RSTE EINBLICKE IN TANPINARS LITERARISCHES UNIVERSUM
Eine mysteriöse Liebesgeschichte, die an einem Sommertag, dank eines heftigen Sommergewitters ihren Lauf nimmt, wird zu einer Zeitreise und führt bis ins Istanbul des untergehenden Osmanischen Reichs zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts zurück. So magisch die intensiven Gefühle die männliche Hauptfigur Sabri in die Arme der geheinmisvollen Schönen treiben, die eines Tages im tobenden Sommerregen im Garten seines Hauses steht, so sehr ist diese Geschichte auch ein subtiles Eintauchen in eine untergehende Weltvorstellung, in die verklungenen Märchen einer alten Kultur, die zusammen mit ihren letzten Vertretern endgültig aus den Erinnerungen verschwindet, unwiderruflich ausgelöscht wird.
War diese Welt gut oder böse? Auf diese wertende Frage läuft die Erzählung gar nicht erst hinaus, eine solche Gegenüberstellung erwartet man von diesem Autor umsonst. Was er dagegen zeigt, ist, dass jede Welt und jede Vorstellung von ihr in den Menschen selbst lebt. Die Welt lebt in den Menschen, in ihrem Denken und Fühlen. Deshalb behauptet Ahmet Hamdi Tanpınar: “Die Geschichte ist der Mensch.”
Tanpınar sieht den Menschen zweigeteilt, als den “inneren” und den “äußeren” Menschen, als konsequente Folge einer zweigeteilten Welt, deren Pole nicht zueinander finden - ein Gedanke, der uns seit der griechischen Antike nicht ganz fremd ist. Der innere Mensch, also die Vorstellungen, Gedanken und Gefühle, bleiben weitestgehend unsichtbar, höchstens erahnbar, und am besten in der Kunst zu veranschaulichen, oder in der Mystik zu leben. Währenddessen kann der äußere Mensch nur innerhalb der Grenzen der Wahrnehmung des “anderen”, auf den Koordinaten der Weltvorstellung des Betrachters realisiert und gewertet werden. Wenn schon die Zweiteiltheit des Einzelnen unüberwindbar erscheint, ist dann die Zweigeteiltheit zweier Menschen nicht völlig aussichtslos? Wie ist dann die Welt, die auf dieser Zweigeteiltheit basiert? Tanpınar lässt in dieser Erzählung den Leser erahnen, vor welchen gewaltigen und ursprünglichen Kräften der Natur das Leben stattfindet, welche geheime Energien die Geschicke lenken.
”Wenn man hinter die Kulissen der - geradezu im antiken Sinne klassisch - erzählten Geschichte zu schauen beginnt, wird deutlich, dass die erwähnte »Zweigeteiltheit der Welt« auf einigen Ebenen zum Tragen kommt. Als erste Ebene sticht gleich die Hauptfigur Sabri ins Auge, die mit zwei Figuren aus den traditionellen Karagözspielen Zwiegespräche hält. Nicht nur er ist also »gespalten«, sondern auch diese Figuren, die Gegenteiliges symbolisieren - der eine klug und gebildet, der andere dumm und derb -, deuten die Geteiltheit an. Die Gegenspielerin und zweite Hauptfigur ist ebenfalls seit ihrer Kindheit eine gespaltene Persönlichkeit. Beide Hauptfiguren wissen um ihre eigene Spaltung und tragen diese als ihre unausweichliche Lebensform in und mit sich.
Zwei klassische Elemente spielen in der Erzählung eine tragende Rolle: das Wasser und das Feuer. Das Wasser ist ständige Kulisse, als heftiger Sommerregen und in verschiedenen Formen als Meer. Aber sogar dieses Element erfährt eine Zweiteilung, als Wasser gegen Wasser kämpft, der Regen gegen das Meer, und etwas Vernichtendes hervorbringt. Das Feuer hingegen erfüllt seine Aufgabe und vernichtet: die alte Kultur, mit der zusammen ein kulturelles Universum verglüht. Angesichts dieser vernichtenden Spaltungen in Mensch, Natur und Gesellschaft, sowie der Wirkungen der Elemente, weist die als Epilog geäußerte Selbstkritik der Hauptfigur, nämlich lediglich sich selbst unter Kontrolle halten zu wollen, auf die gebrochene, egoistische Haltung der letzten Vertreter einer untergehenden Welt.
Die Geschichte ist der Mensch.”
”Die Geschichte ist der Mensch” - hatte Tanpınar gesagt, und das lebte er nicht nur, das schrieb er auch - das könnte auch das Motto des Bandes Sommerregen sein. Auf jeden Fall ist dieser Satz der Schlüssel zu seinen Erzählungen, die hier zusammengestellt sind. Die türkische Originalausgabe Yaz Yağmuru (Sommerregen) enthält sieben Erzählungen. Bis auf die titelgebende Erzählung wurden zuerst alle andere in Zeitungen oder Zeitschriften publiziert und posthum zu einem Band zusammengestellt. In die vorliegende deutsche Erstausgabe haben wir aus diesem Erzählband sechs Erzählungen aufgenommen: Sommerregen, Das Herrenhaus in Acibadem, Die Träume, Adam und Eva, Eine Bahnreise sowie Sommernacht. Die Erzählung Kapitulation ist in einer Anthologie unter dem Titel Türkische Erzählungen des 20. Jahrhunderts im Jahre 1992 im Insel Verlag erschienen. An ihrer Stelle nahmen wir die Erzählung Die Wahrsagerin auf, die erstmalig 1991 in einem Erzählband veröffentlicht wurde.
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