'Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele' ist die letzte, Fragment gebliebene Schrift des sehr großen Jean Paul, die die 30 Jahre zuvor begonnenen religionsphilosophischen Diskurse des 'Kampaner Thals' fortsetzt. Ähnlich dem alten Wieland in seiner 'Euthanasia' nutzt er die Form des galanten Dialoges zu einer Variante der Frauenzimmergesprächsspiele, die sich um Fragen von Moralität, Tod und Weiterleben ranken.
»Die Theologen haben nun die Unsterblichkeit nötig, um mehr als drei Viertel der Menschheit zu strafen und zu martern – Ich glaube, gäb' es lauter Gute, so so könnten sie zur Not der Fortdauer entbehren. Diese muß da sein -– und zwar eine ewige, weil sonst die Qual zu kurz und schwach ausfiele und eine zu ein paar Jahrtausenden abgekürzte einem langen Sündenleben von ein paar Jahren nicht gleichwöge. Aber man muß erst einen Menschen zu einem Teufel machen, um ihn wie einen und wie einer zu behandeln. Deshalb nun [muß] ein Radikal– oder Wurzelböses im Menschen festgesetzt werden, da es eine Menschenmittelklasse gibt, wie die Wilden, die ganz Ungebildeten, die Minderjährigen, deren tiefe, einander fest das Gleichgewicht haltende Grade von unentwickelter Moralität und Unmoralität weder eine himmlische, noch höllische Unsterblichkeit der Vergeltung verdienen und begründen. Suchen wir aber je das Böse als Böses, und nicht als Mittel der Begierden? [...] Liebe zum Guten als Guten spürt der Mensch wenigstens zuweilen; aber statt der Liebe zum Bösen als Bösen trifft er in allen seinen Sünden nur Vorliebe zum Genuß – der ja an und für sich verstattet ist – Überwältigung durch Gewohnheit und Verblendung an, und die Reue über die böse Vergangenheit wie die Freude über die gute beweisen am besten, was er liebt. Wahrlich, der Unendliche, der das ganze Innen und Zeit–Außen eines Menschenlebens, das unsichtbare Bäumchen im Kerne durch die ganze Geschichte seiner einwirkenden Erden, Lüfte, Sonnenstrahlen und Regentropfen vollendet kennt, wird die Früchte des Gewächses ganz anders und ganz milder als ein engsichtiger Theolog würdigen, dem vom ganzen tiefen Innern und weiten historischen Außen des Menschen nur ein augenblickliches herausgeschnittenes Probestückchen erscheint. Der Kampf zwischen Du und Ich, der die menschlichen Blicke verfälscht, fällt auch bei den göttlichen hinweg.«
Jean Paul, Selina - VI. Juno
Werke Bd. 6, München 1987 S. 1200–1201
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