Thailändische Traditionen in moderner Variante:
Selbstverstümmelung
als Touristenshow
Durchbohrte Gesichter und Körperteile beim jährlichen
„Vegetarischen Fest“ machen auch die Priester besorgt
Der Priester versetzt den jungen Mann in Trance, hält dem
scheinbar Schlafenden den Mund auf und bohrt eine
Eisenstange durch eine Wange – wie eine Nadel durch Stoff.
Später tanzt der junge Mann mit hundert anderen durch die
Straßen des Hauptortes des thailändischen Strandparadieses
Phuket, eine Halbinsel im Süden des Landes.
Angeheizt wird die Stimmung durch tosende chinesische
Musik, Knallfrösche und den Jubel der Zuschauer –
Einheimische wie Touristen –, die den von Eisen jeder Art
durchbohrten, fanatischen Marschierern gelegentlich das Blut
aus dem Gesicht wischen und ihnen Geldscheine anstecken.
Anlaß für das Spektakel ist das sogenannte „Vegetarische
Fest“, das zu dieser Jahreszeit, im neunten Mondmonat des
chinesischen Jahres, überall in Thailand gefeiert wird. Nur in
Phuket verkommt das alte Fest zu Ehren der Gottheiten und
Geister der Chinesen mit seiner religiös geprägten
Selbstverstümmelung mehr und mehr zur geschmacklosen
Touristenattraktion – vielleicht um zu dieser geschäftlich
gesehen ruhigsten Jahreszeit ein paar zusätzliche Urlauber
anzulocken.
Für jugendliche Anhänger des „Vegetarischen Festes“ ist das
Durchbohren des eigenen Körpers eine Art Mutprobe. Ältere
Männer und auch Frauen beherrschen aber immer noch das
Bild. Für sie sind die Rituale eine Frage von Prestige und
Tradition. Gemäß den religiösen Vorschriften verzichten sie
Tage vor dem Fest auf Fleisch, Alkohol und Sex. Zum
„Vegetarischen Fest“ gehört es auch, daß die Gläubigen
Früchte und Weihrauch zum Tempel bringen. Jeder Tempel
hat seinen eigenen Umzug, und Hunderte von Zuschauern
beobachten dort, wie die Priester ihre Anhänger in Trance
versetzen und durchbohren.
Auch Priester sehen die Entwicklung in Phuket jedoch mit
unguten Gefühlen. „Ich glaube, das Durchbohren der Körper
gerät außer Kontrolle. Es ist eine große Touristenattraktion
geworden, und immer mehr Jugendliche machen mit. Es hat
etwas Machohaftes“, sagt ein Priester, der seinen Namen
nicht preisgeben möchte.
Meist sind es Stahlstangen, die durch die Wange getrieben
werden. Wem das nicht ausreicht, nimmt bis zu vier
Eisenstangen, die in bizarren Winkeln in den Wangen
stecken, zuweilen werden auch der Nacken oder die Arme
durchbohrt. Wem eine Eisenstange zu langweilig ist, nimmt ein
Schwert, einen Regenschirm, selbst kleine Bäume, eine
Muskete, ein Fahrrad oder eine Lampe sind schon durch das
Fleisch der Gläubigen gebohrt worden. Den Vogel
abgeschossen hat in der diesjährigen Parade ein Fanatiker,
der den Wasserhahn einer Küchenspüle in der Wange
stecken hatte – die Spüle trug ein Helfer nebenher. „Wenn ich
durchbohrt bin, fühle ich nichts. Ich bin besessen“, beschreibt
einer sein Befinden. Erstaunlicherweise kommt es zu wenig
schweren Verletzungen. Die Paraden werden immer von
Krankenwagen begleitet, diese haben aber nur wenig zu tun.
Auch die Gesundheitsbehörden Thailands sind inzwischen auf
das Treiben in Phuket aufmerksam geworden. Den
Tempelpriestern wurde zu Vorsichtsmaßnahmen geraten:
beim Durchbohren sollen sie Plastikhandschuhe tragen und
Eisenstangen nicht für mehr als eine Person verwenden, um
eine mögliche Ansteckung mit dem HIV-Virus zu vermeiden.
Die Phuket-Variante des „Vegetarischen Festes“ geht zurück
auf die Zeit vor etwa 160 Jahren, als Zinnvorkommen
entdeckt wurden und chinesische Arbeiter in den Minen
arbeiteten. In einem Jahr wurde die Insel von einer Epidemie
heimgesucht, zur gleichen Zeit befand sich eine chinesische
Operntruppe auf Tour in Phuket. Einer der Darsteller
vermutete, die Chinesen in Phuket würden mit der Krankheit
gestraft, weil sie die alten Traditionen und Riten nicht mehr
befolgten. Seither werden diese wieder gepflegt und das
„Vegetarische Fest“ um einer besonderen Form der
Selbstverstümmelung erweitert. „Es ist ein Glaube. Ein
Glaube an die Götter“, beginnt einer der Durchbohrten nach
der Parade mit einer Erklärung. Aber „Das reicht jetzt, es tut
weh“, bricht er ab.
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