Die Wirkung des Alkohols auf den Geschlechtstrieb und die Psyche ist eine sehr eigentümliche. Bier oder Wein, sehr mäßig genossen, rufen ganz ohne Zweifel neben der allgemeinen psychischen Reizung auch eine mehr oder minder starke sexuelle Erregung hervor. Diese sexuelle Erregung nun bleibt bei weiterem Alkoholgenuß länger bestehen als die psychische Erregung, die sehr bald einer psychischen Lähmung, einem Fortfall der vom Gehirn ausgehenden Hemmungserscheinungen Platz macht. In diesem ungleichen Verhalten der rein sinnlich sexuellen und der psychischen Vorgänge scheint mir die eigentliche Gefahr des alkoholischen Exzesses zu liegen. Die sexuelle Reizung durch den ersten Trunk wirkt noch nach, während der Mensch bereits alle Herrschaft über Vernunft und Willen verloren hat und so eine leichte Beute sexueller Verführung wird.
Nur so kann man sich die verhängnisvolle Wirkung des Alkohols erklären, denn wir wissen, daß er durchaus nicht etwa ein die Geschlechtskraft steigerndes Mittel ist. Im Gegenteil, er steigert zwar die Wollust und die sexuelle Begierde, behindert aber fast immer die Erektion und verlangsamt den geschlechtlichen Orgasmus.
So braucht der unter dem Einflusse des Alkohols stehende Mensch viel mehr Zeit zur Vollendung des Begattungsaktes als der Nüchterne; dadurch aber wird die Gefahr einer etwaigen venerischen Infektion bedeutend vergrößert, da der Kontakt mit der infizierenden Person ein bedeutend längerer ist. Ich habe viele Patienten, die sich nach einem alkoholischen Exzesse bei Dirnen angesteckt hatten, über diesen Umstand befragt, und es stellte sich fast immer heraus, daß der eigentliche Akt sich infolge der bekannten relativen Impotenz durch Alkohol außerordentlich in die Länge zog und so natürlich weit mehr Gelegenheit zu ausgiebigster Berührung, mechanischen Verletzungen durch vermehrte Reibung usw. und dadurch zur Infektion gab. (...)
Beim Weibe, bei dem von einer eigentlichen Wirkung auf die »Potenz« keine Rede sein kann, macht sich umso mehr die die Libido erregende Wirkung des Alkohols in Verbindung mit der Beseitigung aller seelischen Hemmungen geltend. So wird dem Weibe, das überhaupt gegen Alkohol bedeutend intoleranter ist als der Mann, schon mäßiger Alkoholgenuß gefährlich. (...)
Deshalb bedeutet das wachsende Steigen des Alkoholkonsums eine weitere Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten. Während unsere Altvorderen nur an Sonn– und Feiertagen alkoholische Getränke im Übermaß genossen, nimmt man heute auch an Wochentagen, oder vielmehr Wochenabenden, geistige Getränke zu sich. Branntwein und Bier sind Massengetränke geworden, besonders das Bier, dessen Konsum von Jahr zu Jahr steigt und im Jahre 1898 bereits die unglaubliche Summe von zwei Milliarden Mark erreichte! Strümpell stellte fest, daß Arbeiter mit einem Tagesverdienst von drei Mark 80 Pfennige, d.h. mehr als ein Drittel ihres Einkommens [sic!] für Bier ausgeben, und zwar sind das keineswegs notorische Säufer, sondern solide Leute, die nur der allgemeinen »Sitte« folgen. (...)
Hier sei nur nochmals hervorgehoben, in welch hohem Grade der übermäßige Alkoholgenuß die wilde Liebe begünstigt, d.h. dem wahl– und regellosen Geschlechtsverkehr, der momentanen Verführung Vorschub leistet. Das läßt sich ganz besonders deutlich bei Volksfesten und anderen zu alkoholischen Exzessen Veranlassung gebenden öffentlichen Veranstaltungen beobachten und später auch durch die hiermit im Zusammenhange stehenden unehelichen Geburten feststellen. (...)
Die Zunahme der wilden Liebe, eines vom Augenblick und Zufalle abhängigen, rasch wechselnden Geschlechtsverkehrs, die in dem geschilderten Zusammenhange mit dem Genußleben steht, ist ein charakteristisches Merkmal unserer Zeit.
Iwan Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit; Berlin 1909 (S. 327 - 331)
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