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mcnep schrieb am 20.11. 2002 um 17:11:43 Uhr über

Smegma

"Unfehlbarer Doktor, meine ehemalige Arzenei, lassen Sie dies Sendschreiben langes Schweigen entschuldigen. Ihre Bitte, mich zu äußern, würde seit langem erfüllt sein, wenn ich gewußt hätte, was zu dichten am tunlichsten ist: ein Carmen in Hendekasyllaben, ein Hexastichon, Ogdastichon, einen Tetrameter oder Septenarius. Sie dürfen wissen, daß ich lange an poetischer Cephaloponie oder Kopfschwere gelitten habe, so daß ich lieber ein Akrostichon beginne, doch hinüberirre in eine Threnodia, das ist ein Grabgesang. Das Gedicht lautet so: Die erste Zeile ein Akatalektus, das ist ein vollkommen reiner Vers; die zweite eine Ätiologie, das ist das Forschen nach der Ursache für die erste; die dritte eine Akyrologie, das ist eine uneigentliche Schreibart; die vierte eine Epanalepsis, das ist eine Wiederholung der vorigen, in der Form eines Kettenreimes; die fünfte eine Diatyposis, das ist eine Verbildlichung der Schönheit; die sechste eine Diaporesis, das ist Verlegenheitsgeschwätz des Erfolges; die siebte ein Brachykatalekton, das ist ein Vers, dem hinten etwas fehlt; die achte eine Ekphonesie der Ekplexis, das ist ein Aufschrei des Erstaunens. Kurz, ein Emporium, also ein Stapelplatz des Hirns, könnte keine größere Synchysis, sprich Vermengung der Worte aus Zufälligkeiten, ohne Syzysie, sage Zusammenjochung der bösen Ereignisse, enthalten. Ich bin entschlossen, auf den Parnaß zu verzichten, und möchte Ihnen raten, das Gleiche zu tun und statt dessen in die Mystik des Smegma einzudringen. Glauben Sie nicht, ich beabsichtige ein Mykterismus, eine Verhöhnung, indem ich Smegma erwähne. Nein, Mnemosyne, die Göttin des Gedächtnisses, läßt mich alle Ihre großen Dienste erkennen (sofern ich nicht an Amblyopie, das ist Blödsichtigkeit, leide) die immer gehören werden
Hasmot Etchaorntt"


So gibt Hans Henny Jahnn in seiner Tragödie 'Thomas Chatterton' den überlieferten Abschiedsbrief dieses Dichters wieder, der heute vor 250 Jahren in Bristol geboren wurde und mit nur 18 Jahren unter erbärmlichsten materiellen Umständen und im Zustande seelischer Zerrüttung - die aus diesem Dokument spricht - seinem Leben ein Ende setzte.
Eine kleine Änderung habe ich allerdings keck vorgenommen: wohl mit Rücksicht auf die Empfindlichkeiten des Theaterpublikums der 50er Jahre kippte Jahnn das im Original stehende Wort Smegma heraus und übersetzte es durch die prinzipiell richtige, dennoch hier unpassende 'Seifensiederei' . Das Publikum dankte es ihm: der Chatterton, 1956 unter Gründgens uraufgeführt, blieb bis heute sein größter Theatererfolg. Ich bin jedoch fast überzeugt, hätte Jahnn eine Ausgabe letzter Hand zu Lebzeiten zu edieren bekommen, dieser Prediger der Kreatürlichkeit hätte zum originalen Wortlaut des Briefes zurückgefunden.


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