeckte er einen Springbrunnen. Vor einer Mauer befand sich ein geschwungenes Becken, aus dem eine Fontäne senkrecht nach oben spritzte. Beiderseits der Fontäne befanden sich in der Mauer zwei Ausbuchtungen, aus denen ebenfalls Wasser strömte.
Als er den Springbrunnen betrachtete, fiel ihm auf, dass er an ein Gesicht erinnerte. Der geschwungene Beckenrand formte den Mund, die Fontäne die Nase, und die beiden Ausbuchtungen in der Mauer waren zwei Augen, aus denen unentwegt das Wasser floss. Der Brunnen weinte. Es war nichts zu sehen, was irgendwie beweinenswert gewesen wäre, die Sonne strahlte von einem wolkenlosen Himmel, fröhlicher Vogelgesamg erfüllte die grünen Parkbäume, und überhaupt war es ein herrlicher Tag. Aber all dies schien den Brunnen nicht aufzumuntern. Es musste eine tiefe Trauer sein, die dem Brunnen die Tränen in Strömen aus seinen steinernen Augen laufen ließ.
Das Bild des weinenden Brunnens bedrückte ihn. Hatte der Architekt des Brunnens nicht gemerkt, was er da schuf? Oder war es vielleicht gar nicht geplant gewesen, dass auch aus der Mauer das Wasser floss? Das wäre eine Möglichkeit. Vielleicht sollte ursprünglich nur die Fontäne spritzen, aber das Wasserrohr hinter der Mauer war undicht geworden, und so floss dem Brunnen nun das Wasser aus den Augen. Dem Brunnen waren ungeplant die Tränen ausgebrochen. Das ergab einen Sinn, denn niemand beschließt, zu weinen. Es passiert einfach.
Aber was war es, worüber der Brunnen so traurig war? War es die Tatsache, dass er etwas abseits am Rand des Parks stand? Aber auch hier kamen viele Menschen vorbei, die den Brunnen sahen. Aber als er die vorbeigehenden Menschen betrachtete, bemerkte er, dass sie den Brunnen kaum beachteten. Und selbst die wenigen, die ihm mehr als einen flüchtigen Blick schenkten, schienen sein wahres Wesen nicht zu erkennen. Anderenfalls wären sie nicht weiterhin so fröhlich angesichts des weinenden Brunnens.
Und so begriff er, warum der Springbrunnen weinte. Der Grund seiner Trauer war, dass er nicht die Beachtung bekam, die er verdiente. Wer kümmerte sich schon darum, wie sich der Springbrunnen fühlte? Sicher, die Parkverwaltung achtete darauf, dass er immer schön aussah, aber um sein Innenleben scherte sie sich offenbar nicht. Sonst hätten sie bestimmt schon das undichte Rohr ausgetauscht. Der Brunnen hatte also allen Grund, traurig zu sein.
Doch so leid ihm der Brunnen tat, er musste weiter. In wenigen Stunden ging sein Flieger nach Hause. Es machte ihn traurig, dass der letzte Tag seines Urlaubs von einem weinenden Brunnen geprägt war, und noch im Flugzeug dachte er noch an den Brunnen, dessen Trauer andauern würde. Seine Tränen würden fließen, bis sie im Herbst versiegten, weil das Wasser im Winter abgedreht würde. Und vermutlich war seine Trauer im Winter noch größer, denn da kamen ja noch weniger Leute in den Park, die ihn wenigsten kurz beachteten. Vermutlich war es auch ein Winter, in dem ihn die Trauer überfallen hatte. Vielleicht hatte ihn ein Parkmitarbeiter im Herbst vergessen und nicht abgedreht, und im Winter war dann das Rohr geplatzt. Aufgrund dieser Vernachlässigung war der Springbrunnen in Melancholie verfallen, und sobald es taute, begann er zu weinen. Das war vermutlich schon vor vielen Jahren passiert, und seither weinte der Brunnen Jahr um Jahr vom Frühjahr bis in den Herbst, ohne dass es jemanden wirklich kümmerte.
Auch in den nächsten Tagen ließ ihn die Erinnerung an den weinenden Springbrunnen nicht mehr los. Er konnte sich nicht mehr auf seine Arbeit konzentrieren, er vernachlässigte auch sein Privatleben, sondern er dachte nur immer an den Springbrunnen und seine Tränen. Er verlor seinen Arbeitsplatz, aber er nahm es kaum noch wahr, denn seine Gedanken waren vom Springbrunnen vollständig belegt. Er verfiel selbst in eine Depression, weil er dem Springbrunnen nicht helfen konnte.
Dann, als sein Kontostand bereits gefährlich tief gesunken war, fasste er schließlich einen Entschluss. Er kaufte ein Flugticket und stieg in den nächsten Flieger. Angekommen, lief er gleich zur Parkverwaltung und fragte, ob er eine Stelle als Springbrunnen-Pfleger haben könnte. In der Tat stellte sich heraus, dass diese Stelle schon seit Jahren vakant war, da niemand diesen eher niederen Job machen wollte. So wurde er sofort angestellt. Es stellte sich heraus, dass seine Theorie nahezu korrekt war. Nur dass eben nicht vergessen wurde, das Wasser abzudrehen, sondern es war einfach die Aufgabe des Springbrunnen-Pflegers, und niemand anderes fühlte sich zuständig, und so wurde das Wasser der Brunnen nie abgedreht.
Diesen Herbst würde das anders sein. Aber als erstes ließ der neue Springbrunnen-Pfleger das kaputte Rohr reparieren, und seither musste der Springbrunnen nie wieder weinen.
|