»Die HO-Speisegaststätte «Fortschritt", die wegen Baufälligkeit gesperrt ist, schauen wir uns von hinten an. Der Lehm bröckelt zwischen dem Weidengeflecht der Wände. Die Nachbarhäuser sind schon abgerissen. Wenn eine Wand fiel, stürzten gleich mehrere Häuser ein.
(...)
Dann wird beraten, wie die Speisegaststätte neu gebaut werden kann, ohne daß sie neu gebaut wird. Es gibt vom Bezirk kein Geld für einen Gaststätten-Neubau, nur eine »Renovierung« konnte planmässig eingeordnet werden. Aber wenn man einen 10er Nagel zum Zwecke der Renovierung in die Balken schlagen wollte, würde der Küchentrakt vom »Fortschritt« wahrscheinlich einstürzen.
Vorschlag der Bauleute: Von hinten »renovieren«, ein Stück abreissen (von der Strasse aus sieht man das nicht), ein Stück aufbauen, wieder ein Stück abreissen, aufbauen - so lange, bis nur noch die vordere Fassade stände, und die müsste dann in aller Eile abgerissen und neu gemauert werden. Und die neue Gaststätte wäre fertig, ohne daß sie im Plan als Neubau erscheinen müßte.
HDF (der 1. Kreissekretär der SED) zweifelt an der technischen Möglichkeit, ausserdem sei ein kurzer Beschiß allemal möglich, aber so viel Monate Angst, daß keiner hinter die Fassade schaue, das werde der Rat nicht durchstehen. Lieber die Karten auf den Tisch !"
Aus: Landolf Scherzer, »Der Erste«, Berlin, Aufbau-Verlag, 1988 - zit. nach der 7. Auflage 2002, S. 135 f
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