Seinen ersten Selbstmordversuch machte Tom vor 20 Jahren, am 25. November 1978, kurz nachdem die Volkstempel-Sekte im Dschungel von Französisch-Guyana gerade einen Massenselbstmord eher gefeiert als nur begangen hatte: James Warren Jones, ihr Anführer, versprach den Weg ins Paradies durch Zyankali, vermischt mit Beruhigungspillen und Limonade. Über 900 Menschen, darunter viele Kinder und Jugendliche, starben damals durch den Wahnsinn des Predigers, sie hielten einander an den Händen, ihre Leichen lagen nebeneinander und übereinander wie auf einer Müllhalde, aber sie lächelten.
Heiko, der Leser, gab in Hamburg eine Party, seine Freunde nannten ihn so, weil er mindestens zwei Bücher pro Woche las, oft sogar was Anspruchsvolles, ab und zu sogar Werke von Philosophen, und wenn die Freunde genug getrunken hatten, dann durfte Heiko berichten, was die Denker in aller Welt und zu allen Zeiten sich ausdenken; auch Tom interessierte das Zeug, denn Heiko konnte das Unverständliche und Gestelzte rausfiltern und in Alltagssprache wiedergeben. Tom schwieg wie meistens, er nickte manchmal, seine Hundeaugen verrieten aber jederzeit Interesse, wenn Heiko erzählte; Heiko hatte als Siebzehnjähriger bereits einen Vollbart und rauchte Pfeife, sodass er wirkte wie ein junger Mark Twain.
Heiko stand unter dem Eindruck des Massenselbstmords und erklärte, viele Selbstmörder würden nicht einfach Selbstmord begehen, sondern darauf achten, dass ihre Existenz und die Selbstmordmethode zusammenpassen. Genau, dachte Tom, sein Bruder verehrte den Schriftsteller Ernest Hemingway und sagte mal, Hemingway hätte immer wieder Großwild gejagt und geschossen und sich, als er nicht mehr schreiben und keine Erektion mehr halten konnte, selbstverständlich auch erschossen – ein Hemingway konnte ja kein Gift nehmen oder von der Golden-Gate-Brücke springen oder sich die Gurgel durchschneiden oder ins Wasser gehen oder einen Strick nehmen oder sich in die volle Badewanne setzen und dann einen Fön einschalten und ihn in die Wanne werfen, nein, Hemingway musste eine Schrotflinte in seinen Mund stecken und sich den Kopf wegfetzen.
Heiko wusste von einem Schmied, der am Ende ohne Aufträge verarmte, seinen Kopf in einen Schraubstock legte, zudrehte und, während er so starb, Gott um Gnade anflehte. Nicht ganz begriffen hatte Heiko eine Geschichte aus dem Jahr 1940, er fragte seine Freunde, was sie dazu meinten: Hitler hatte Paris besetzt und besichtigte den Eiffelturm, ein paar Nazi-Offiziere schlenderten durch den Louvre (»Gehört jetzt alles uns, dieser Dreck!«), nur ein Offizier blieb stehen und betrachtete ein van-Gogh-Gemälde; er setzte sich auf eine Bank und betrachtete das Gemälde stundenlang, es dämmerte bereits, er war allein. Schließlich stand er auf, nahm seine Pistole und schoss sich in den Kopf – der Führer, nach eigenem Verständnis selbst ein Maler, ließ »die Schmach« vertuschen, denn ein deutscher Offizier erschießt sich nur, wenn er auf dem Schlachtfeld versagt oder sonst wie seine Ehre verloren hat.
»Der Offizier hat sich wohl geschämt, er geriet in eine Konfliktsituation, aber warum genau, und weshalb hat er sich dann gleich umgebracht?«, fragte Heiko. »Es ist leider nicht bekannt, welches van-Gogh-Gemälde sich der Offizier so lange angeguckt hat, van Gogh hat ja Blumen gemalt und Sterne und Selbstporträts und Bauern bei der Arbeit, irgendeines dieser Themen muss den Offizier erschüttert haben, über ihn ist auch nichts bekannt, Hitler hat ihn praktisch gelöscht.« Ganz egal, welches van-Gogh-Bild es war, dachte Tom, der Offizier wird etwas so Wahres und Schönes in dem Bild erkannt haben, dass sich ihm dadurch die ganze Widerwärtigkeit seines Lebens offenbarte: Was der Offizier gedacht, gesagt und getan hatte, erwies sich als falsch beim Anblick des Gemäldes, er brauchte aber ein paar Stunden, um das Ausmaß seines Irrtums zu begreifen; das SS-Gerede von »Meine Ehre heißt Treue« hat ihn nun so abgestoßen, dass ihm nur der Selbstmord blieb.
Tom behielt seine Gedanken für sich, er stand auf und betrat den Balkon, es regnete Eis, und aus einem Nachbarhaus dröhnte »Das Lied der Schlümpfe«, einer der Jahreshits 1978, gesungen von Vader Abraham, und Tom erfreute sich mal wieder an der Idee, dass dieses Lied der Schlümpfe vom Band läuft, während seine Verwandten und Freunde in einer Kirche um ihn trauern, nachdem er sich umgebracht hat. Das Lied der Schlümpfe spiegelt die Absurdität des Daseins und der Welt, dachte der 20-jährige Tom, dafür hätte er sich gern bei Vader Abraham und seinen Schlümpfen bedankt, aber Vader Abraham und die Schlümpfe hatten wahrscheinlich gar keine Ahnung, was sie da aufführten.
Das Nichts und die Angst vor dem Nichts konnten Tom jederzeit und plötzlich anspringen, im Supermarkt oder auf dem Fußballplatz und sogar, wenn er mit Anne sprach oder sie ansah, Anne, seine erste Liebe, zwei Jahre jünger als er, sie hatte eine Anmut wie Elizabeth Taylor, als sie bereits im Teenie-Alter schauspielerte und »Lassie – Held auf vier Pfoten« streichelte.
Alle Jungs im Stadtviertel und an der Schule wollten mit Anne gehen, aber sie wählte Tom, obwohl er nur immer wieder geguckt und gelächelt hatte und dabei errötet war, was einem Jugendlichen in dieser Gegend eigentlich nicht passieren durfte: Der Stadtteil Berne verschandelte damals den Hamburger Osten, dort im Ghetto war Tom aufgewachsen unter Rockern und Kartoffelsalatdieben, Totschlägern und Stumpfsinnigen, für die's so natürlich war wie atmen, ihre Frau zu schlagen oder anders zu demütigen. Ein Michael aus dem Hochhaus (die Anwohner nannten es »Hannibal«) stieß seine Mutter aus dem vierten Stock durch die Wohnzimmerfensterscheibe, denn die Mutter hatte nicht das Richtige gekocht und war ihrem Sohn auch sonst »aufn Sack gegangen«. Seit der Zeit in Hamburg-Berne glaubte Tom trotz seiner Friedfertigkeit, dass bestimmte Männer nur eine Sprache verstehen und auf die Schnauze kriegen müssen.
Die Straßen in Berne hatten meist Namen nach Orten, die in Pommern liegen: Zwischen der Greifenberger Straße und dem Anklamer Ring entstand eine Rivalität, die Greifer gegen die Klamen; die Greifer hatten mehr Glück bei den Mädchen und duldeten zwei Gymnasiasten bei sich, die Klamen spielten besser Fußball und konnten mehr Vorbestrafte aufbieten. Tom, der Greifer, brachte trotzdem immer mal wieder einen Klamen mit nach Hause, sie konnten nicht fassen, wie seine Mutter aussah: Jeder Mann verliebte sich in sie, sogar Frank Sinatra, dachte Tom, hätte sie gewollt, so schön war Mutter, sie ähnelte der Schauspielerin Ava Gardner, früher Sinatras zweite Ehefrau – manche Dichter hätte Hymnen auf Mutter gereimt.
Uwe Kopf: »Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe« (2017)
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