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Der liebe Junge von nebenan schrieb am 15.10. 2008 um 19:44:32 Uhr über

Sol-Geborene

Er sah auf den Bildschirm, auf dem er Alina sehen konnte. Sie war - entgegen ihren Vorsätzen - eingenickt.

»Ich muß noch einmal mit diesem Polizeibeamten redensagte er zu Wolke.

Sie zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts, sondern stellte die Verbindung her.

»Was gibt'sfragte der Gäaner müde.

»Ich brauche ein paar Auskünfte«, erklärte Mike. »Ich weiß nicht, ob ich damit bei Ihnen an der richtigen Adresse bin...«

»Worum handelt es sich

»Nun - haben Sie auf Gäa so etwas wie eine Raumflotte?«


Der Polizist lachte.

»Ja«, sagte er. »Was dachten Sie denn

»Nach welchen Kriterien werden die Raumfahrer ausgewählt

Der Polizist schien zu überlegen.

»Es gibt verschiedene Aspekte«, murmelte er schließlich.

»Wenn Sie mir einen Anhaltspunkt geben könnten...«

»Es handelt sich um meinen Sohn. Er ist technisch sehr begabt, aber er hat einen wunden Punkt: Ab und zu braucht er die Konfrontation mit dem freien Raum. Er braucht das Gefühl, außerhalb eines Raumschiffs zu sein

»Hm«, brummte der Polizist. »Ich glaube, ich verbinde Sie besser mit jemandem, der zu solchen Themen Stellung nehmen kann. Warten Sie einen Augenblick

Einige Sekunden später drang eine weitere Stimme aus dem Lautsprecher, aber diesmal erhellte sich gleichzeitig ein Bildschirm. Das Abbild eines unscheinbaren Mannes erschien darauf.

»Mein Name ist Querris«, sagte der Gäaner und strich sich das aschblonde Haar aus der Stirn. "Sie sind Mike Sinac, nicht wahr?

Ich hörte, daß Sie ein paar Fragen auf Lager haben."

»Es geht in erster Linie um meinen Sohn«, sagte Mike hastig und schilderte Querris das Problem so kurz wie möglich. »Sehen Sie eine Chance für den Jungenfragte er schließlich, und er mußte seine Hände gewaltsam gegen die Lehnen des Sessels pressen, um zu verbergen, wie sehr er zitterte.

Querris lachte.

»Sehen Sie«, begann er, »die meisten Gäaner sind nicht besonders wild darauf, die Provcon-Faust zu verlassen, und sie reisen nicht einmal gerne von einem Planeten zum anderen. Sie fürchten sich vor den Laren, und den meisten bereitet es ein gelindes Gefühl von Unsicherheit, wenn man sie mit den zahllosen Sternen der Milchstraße konfrontiert. Je länger wir in diesem Versteck bleiben, desto schwerer wird es, Menschen zu finden, die einigermaßen furchtlos nach draußen gehen. Wie stark ist dieser Zwang bei Ihrem Sohn

»Er wird unruhig, wenn er die Konfrontation mit dem freien Raum länger als einige Tage vermissen muß

»Gesetzt den Fall, der Junge wüßte, daß ihm ein solcher Einsatz bevorsteht - würde er es auch länger durchhalten

»Was verstehen Sie unter einem Einsatz

»Nun - er wird nicht einfach träumend in irgendeiner Schleuse sitzen können. Er wird hinausgehen und etwas tun müssen, einen Auftrag erledigen

»Ich weiß nicht, ob er das könnte«, sagte Mike niedergeschlagen.

»Nun, auf jeden Fall bestehen keine grundsätzlichen Bedenken, jemanden wie Ihren Sohn in den Dienst im Raum zu übernehmen. Wir befinden uns in einer krisenreichen Situation - Menschen, die sich im Raum wohl fühlen und keine Komplexe entwickeln, wenn man sie mit den Sternen konfrontiert, sind derart selten, daß wir sie gar nicht ablehnen können
Mike schwieg, und der Gäaner deutete seinen Gesichtsausdruck wohl richtig, denn er fügte hinzu:

»Wir sind zu Zugeständnissen aller Art durchaus bereit. Wenn Ihr Sohn diese Konfrontation braucht, dann werden wir sie ihm beschaffen. Genügt Ihnen das

Mike nickte zögernd.

»Was fangen Sie mit Dagor-Experten anfragte er wie unter einem inneren Zwang.

»Betrifft das auch Ihren Sohnfragte der Gäaner wachsam.

»Nein

»Wen dann

»Mich selbst«, erwiderte Mike gepreßt.

Querris wandte den Kopf zur Seite.

»SOL«, sagte er. »Mike Sinac.«

Eine halbe Minute später stieß er einen leisen Pfiff hervor.

»Sie hätten ein verdammt unbequemes Leben«, sagte er langsam. "Sie würden sehr viel reisen, und alle diese Reisen wären illegal. Sie wären heute hier und morgen da, und Sie würden sich immer im Mittelpunkt einer Katastrophe befinden.

Sie wären ständig gezwungen, sich Ihrer Haut zu wehren."

»Ich habe gelernt, wie man das macht«, sagte Mike.

Der Gäaner lachte.

»Ich weiß«, murmelte er. »Aber hier stehen Sie nicht nur Sparringspartnern oder mehr oder weniger minderwertigen Herausforderern gegenüber. Hier würden Sie den Laren gegenüberstehen!«

»Ich weiß«, sagte Mike leise. »Und ich fürchte mich vor diesen Wesen. Aber ich glaube, daß man sie besiegen kann.« Querris starrte ihn an.

»Ist das Ihre ehrliche Meinungerkundigte er sich schließlich.

»Ja«, sagte Mike, und es klang wie ein Schwur.

Wolke legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Sie sind jetzt hier«, sagte sie leise.

»Bringen Sie Ihre persönlichen Angelegenheiten in Ordnung«, empfahl Querris ruhig. »Wenn Sie das geschafft haben, können wir weiter miteinander reden

,Wenn das dann noch möglich ist', dachte Mike.

Er sah zu Alina hin - sie schlief immer noch. Er verspürte ein vages Schuldgefühl bei dem Gedanken an das, was er tun wollte, und er fragte sich, wie Alina es aufnehmen würde.

Wahrscheinlich würde sie so erleichtert sein, den Konflikt mit ihren Eltern begraben zu können, daß ihr alles andere egal war.
Trotzdem - Mike hatte ein wenig Angst vor der Zukunft.

Die Tür öffnete sich, und die Kinder traten zuerst ein. Sie wirkten übernächtigt und verwirrt, aber es fehlte ihnen nichts.

Die Hendersons traten ein - sie mit gesenktem Kopf, er aber hochaufgerichtet und mit zornig funkelnden Augen. Hinter diesem Zorn stand jedoch nackte Angst - Mike sah es nur zu deutlich.

»Ich hätte es mir denken können«, schnaubte Henderson, als er Mike erblickte. "Dir haben wir dieses Theater zu verdanken.

Mike wandte sich an die beiden gäanischen Polizisten, die hinter den Hendersons standen.

»Was erwartet ihn, wenn er auf Gäa bleibtfragte er sehr ruhig.

»Er wird vor Gericht kommen«, erwiderte der Polizist gelassen.

»Und auf der SOLfragte Mike zu Wolke hin.

»Genau das gleiche

»Gibt es einen Weg, ihn da herauszuholen?«

Wolke schüttelte den Kopf. Der gäanische Polizist dagegen zuckte die Schultern.

»Der Fall ist aktenkundig und wird auf jeden Fall verfolgt werden«, erklärte er. »Es gäbe noch eine Chance für ihn: Sie und Ihre Familie müßten für ihn aussagen. Sie könnten seinen Kopf aus der Schlinge holen

Mike nickte nachdenklich. Er sah Henderson an, und dem alten Mann schien jetzt endlich klarzuwerden, was er angerichtet hatte. Ein seltsames Mitleid befiel ihn. Er hätte dem alten Mann aufmunternd zulächeln können, aber er ließ es bleiben Henderson hätte die versöhnliche Geste jetzt gewiß nicht verstanden, sie im Gegenteil im entgegengesetzten Sinne interpretiert.

»Der Start der SOL findet in drei Stunden statt«, sagte Wolke leise.

Mike riß sich zusammen.

»Das muß genügen«, murmelte er. »Ich muß mit Alina und den Kindern reden

»Gut«, sagte der Polizist. »Aber wir haben noch mehr zu tun

»Ihre Schützlinge werden hier in meinem Büro bleiben«, versicherte Wolke. »Ich benachrichtige Ihre Dienststelle, wenn sie die SOL verlassen

Der Gäaner nickte und wandte sich zum Gehen. Sein Kollege, der kein einziges Wort gesagt hatte, folgte ihm.

»Kommt«, sagte Mike zu seinen Kindern und ging ebenfalls hinaus. Er war nicht sonderlich überrascht, als er draußen auf die beiden Gäaner traf.

»Sie werden doch nicht etwa dem Alten zuliebe hierbleiben«, fragte der Polizist mißtrauisch.

»Nein«, sagte Mike leise. »Den Hendersons zuliebe nicht, aber ich werde bleiben, weil ich inzwischen herausgefunden habe, daß es für mich selbst das beste ist

Mark richtete sich neben ihm ganz steil auf, und Celina sah ihn erschrocken an. Er hob beschwichtigend die Hand.

»Wir werden darüber reden«, versprach er. Sie akzeptierten das und warteten ab. Er wandte sich erneut an den Polizisten.

»Stimmt das, was Sie vorhin gesagt haben

Der Gäaner verzog das Gesicht.

»Ich wollte diesem sturen alten Burschen ein bißchen Angst einjagen«, gestand er ein. "In Wirklichkeit ist es viel einfacher.

Sie haben die Fahndung nach Henderson ausgelöst - das kommt einer Anzeige gleich. Sobald Sie diese Anzeige zurückziehen, ist der Fall für uns erledigt."

Mike mußte lächeln.

»Das ist gut«, meinte er. »Aber sagen Sie es ihm vorläufig noch nicht. Er hat es wahrhaftig verdient, wenn er jetzt Blut und Wasser schwitzt

»Eben das dachte ich auch«, sagte der Polizist und lächelte verschmitzt. »Lassen Sie ihn tüchtig schmoren. Wir holen die beiden an der Schleuse ab und bereiten ihnen noch einige heiße Stunden...«

»Das wird nicht nötig sein«, wehrte Mike ab.

»Aber bedenken Sie doch, was er getan hat! Seine Frau - mein Gott, die richtet sich nach seinen Befehlen. Sie ist nicht schuld an dem ganzen Durcheinander. Aber der Alte hat irgendeine Strafe wahrhaftig verdient

»Sie haben ja recht, aber... lassen wir das. Ich habe nur noch wenig Zeit. Wir werden uns sicher wiedersehen. Dann können wir ausführlicher darüber reden

Der Gäaner lächelte plötzlich und legte dem SOL-Geborenen die Hand auf die Schulter.

»Ich wünsche Ihnen viel Glücksagte er. »Und vor allem wünsche ich Ihnen, daß Sie Ihre Entscheidung niemals bereuen

Mike sah ihm nach, als er mit seinem schweigsamen Kollegen davonschritt.

»Ihr habt ihm allerhand über die SOL erzählt, nicht wahrfragte er die Kinder.

Mark nickte düster.

»Na, kommtseufzte Mike. »Wir müssen uns beeilen

Alina schlief immer noch, aber sie wachte sofort auf, als sie die Stimmen ihrer Kinder hörte.

»Was ist passiertfragte sie erschrocken. »Sind wir schon unterwegs

Mike spürte einen Stich im Herzen. Er hatte also recht gehabt.

Die Freude über die Rückkehr von Mark und Celina war eine Sache - das Schuldgefühl den Hendersons gegenüber eine andere.

»Nein«, sagte er. »Die SOL ist noch nicht gestartet. Hört zu, meine Lieben, ich habe beschlossen, auf diesem verdammten Planeten zu bleiben

Sie starrten ihn an, als hätte er eben die Absicht verkündet, die SOL in die Luft sprengen zu wollen. Offensichtlich hatten die Kinder seine Äußerung den Polizisten gegenüber nicht ernst genommen. Erst jetzt wurde ihnen bewußt, daß er wirklich und wahrhaftig zu bleiben gedachte.

Er versuchte, es ihnen zu erklären. Alina sah ihn unentwegt an, und in ihren Augen leuchtete es. Hier und da half sie ihm er hatte den Eindruck, daß sie die wirkliche Situation noch nicht ganz begriff. Sie dachte zweifellos, daß Mike ihretwillen seine Meinung geändert hatte - obwohl sie eigentlich wissen mußte, daß das sehr unwahrscheinlich war. Die Kinder dagegen reagierten unterschiedlich. Mark verstand offenbar die Motive seines Vaters, aber er weigerte sich zunächst strikt, auch nur daran zu denken, daß er die SOL verlassen könnte. Celina erklärte klipp und klar, daß sie nichts über dieses Thema hören wollte, und zog sich schmollend in den Hintergrund der Kabine zurück.

»Ich weiß, wie dir zumute ist«, sagte Mike zu seinem Sohn.

»Du denkst an dein spezielles Hobby, aber glaube mir: Du wirst den Sternen oft genug nahe sein. Die Gäaner brauchen Menschen, die sich nicht vor dieser Leere fürchten, sie haben davon nicht viele

»Auf diesem lausigen Planeten«, knurrte Mark »sieht man die Sterne ja gar nicht

»Gäa hat eine Raumflotte, wie du weißt«, erinnerte Mike ihn sanft. »Es sind ständig Schiffe außerhalb der Provcon-Faust unterwegs. Diese Schiffe haben bestimmte Aufgaben zu erfüllen, und du könntest mitfliegen.«

»Unter welcher Bedingung


»Nun«, sagte Mike vorsichtig. »Du wirst nicht in einer offenen Schleuse sitzen und vor dich hinträumen dürfen. Du wirst etwas tun müssen

Mark sah ins Leere.

»Ich habe es nie gewagt, aus der Schleuse hinauszugehen«, flüsterte er. "Ich hatte Angst, daß man mich entdecken könnte!

Weißt du, was ich mir wünsche? Ich möchte mich frei im Raum bewegen können, möchte zwischen den Sternen schwimmen.

Wenn ich das tun könnte und auch noch etwas Sinnvolles dabei tun dürfte - ich wäre sehr glücklich."

Mike wandte sich schweigend ab und stellte eine Verbindung zu Querris in SOL-Town her. Eine halbe Stunde lang unterhielten sich Mark und der Gäaner miteinander, dann stand Mark schweigend auf, um seine Sachen zusammenzusuchen.

Das wirkte wie ein Signal. Selbst Celina gab das Schmollen auf. Noch während sie ihre geringe persönliche Habe zusammensuchte, begann sie aufgeregt zu plappern, und es stellte sich heraus, daß sie im Grunde genommen gerne nach Gäa ging. Die Parks und Grünanlagen hatten es ihr angetan. An Bord der SOL gab es keine so großen Räume und keine solche Vielfalt von Leben. Sie hatte erfahren, daß es auf Gäa noch große Landflächen gab, die nicht kultiviert wurden und auf denen alles durcheinanderwuchs, und sie brannte darauf, diese Wildnis zu erforschen.

Eine halbe Stunde vor dem Start verließen sie die SOL. Querris erwartete sie. Er betrachtete aufmerksam zuerst Mark, dann Mike, und schließlich lächelte er.

»Willkommen auf Gäa«, sagte er. »Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen. Betrachten Sie sich vorerst als unsere Gäste. Wenn Sie sich eingewöhnt haben, dann können Sie sich ansehen, was wir Ihnen zu bieten haben

Und dann kamen auch die Hendersons, und es dauerte einige Zeit, bis sie begriffen, wie die Würfel gefallen waren. Mike sah sich plötzlich Henderson gegenüber, und der alte Mann umarmte ihn wortlos und zitternd. Mike erwiderte die Geste, und er mußte lächeln.

,Ja', dachte er. ,Es ist gut, so zu sein, wie das Gras, sich zu beugen, aber nicht zu zerbrechen. Der Kampf um deine Tochter ist noch nicht ganz ausgestanden, alter Mann. Aber jetzt weiß ich, wie ich dich anzupacken habe. Und nicht nur dich, sondern auch all die anderen dickköpfigen Wesen, denen ich begegnen werde.'

Ein Regenschauer ging nieder, als sie von der SOL wegflogen.

Sie blickten zurück, und Querris war verständnisvoll genug, um den Gleiter anzuhalten. Nacheinander lösten sich die SOL-Zellen vom Boden und schwebten davon, hinauf in den wolkenverhangenen Himmel.

Mike wußte plötzlich, daß es ein Abschied auf ewig war. Sie würden die SOL nicht wiedersehen. Die anderen wußten es vielleicht nicht so genau, aber sie spürten es. Er fühlte die Niedergeschlagenheit, die sie befiel, und er wandte sich an Querris und deutete wortlos auf die Stadt. Der Gleiter setzte sich in Bewegung, und selbst Mark hörte auf, in den grauen Himmel zu starren, und besah sich statt dessen die Welt, die nun zumindest zeitweise seine Heimat sein würde.




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